In Zeiten des Kriegs bauen Ökodörfer in der Ukraine neue Gewächshäuser, beherbergen fliehende Menschen – und erfahren Solidarität aus anderen Gemeinschaftsnetzwerken Europas.von Steffen Emrich, erschienen in Ausgabe #70/2022
Irgendwie haben alle Zeichen darauf hingedeutet: die Truppenaufmärsche im russisch-ukrainischen Grenzgebiet, -bürgerkriegsartige Zustände in der Ost-ukraine seit 2014, politisches Säbelgerassel im Vorfeld, Kommentare und -Meinungen auf allen Kanälen. Irgendwie war es mir gelungen, gut zu verdrängen, was im Osten Europas gerade vor sich ging – so wie ich auch die Konflikte in Kamerun, dem Jemen, in Syrien und in vielen anderen Gegenden der Welt zu verdrängen gelernt habe. Und obwohl der Krieg auf dem westlichen Balkan noch gar nicht so lange her ist, habe ich doch nicht glauben wollen, dass auf europäischem Boden so bald wieder ein Krieg ausbrechen würde. Die größte westukrainische Stadt, Lviv, ist von meiner Gemeinschaft »gASTWERKe« bei Kassel etwa genauso weit entfernt wie Rom, Barcelona oder Stockholm – also irgendwie fast um die Ecke.
Als dann am 24. Februar 2022 die ersten russischen Bomben in der Ukraine einschlugen, konnte ich meinen Kopf nicht mehr in den Sand stecken. Noch am gleichen Tag versuchte ich, befreundete Menschen von »GEN« zu erreichen, um gemeinsam zu überlegen, was wir tun können. GEN steht für »Global Ecovillage Network«, also für das weltweite Netzwerk von Gemeinschaften und Ökodörfern. Es wird soziokratisch koordiniert und ist weitestgehend regional organisiert (mit Länder- und kontinentalen Netzwerken, aber auch mit thematischen Kreisen oder Interessensgruppen wie »NextGEN«, der Vertretung der jüngeren Mitglieder). Seit rund drei Jahren bin ich im ehrenamtlichen Vorstand des europäischen Netzwerks und kenne darum auch sehr viele der Aktivisti in diesem Zusammenhalt, und gerade die ukrainische und die russische Gemeinschaftsbewegung sind seit ein paar Jahren in unserem Netzwerk sehr aktiv.
Russischer Einmarsch und Gesichter von Freundinnen
Nur ein Vierteljahr vorher, im November 2021, hatten wir uns bei der jährlichen GEN-Vollversammlung in Ungarn das letzte Mal gesehen. Wegen der Maßnahmen zur Viruseindämmung waren nur wenige Menschen tatsächlich nach Ungarn gereist, aber die Ukraine war mit vier Erwachsenen und einem Kind vertreten. Gemütlich saßen wir zusammen im vertrauten Kreis des GEN-Europe-Netzwerks, haben gelacht und gefeiert. Am Abschlusstag besuchten wir mit Sergeji und Maksim noch das Lukács-Bad in Budapest. Mit Iryna und Anastasyia (siehe Seite 32) sponnen wir Pläne für ein großes Gemeinschaftstreffen in der Ukraine 2023. Und jetzt, ein paar Monate später, saß ich hier im für mich sichereren Teil Europas, während sich die befreundeten Menschen in Osteuropa nur wenige Landstriche entfernt mit einer komplett unsicheren Zukunft konfrontiert sahen.
Zwei Tage nach Beginn des russischen Einmarsches hatten wir unser erstes Video-telefonat. Es war gut, die Gesichter von Iryna, Maksim, Taras und Nastja zu sehen, ihre Motivation und ihre Ideen zu hören und zu sehen, dass sie den Umständen entsprechend wohlauf waren. Sie hatten bereits die Türen in ihren Gemeinschaften und Projekten geöffnet und angefangen, Flüchtende aus dem Osten der Ukraine aufzunehmen. Freundinnen aus der Stadt und natürlich Verwandte waren bereits auf dem Weg in die Gemeinschaften auf dem Land, weil sie sich dort sicherer fühlten als in den Metropolen. Noch gingen wir alle davon aus, dass der Krieg in ein paar Tagen, spätestens aber in ein paar Wochen beendet sein würde. Trotzdem hatten ein paar Aktivisti von GEN-Ukraine bereits mit viel Geschick und Fleiß innerhalb kürzester Zeit eine Landkarte online gestellt, auf der Punkte markiert waren, an denen Menschen zumindest für eine gewisse Zeit unterkommen konnten. Die gute Vernetzung innerhalb des ukrainischen Gemeinschaftsnetzwerks und der Permakulturszene machten es möglich, dass diese Karte nicht nur guten Willen demonstrierte, sondern wirklich eine große Anzahl an Unterkunftsmöglichkeiten für Flüchtende innerhalb des Landes bot.
