Titelthema

Konflikte melden sich mit Gewalt, wenn wir sie ignorieren

Claus Biegert sprach mit dem ­Friedensforscher Sascha Hach, der soeben in New York an einer UN-Konferenz zum Atomwaffensperrvertrag teilgenommen hat.von Claus Biegert, Sascha Hach, erschienen in Ausgabe #70/2022
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© hsfk.de

Claus Biegert: Sascha, was bedeutet Sicherheit für dich persönlich?  
Sascha Hach: Sicherheit ist für mich vor allem ein Gefühl, das mit Grenzen zwischen innen und außen zu tun hat – genauer gesagt: mit der Kontrolle über diese Grenzen. Die Sicherheitsfrage ist immer eine Grenzfrage. Wo liegen meine Grenzen, und kann ich sie bestimmen? Wo findet eine unerlaubte, bedrohliche Grenzüberschreitung statt? Aber auch: Wo liegen die Grenzen der anderen Person, und wo könnte ich diese übertreten haben?

Da höre ich schon den Friedensforscher durch. Wie sehr braucht Frieden Harmonie und Gleichklang?  
Beim Frieden geht es aus meiner Sicht nicht um einen Zustand innerer und äußerer Ruhe und Harmonie. Ganz im Gegenteil: Frieden erfordert eine positive und aktive Einstellung gegenüber Konflikten – natürlich mit dem Ziel, diese möglichst gewaltfrei zu bearbeiten. Es gibt kein Leben und keinen Frieden ohne Konflikte, innere wie äußere. Sogar Gewaltfreiheit in Reinform halte ich für unrealistisch. Die Tragik der Konfliktverdrängung liegt gerade darin, dass Konflikte umso gewaltsamer zurückdrängen und den Frieden zerstören. Wir müssen also Frieden verstehen als einen kontinuierlichen Prozess von Bemühungen um gewaltfreie Konfliktbearbeitung.

Bob Dylan sang: »Shelter from the Storm«. Ist dieses Bedürfnis nach Sicherheit nicht ein Urbedürfnis?  
Absolut. Jeder Mensch braucht einen Schutzraum, ein sicheres Zuhause, eine Höhle der Geborgenheit, in der er weder Himmelsgewalten noch menschliche Gewalt fürchten muss.

Was war der Auslöser für deine Berufswahl?
 Es war an einem Abend 2006 im Holocaust-Mahnmal in Berlin. Die deutsche Geschichte nahm mich in Besitz, und ich sann darüber, dass ich in meiner Kindheit und Jugend nicht wenige Konflikte ausgefochten hatte, und wie tief Rassismus und Antisemitismus in meiner Familie verwurzelt waren. Und in mir formte sich ein kühner Gedanke: »Wer, wenn nicht ich, könnte ein erfolgreicher Friedensforscher werden?« Und so fiel die Wahl auf den Studiengang Friedensforschung und internationale Politik in Tübingen.

Was unterscheidet einen Friedensforscher von einem Konfliktforscher von einem Militärhistoriker?  
Eine spannende Frage. Ein guter Friedensforscher ist immer auch Konfliktforscher. Und ich würde sogar sagen, ein guter Militärexperte muss genauso das Konfliktforschungshandwerk beherrschen. Was ihn vom Friedensforscher unterscheidet, ist eine eher neutrale Bewertung von Gewalt als möglichem Mittel zur Konfliktbearbeitung. Hier bekennt sich der Friedensforscher zu einer klaren Haltung für die größtmögliche Vermeidung von Gewalt.

Du hast den August in New York verbracht ...
 Ja, ich war für meine Feldforschung bei der UN-Überprüfungskonferenz zum Atomwaffensperrvertrag. Und ich war Referent auf einer Veranstaltung zur Opferhilfe und Umweltsanierung in Hiroshima und Nagasaki sowie in den Gebieten, die von Nuklearwaffentests betroffen sind; ausserdem ging es dort um die Brückenbildung zwischen Nuklearwaffenstaaten und Nichtnuklearwaffenstaaten.

