von Matthias Fersterer, erschienen in Ausgabe #70/2022
Geprägt vom niederländischen Kolonialbeamten und Ethnologen George Alexander Wilken (1847–1891), durchlief das Kunstwort »Matriarchat« bis heute eine höchst wechselvolle Geschichte. Oft wird es auf den Schweizer Altertumsforscher Johann Jakob Bachofen (1815–1887) zurückgeführt, wenngleich Bachofen selbst dieses gar nicht verwendete, sondern stattdessen vom »Mutterrecht« schrieb. Tatsächlich gehen diese evolutionistischen, kolonialistischen und im heutigen Sinn unwissenschaftlichen Ansätze von einer Umkehr der patriarchalen »Väterherrschaft« aus: von einer »Mütterherrschaft«, die als Patriarchat unter umgekehrten Vorzeichen auf derselben Herrschafts- und Gewaltausübung basiere.
Seit den frühen 1980er Jahren nimmt die Philosophin und Wissenschaftstheoretikerin Heide Göttner-Abendroth mit ihrer akribischen Forschung zu einstigen und gegenwärtigen egalitär organisierten matriarchalen Gesellschaften eine Umdeutung des Begriffs vor, den sie – ausgehend vom griechischen archē, »Anfang« – als »Am Anfang die Mütter« übersetzt (siehe Rezension der Tri-logie »Das Matriarchat« rechts gegenüber). In der zeitgenössischen Ethno-logie und Archäologie wird der Begriff »Matriarchat« hingegen kaum noch verwendet, woraus manche Forschende den Schluss ziehen, dass es matriarchal organisierte Gruppen nie gegeben hätte; der an-archistische Anthropologe David Graeber (1961–2020) wiederum zeigte sich durchaus offen für die mögliche Existenz matriarchaler Gesellschaften im Neolithikum. Wen wundert es da noch, dass -dieses ideen-geschichtliche Quodlibet in spät- und postpatriarchalen Zeiten für gehörige Begriffsverwirrung und erhebliches Durcheinander sorgte?
Dennoch, oder gerade deshalb, wirkte die Matriarchats-forschung nachhaltig diskursprägend auf künstlerische, literarische und gegenkulturelle Kreise. Auch diese von der Schriftstellerin Tanja Raich herausgegebene literarische Sachbuch-Anthologie ist letztlich ein Beispiel dafür, obwohl die Arbeiten von Heide Göttner-Abendroth und Veronika Bennholdt-Thomsen (»Juchitan. Stadt der Frauen«) darin nur kursorisch erwähnt werden. Der Untertitel »20 Einladungen in eine Welt, in der Frauen das Sagen haben« erinnert eher an »Mütterherrschaft« denn an gleichwürdiges Zusammenleben. Dennoch ist den überwiegend aus (queer-)feministischen, postmigrantischen und antirassistischen Perspektiven schreibenden Beitragenden – darunter die Kulturwissenschaftlerin Mithu Sanyal, die Autorin und Aktivistin Emilia Roig, die Biologin und Schriftstellerin Gertraud Klemm, die Literatin Anke Stelling, die Schriftsteller Feridun Zaimoglu und Kristof Magnusson sowie der Titanic-Karikaturist Nicolas Mahler – eine sehnsuchtsvoll bis skeptisch fragende Haltung gegenüber post-patriarchalen, nicht-patriarchalen oder anderweitig gegen die patriarchalen Hierarchien gebürsteten Lebensformen gemeinsam. Wie Mithu Sanyal in ihrem Auftaktessay schreibt: »Es geht nicht um das Umkehren von Hierarchien, sondern um das Infragestellen derselben.«
Das Paradies ist weiblich 20 Einladungen in eine Welt, in der Frauen das Sagen haben. Tanja Raich Kein & Aber, 2022 256 Seiten ISBN 978-3036958705 24,00 Euro