Schnell fanden sich auch im restlichen Europa Gemeinschaften und gemeinschaftsnahe Menschen, die für Menschen aus der Ukraine eine Unterkunft bereitstellen wollten. Das Projekt »GREEN Road Ukraine« war geboren – der »grüne Weg« aus den Gefahrengebieten. Menschen und Gemeinschaften konnten sich in eine onlinebasierte Datenbank eintragen, um Wohn- und/oder Übernachtungsplätze anzubieten, die dann von koordinierenden Menschen in den jeweiligen Ländern überprüft wurden. Anschließend wurden die Angebote in eine Karte eingetragen, die seitdem über das Internet abgerufen werden kann.
Relativ unkompliziert konnten Flüchtlinge (der Definition nach sind das Menschen auf der Flucht, die sich in einem fremden Land aufhalten) und Binnenvertriebene (»Internally displaced people« – also im eigenen Land geflüchtete Menschen) jetzt in Gemeinschaften und Ökodörfern für ein paar Tag oder auch für längere Zeit Unterkunft finden. Manche Menschen brauchten nur einen Platz für eine Nacht oder für eine kurze Rast auf dem Weg zur Grenze, andere suchten und suchen langfristig eine neue Bleibe.
Ende April 2022 gab es, organisiert über das GEN- und das Permakulturnetzwerk, in der Ukraine bereits über 60 Orte, an denen Menschen unterkommen konnten, und bereits mehr als 2000 Menschen hatten diese Möglichkeit genutzt.
Diese enorme Hilfsbereitschaft und Offenheit führte aber natürlich auch zu Herausforderungen. Viele Menschen waren nur mit dem Nötigsten geflüchtet. Es gab großen Bedarf an Betten und Bettwäsche, Kleidern und auch Nahrungsmitteln. Räume mussten schnell zur Verfügung gestellt werden. Zum Teil wurden verlassene Häuser notdürftig instandgesetzt und Brunnen wieder aktiviert.
Organisierte Solidarität
Unsere Kerngruppe, die sich aus Leuten von GEN-Ukraine, aus dem GEN-Europe-Vorstand sowie aus dem GEN-Europe-Team zusammensetzt, traf sich nun regelmäßig mindestens einmal pro Woche per Videotelefonie, um gemeinsam zu beratschlagen, wie wir weitere Menschen in der Ukraine unterstützen könnten. Vor allem wurde Geld benötigt, um schnell und unkompliziert Dinge zu besorgen, die im Land noch zu kaufen waren. Ergänzt wurde dies durch eine riesige Hilfsbereitschaft innerhalb des ukrainischen Netzwerks. So weit wie möglich, wurden Waren aus vielen ukrainischen Gemeinschaften im freien Fluss (ohne Bezahlung oder Tauschlogik) innerhalb des Netzwerks weiterverteilt. Eine Gemeinschaft mit Molkerei verschickte ihren Käse, solange es kalt genug war, einfach mit der Post; Gemeinschaften mit eigener Landwirtschaft stellten ihr Lagergemüse zur Verfügung, und auch jetzt noch werden über Gruppen des sozialen Netzwerks »Telegram« vielfältige Waren innerhalb der Ukraine unkompliziert und direkt verteilt.
Aber ziemlich bald war im Land nicht mehr alles problemlos zu bekommen, und so haben unsere Leute vom dänischen Gemeinschafts-Netzwerk (LØS), in dem mittlerweile auch einige Menschen aus der Ukraine untergekommen waren, die ersten Sammelaktionen gestartet und bereits im Mai den ersten Container schicken können. Unkompliziert und unbürokratisch wurde dann die Verteilung vor Ort organisiert, was in einem Flächenland wie der Ukraine keine leichte Aufgabe ist.
Eine wichtige Spende waren beispielsweise Folientunnel. Sie dienten nicht nur dem konkreten Zweck der Nahrungsmittelproduktion, sondern wurden auch zu beliebten Arbeitsorten für geflüchtete Menschen. Unabhängig davon, ob sie je in den Genuss des Gemüses kommen würden, war und ist dies für viele eine Möglichkeit, sich sinnvoll zu beschäftigen und eine Tagesroutine zu entwickeln – was in einer Flüchtlingssituation gar nicht hoch genug zu bewerten ist.