Einen ganzen Monat diskutierten 191 Staaten in der UNO über Atomwaffen. Warum gelingt es nicht, eine Waffe zu ächten, bei deren Einsatz es keine Sieger gibt?
 Zunächst einmal ist es wertvoll, dass überhaupt diskutiert wird. Diskussionen haben auch ohne Ergebnis einen Eigenwert. Man muss sich das vorstellen: Mitten in einem Krieg mit nuklearem Eskalationspotenzial treffen sich Regierungen aus der ganzen Welt, einschließlich der Kriegsparteien und ihrer Verbündeten, streiten und suchen vier Wochen lang nach Kompromissen im Umgang mit verschiedenen nuklearen Bedrohungen! Wir dürfen nicht vergessen: In den vielen nuklearwaffenfreien Zonen und unter den Mitgliedsstaaten des Vertrags zum Verbot von Nuklearwaffen sind Atomwaffen verboten – und das strahlt im wahrsten Wortsinn aus. Dass die Nuklearwaffenstaaten bis auf Weiteres nicht mitmachen, hängt in meinen Augen daran, dass Atomwaffen immer noch mit Potenz und Herrschaft assoziiert werden.

Kann es beim Ukraine-Krieg – nach über einem halben Jahr gegenseitigen Tötens – nach dem Sieg einer Seite überhaupt zu Frieden kommen?
 Es gibt viele verschiedene politische Kriegsziele auf beiden Seiten. Aus europäischer und transatlantischer Sicht ist mir wichtig, dass wir die Ukraine nicht nur mit Waffen unterstützen sollten, sondern auch bei den Verhandlungen. Damit meine ich nicht, sie zu Kompromissen oder Gebietsabtretungen zu drängen. Wir sind zwar nicht Kriegspartei, aber wir sind auch Konfliktpartei! Deshalb sollten wir etwas auf den Verhandlungstisch legen – nicht zuletzt, um größtmögliche Konzessionen für die Ukraine zu erreichen. Außerdem müssen wir ehrlicher unsere eigenen Interessen und Bedürfnisse offenlegen. Dazu gehört, dass sich dieser Krieg nicht über die Grenzen der Ukraine ausweitet. Gegenüber einer Nuklearmacht lässt sich auf dem Schlachtfeld weder Sieg noch Frieden erringen.

Nun hat die UNO ja einen sogenannten Sicherheitsrat …  
… der natürlich gegenwärtig handlungsunfähig ist, da sich die ständigen Mitglieder mit ihrem Vetorecht gegenseitig blockieren. Das kleine Fürstentum Liechtenstein hat im April eine interessante Resolution eingebracht, in der gefordert wird, dass die Veto-mächte – USA, Russland, China, Frankreich, Großbritannien – ihr jeweiliges Veto künftig öffentlich erläutern müssen und dass dann automatisch eine Sitzung der Generalversammlung einberufen wird. Und wenn der Sicherheitsrat nicht agieren kann, dann kann sich die Generalversammlung des Themas annehmen und Beschlüsse fassen. Diese Resolution gefällt mir.

Verschiedene Kommentatoren haben angemerkt, dass die UNO marginalisiert sei.  
Das sehe ich nicht so. UN-Generalsekretär António Guterres hat, zusammen mit dem türkischen Präsidenten Erdogan, als Vermittler maßgeblich dazu beigetragen, dass Getreideexporte zur Verhinderung oder Eindämmung einer Hungerkrise möglich sind. Auch die IAEO-Inspektionen unter Leitung von Generaldirektor Grossi in Saporischschja wurden auf Ebene der UNO mitverhandelt.

Wir erleben im Umgang mit dem Ukrainekrieg ein Erstarken des Eurozentrismus …
 Nun, solange wir nicht selbst betroffen waren, haben wir gegenüber Ländern auf anderen Kontinenten bei militärischen Konflikten immer auf Diplomatie, Verhandlungen und Vermittlung gepocht. Derzeit werden die gleichen Forderungen bei uns selbst nicht offen diskutiert. Stattdessen riskieren Befürwortende von Verhandlungen, dass ihnen ein Mangel an Moral, Intelligenz oder Realitätssinn unterstellt wird.

