Hebamme Lola Franke begleitet Menschen sowohl ins Leben als auch in den Tod. Dabei möchte sie Übergangsprozesse halten, nicht kontrollieren.von Lola Franke, erschienen in Ausgabe #70/2022
Wir alle wurden geboren. Aus einer dunklen, weichen Höhle kamen wir ins Leben. Manche wurden liebevoll empfangen, konnten die Haut und Wärme ihrer Mutter spüren, kamen ganz langsam in dieser Welt an, fühlten sich sicher. Die Landung vieler Menschen im Leben verläuft hingegen schockhaft, sogar traumatisierend: Plötzlich ist alles laut, hell, kalt. Viele werden irgendwo allein abgelegt, wo kein vertrauter Herzschlag pocht, wo kein warmer Körper Geborgenheit vermittelt. Nach der anstrengendsten, aufregendsten Erfahrung des Lebens sind Neugeborene von jetzt auf gleich in einer Umgebung, die ihnen völlig fremd ist. Es ist nicht egal, wie ein Kind geboren wird: Ob die Mutter während der Geburt gestresst war, ob das Baby in einem OP-Saal aus der Gebärmutter gezogen wurde, ob der sensible Hormonrhythmus durch Wehenmittel gestört wurde, ob es zu Verletzungen durch Saugglocke oder Geburtszange kam – all das ist wesentlich dafür, wie sicher ein Mensch sich im späteren Leben fühlt.
Um möglichst abgesichert zu sein, finden die meisten Geburten – hierzulande etwa 98 Prozent – in Krankenhäusern statt, wo eine Reihe von Vorkehrungen getroffen wird. Routinemäßig wird der Frau dort ein intravenöser Zugang in die Armbeuge gelegt. Ein piepsendes CTG-Gerät wird um den Bauch herum gebunden, um die Herztöne des Kindes hörbar zu machen. Jede vierte Frau bekommt Oxytocin als wehenförderndes Hormon und eine Periduralanästhesie gespritzt. Aber bedeutet all das mehr Sicherheit?
Eine Hebamme hat die Aufgabe, einen sicheren Raum für die Gebärende zu schaffen. Das kann überall sein – im Krankenhaus, im Geburtshaus, zuhause oder im Garten. Während der Geburt werden Hormone ausgeschüttet, die – ebenso wie beim Sex – nicht gebildet werden, wenn der Körper unter Angst oder Stress steht. Dann kommt es zu Verkrampfung, zum Verebben der Wehen. Eine gute Hebamme steht wie eine Bademeisterin am Beckenrand und schafft die Bedingungen, damit die Gebärende auf den Geburtswellen surfen kann. Nur wenn etwas schief geht oder Anzeichen von Komplikationen zu erkennen sind, greift sie ein. Es gibt freilich Ausnahmen, aber die allermeisten Geburten verlaufen gut, wenn wir sie in Ruhe geschehen lassen.
Manche Leute glauben, dass eine Hausgeburt so risikoreich wie eine Geburt im Mittelalter wäre, und dass allein die technischen Errungenschaften Geburten sicherer gemacht hätten. Tatsächlich müssen aber nur etwa ein Prozent aller Gebärenden in Deutschland bei einem Notfall ins Krankenhaus; und nur 0,11 Prozent der außerklinischen Geburten verlaufen tödlich; im Krankenhaus – wo natürlich auch alle Risikoschwangeren entbunden werden – liegt die Zahl bei 0,53 Prozent. Wenn Frauen erzählen: »Wenn ich nicht im Krankenhaus gewesen wäre, hätte ich die Komplikationen niemals durchgehalten«, dann frage ich mich, ob es außerhalb der Klinik überhaupt zu diesen gekommen wäre, und ob nicht der natürliche Geburtsprozess – ungestörter und besser betreut – einfach seinen Lauf genommen hätte. Zahlen belegen, dass es zu weniger Eingriffen kommt, wenn eine Krankenhaushebamme nicht fünf Frauen zugleich betreuen muss.
Vielleicht sind wir Hebammen tatsächlich die am wenigsten abgesicherten Personen bei der Geburt. Inzwischen müssen wir etwa 1000 Euro monatlich an Versicherungsbeiträgen bezahlen. Immer wieder werden Hebammen verklagt, weil die Geburt nicht erwartungsgemäß verläuft. All das macht den Beruf schwierig.
Um uns bei einer Geburt sicher zu fühlen, müssen wir uns auch mit dem Tod auseinandersetzen. Sicherheit herzustellen, bedeutet nicht, den Tod um jeden Preis auszuschließen. Natürlich ist es schrecklich, wenn jemand stirbt, aber auch das ist – meinem Verständnis nach – nicht das Ende des Lebens. Ich bin auch ausgebildete Sterbebegleiterin, aber zu einer solchen wird jede Hebamme zwangsläufig irgendwann. Die Prozesse beim Sterben und Gebären sind ähnlich: der Widerstand, die Angst vor einer gewaltigen Erfahrung, die wir nicht einschätzen können, die Trauer, aber auch die Dankbarkeit wie Freude – und dann im besten Fall die Hingabe an etwas, das größer ist als wir. Sterbende wie Gebärende kommen irgendwann in einen versunkenen Fokus, sind ganz in sich gekehrt – wie eine Schildkröte – und betreten einen Raum, der anders als das Bekannte ist. Ich bin in diesen Momenten nur dazu da, diesen Prozess zu schützen, zu bezeugen und den Rahmen zu halten. //
Lola Franke (27) betreute zwei Jahre lang die Bildungsrubrik von Oya und widmet sich seither ganz dem Hebammentum. Nach einer freien Ausbildung in Spanien studiert sie derzeit Hebammenwissenschaften in Hamburg.