Aber es gab auch Rückschläge. Menschen aus Gemeinschaften sind dem Krieg zum Opfer gefallen, bisher zwölf Gemeinschaften waren zumindest zeitweise vom Kriegsgeschehen betroffen und in fünfen von ihnen (allesamt in den östlichen Landesteilen) wurden Wohn- und Gemeinschaftsgebäude zerstört.
Trotz oder vielleicht gerade wegen dieser schlimmen Entwicklungen ist die Motivation, sich für Mitmenschen einzusetzen, ungebrochen und die Gemeinschaftsaktivisti engagieren sich ohne Unterlass. Ein kleiner Film ist entstanden und auf YouTube veröffentlicht, neue Hilfs-container werden organisiert, und die Ökodörfer bereiten sich auf den nächsten Winter vor.
Neben der direkten Hilfe erwiesen sich auch die wöchentlichen Online-Treffen als wichtig für uns alle. Die Menschen in der Ukraine waren immer wieder dankbar. Sie spürten das solidarische Netz zwischen den europäischen Gememeinschaften. Trotz all dem Schmerz blieb unsere Freundschaft, wir konnten noch immer gemeinsam lachen und uns, verbunden durch die kleinen Kacheln auf dem Bildschirm, Mut zusprechen. Aber auch für uns, die sich an sicheren Orten befanden, war es gut, handeln zu können und nicht ohnmächtig zusehen zu -müssen.
Mittlerweile hat sich eine gewisse Routine eingestellt. Natürlich ist immer noch Unterstützung notwendig, und die notwendigen Spenden werden merklich weniger, aber es gibt (zumindest im Moment, Ende Juli) weniger neue Flüchtende. Manche Binnen-Vertriebene haben sich in den Dörfern rund um die Gemeinschaften niedergelassen und wollen zumindest mittelfristig dort bleiben, andere haben andere Lösungen für sich gefunden. Die Aktivisti von GEN-Ukraine reden auch schon lange nicht mehr von Geflüchteten, sondern von Gästen.
Die Hoffnung, dass der Krieg nur kurze Zeit andauern wird, ist leider verpufft. Wir stellen uns darauf ein, auch im kalten Winter Menschen in der Ukraine zu unterstützen. Eine neue Initiative ist darum das Projekt »Busha Toloka« in der Region Winnyzia. In dieser Ökosiedlung, 150 km nördlich der moldawischen Grenze gelegen, leben derzeit rund 250 Menschen, die ihr Zuhause verloren haben oder aber nicht in ihre Wohnungen und Häuser zurück können oder wollen. Mit Hilfe von Spenden werden wir dort in den nächsten Monaten ein Strohballenhaus errichten, das in einer Art Gruppenunterkunft für mindestens 150 Menschen einen beheizbaren Platz für den Winter bietet. Die Baugenehmigung ist bereits vorhanden, und ein ukrainisches Strohballenbau-Unternehmen, das mittlerweile in Tschechien angesiedelt ist, hat schon mit der Erstellung von Modulen angefangen, so dass das Gebäude hoffentlich im Spätherbst bezugsfertig sein wird. Das Projekt stand bei GEN-Ukraine ganz oben auf der Prioritätenliste, und das Gebäude ist so konzipiert, dass es später auch als Versammlungsraum für die Gemeinschaft genutzt werden kann. Noch werden Spenden gebraucht, um das Projekt fertigstellen zu können.
Fliehende Menschen dort und anderswo
Die bevorzugte Behandlung von Flüchtlingen aus der Ukraine gegenüber Flüchtlingen aus anderen Teilen der Welt ist uns natürlich allen sehr bewusst. Gleichzeitig wollen wir weiterhin die Offenheit und die Möglichkeiten nutzen, die sich im Fall von Flüchtenden aus der Ukraine bieten, und sind dankbar dafür, dass Menschen aus der Ukraine im restlichen Europa unkompliziert reisen und unterkommen können. Dass dies nicht für alle Menschen auf der Flucht selbstverständlich ist, ist eine schreiende Ungerechtigkeit! An diesem Punkt ist es mir wichtig, zu sagen, dass wir mit GEN-Europe natürlich auch in der Vergangenheit Flüchtenden aus dem globalen Süden geholfen haben – beispielsweise in den Jahren 2015/2016 auf Lesbos und im Umfeld von Idomeni auf dem griechischen Festland – und dass wir auch sonst engagiert sind, Menschen auf der Flucht zu unterstützen bzw. die Lebensbedingungen in den Herkunftsländern zu verbessern. Nun ging es aber einfach um eine schnelle und zuverlässige Unterstützung.