Kriege haben in den Medien ein festes Narrativ, das tagtäglich die Berichterstattung stützt, bis es gar nicht mehr hinterfragt wird. Der sogenannte Religionskrieg in Nordirland fällt mir ein, bei dem die imperialistischen Motive Großbritanniens nur in bestimmten linken Kreisen beim Namen genannt wurden.
Diese Narrative vereinfachen. Müssen wir beim Ukraine-Krieg auch auf solche Raster achten?  In Kriegs- und Krisenzeiten zeigt sich, wie resilient eine demokratische Debattenkultur ist. Natürlich ist der Druck groß, schnell zu entscheiden und einheitlich zu handeln. Dabei hilft es, Komplexität zu reduzieren und Raster zu entwickeln. In Bezug auf die Ukraine sind die Narrative inzwischen sehr eng. Auch die Verinnerlichung von Feindbildern ist weit vorangeschritten.

Wir unterscheiden zwischen Gut und Böse. Wir unterstützen die »gute« Seite. Bleibt da nicht jede realistische Beurteilung des Konflikts auf der Strecke?
 Mit dem Ukraine-Krieg hat sich ein dualistisches Weltbild ausgebreitet. Das bereits in den vergangenen Jahren entwickelte Narrativ des Kampfes der Demokratien gegen Autokratien floriert. Ich verfolge diese Entwicklungen in den USA und noch mehr in Deutschland mit Sorge, weil der Raum für Verhandlungen und Diplomatie, aber auch für politischen Streit darüber, wie mit dem Krieg umgegangen werden soll, geschrumpft ist. Ich halte den kategorischen Ausschluss von Verhandlungen für politisch verantwortungslos: Zum einen, weil der Krieg gegen die Ukraine in einen größeren Konflikt zwischen NATO und Russland eingebettet ist, für den wir mitverantwortlich sind. Zum anderen, weil wir auch Verantwortung dafür tragen, wofür die gelieferten Waffen eingesetzt werden und welche Folgen das nach sich zieht.

Ukraine, ein Krieg der in Russland nicht »Krieg« genannt werden darf. Haben wir nicht noch andere Kriege, die nicht als solche bezeichnet werden? Ich denke an unseren Krieg gegen die Erde, der schon vor Generationen begonnen hat. Durch diesen ist die globale Sicherheit bedroht.
 Nuklearwaffen verkörpern diese doppelte Dimension von Krieg – seine Zerstörungskraft gegen Menschen und Umwelt – besonders stark. Das beginnt schon beim Uranabbau. Ich muss bei der Frage an den biblischen Ausspruch »Macht euch die Erde untertan!« denken. Er wurde lange als Aufforderung zur Ausplünderung der Schöpfung verstanden. Der Mensch hat mit Blick auf die Erde vergessen, dass Herrschaft und Machtausübung auch Maßhalten und Verantwortung bedeuten. Er hat vergessen, dass die natürlichen Lebensräume geschützt und erhalten werden müssen. Vielleicht gehören bestimmte Dinge, wie etwa das Uran, auch einfach der Erde. Gewissermaßen haben wir es hier auch mit einem Konflikt über Grenzfragen zu tun. Wo liegen die Grenzen zwischen Mensch und Natur? Wir durchlässig können und dürfen sie sein? Haben wir die Grenzen unseres Planeten bereits überschritten?

Ein wahres Schlusswort. Danke für das Gespräch! //


Sascha Hach (39) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am »Leibniz Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung«. Er hat die deutsche Sektion der mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichneten Internationalen Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen ICAN mitgegründet.

Claus Biegert (74) ist Autor, Journalist und Filmemacher. Er ist Beirat der »Gesellschaft für bedrohte Völker«-, engagiert sich für eine Welt ohne Atomwaffen und Atomenergie sowie für die Rechte der Natur.  biegert-film.de

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