Eine politische Einschätzung des Kriegs in der Ukraine wollen wir als GEN-Netzwerk an dieser Stelle nicht geben. Aus einer rein westlichen Perspektive ist es schwer, ein objektives Bild zu bekommen, und wir wollen auch in der Zukunft nicht als politische Partei für die eine oder andere Seite missbraucht, sondern eher als Aktivisti für den Frieden gesehen werden. Uns ist es wichtig, den menschlichen Aspekt zu sehen und uns auf die Seite der Bedürftigen zu stellen. Vielleicht wird es uns gelingen, in ein paar Jahren wieder gemeinsame Projekte mit Menschen aus der russischen Gemeinschafts- und Permakulturszene zu organisieren. Derzeit ist das, nicht nur aus logistischen Gründen, unmöglich. Beispielsweise dürfen ukrainische Männer im wehrfähigen Alter nicht ausreisen, und Russen können nicht offen von Krieg reden, ohne sich selbst in Gefahr zu bringen. Unabhängig davon gibt es auch innerhalb der ukrainischen Bevölkerung große Diskussionen über die Ursachen für diesen Krieg.
Sogar innerhalb der Gemeinschaftsbewegung und deren Familien kommt es zu sehr unterschiedlichen Einschätzungen. Auch wenn der Angriffskrieg (wie jede Form von Gewalt) durchgehend abgelehnt wird, gibt es viele Menschen, die zum Beispiel die russische Angst vor einem NATO-Beitritt der Ukraine verstehen können. Gleichwohl sieht sich der überwiegende Teil der ukrainischen Gemeinschafts-bewegung von »den Russen« bedroht und angegriffen, und es besteht in dieser Situation keine Offenheit, auf russische Menschen aus Ökodörfern zuzugehen, ohne sie gleichzeitig als Vertretende des Aggressors zu sehen. Ich kenne diese Problematik auch aus anderen Kriegsgegenden, denn ich habe selbst unmittelbar nach dem Krieg auf dem westlichen Balkan für fünf Jahre in Sarajevo gearbeitet. Aber gerade mit diesen Erfahrungen im Hintergrund trage ich die große Hoffnung in mir, dass die Gemeinschaftsszene in naher Zukunft ein guter Nährboden für friedensfördernde Begegnungen sein kann.
Gleichzeitig hat das russische Gemeinschaftsnetzwerk sich trotz möglicher negativer Konsequenzen öffentlich gegen den Krieg gestellt, sich für Gewaltfreiheit eingesetzt und Solidarität mit dem ukrainischen Netzwerk bekundet – ein Zeichen der Hoffnung, nicht nur für Menschen aus dem Gemeinschaftsumfeld.
In einem der Online-Treffen im Juni betonten Iryna, Maksim und Anastasyia, wie dankbar sie trotz aller Schwierigkeiten auch über viele der Entwicklungen seien; dankbar darüber, wie sehr die Menschen aus dem Gemeinschaftsnetzwerk und dem Permakultur-Umfeld zusammenhalten, wie wirkmächtig sie sein können, wie groß das Vertrauen und die Wertschätzung sind. Dabei zeigt sich auch die Bedeutung des persönlichen Zusammenhalts, der sich in den vergangenen Jahren aufgebaut hatte – und wie schön es sein kann, in einem freundschaftlichen Netzwerk zu wirken. Nun erweist es sich, wie wertvoll es ist, auf ein Vertrauens-Netz zurückgreifen zu können, und dass sich dadurch Türen und auch Geldbeutel geöffnet haben. Der Begriff der »internationalen Solidarität« ist hier von einem bloßen Schlagwort zur gelebten Realität geworden – eine gute Erfahrung in diesen dunklen Zeiten! //
Steffen Emrich (54), Gemeinschaftsberater und Trainer für Soziokratie, ist seit über 20 Jahren in der Entwicklungszusammenarbeit tätig. Er engagiert sich sowohl im deutschen als auch im internationalen GEN-Netzwerk und ist Mitglied des Vorstands von GEN-Europe. Steffen lebt mit seinen Kindern in der Gemeinschaft »gASTWERKe« bei Kassel.