Titelthema

Von Zabitans und Magnolien

Wie lässt sich eine globalisierte Welt als erdendes, gleichwürdiges Beziehungsgeflecht von Menschen und Orten denken? Eine philosophische Annährung des Poeten Édouard Glissant.
Photo
© Manfred Metzner

»Ich erinnere mich noch an die vollen, beharrlichen Gerüche aus meiner Kindheit. Mir scheint, das ganze Land rundum war an anhänglichen Düften reich: der Äther der Magnolien, der diskrete Starrsinn der Dahlien, die Essenz der Tuberosen und der stechende Traum der Gladiolen. All diese Blumen, fast alle, sind verschwunden. An Düften bleibt am Rande der Straßen gerade noch eine süße Pfütze, wenn du dich plötzlich im Geruch der Moubin-Pflaumen verlierst; oder an einigen Stellen der Route de la Trace der feine Ruf der wilden Lilien. Das Land hat seine Gerüche verloren. Wie fast überall auf der Welt.«

Die verschwundenen Blumen sind eine Facette der heimatlichen Insellandschaft, die der martinikanische Schriftsteller und Philosoph Édouard Glissant (1928-2011) in seiner Essaysammlung »Zersplitterte Welten. Der Diskurs der Antillen« Anfang der 1980er Jahre aufgriff. Sie und ihr sich verströmender Duft sind dem durch Züchtung überformten Anblick von haltbareren, für den Export bestimmten Blumen wie der Porzellanrose oder der Flamingoblume gewichen. Es sei, als verzichte das Land damit auf seine »Essenz«, um sich ganz auf die Erscheinung zu konzentrieren, schreibt Glissant. Die empfindlichen, duftreichen heimischen Blumen von einst hätten der Pflege eines eigenständigen und selbstbestimmten Kollektivs bedurft, welches sich 1848 nach der Befreiung aus dem kolonialen Plantagensystem in Martinique hätte entwickeln können. Stattdessen kranke das Land am Verlust der selbstversorgenden Produktion und erschöpfe sich in mimetischer Assimilation (nachahmender Angleichung) an das Modell der französischen Kolonialmacht sowie im »Waren-Imperativ« einer importierten Konsumgesellschaft. Bis heute ist Martinique nicht unabhängig, sondern ein Übersee-Département Frankreichs – und damit Teil der Europäischen Union. Die soziologische und poetische Spurensuche nach der verhinderten Identität, auf die sich Glissant in seinen Essays begab, machte ihn bereits vor vier Jahrzehnten zu einem der führenden Theoretiker einer postkolonialen globalisierten Welt. Heute scheinen seine Perspektiven aktueller denn je zu sein.

Ende vergangenen Jahres, als wir in Oya 66 das »Kompostieren« als kulturelle Fähigkeit – also Bestehendes mit allem Abstoßenden und Erschreckenden lieben zu lernen, sanft beim Sterben zu begleiten und in fruchtbare neue Formen zu -überführen – entdeckten und erkundeten, las ich in einem Artikel über Glissant. In seiner Metapher des »Schlicks« schien mir ein nah verwandtes Denken entgegenzuleuchten. Der Schlick löst – ähnlich wie Kompost  – oberflächlich betrachtet Assoziationen mit »Dreck« und »Unrat« aus, wird aber als Rückstand an Flussufern und Inselstränden, in Tälern und am Grund des Ozeans zum Nährboden für neues Leben. In diesem Sinn war Schlick für den martinikanischen Philosophen eine zentrale Denkfigur für die Beschäftigung mit Versklavung und Kolonisierung sowie für das Fruchtbarwerden dieser Geschichte von unten in einem lebendigen, weltumspannenden Beziehungsgeflecht. Seine »Philosophie der Weltbeziehung«, die Glissant aus der historischen Aufarbeitung der Verhältnisse in Martinique entwickelte, erscheint mir als auch hier und heute ermutigender Impuls, sich in einer krisenhaften, unsicheren und chaotisch anmutenden Welt auf eine lebens-dienliche Weise zu beheimaten.

Geschichten aus Schlick und Schlamm

»Philosophie der Weltbeziehung. Poesie der Weite« lautet der Titel eines zentralen Spätwerks Édouard Glissants. Beide Bereiche, die Philosophie und die Poetik, gehörten für den Schriftsteller zeitlebens untrennbar zusammen. Zweifel ob der Angemessenheit einer Form – als Ausdruck einer kollektiven Beziehung der Menschen zur sie umgebenden Welt – kamen ihm jedoch nicht im Feld der Literatur, sondern in Auseinandersetzung mit der Geschichte. Die GESCHICHTE in Großbuchstaben sei ein »folgenreiches Phantasma des Okzidents«, ein übergriffiges Weltentwicklungsmodell westeuropäischer Kolonialmächte, welches aus einer Zeit stammt, als diese noch allein Weltgeschichte »machten«. Aber so wenig wie andernorts lasse sich das zeitlich eingebettete Erleben von Menschen in linearen chronologischen Aufzählungen von Gouverneuren und Regierungszeiten erfassen. Gerade in Martinique, wie auch auf den Antillen überhaupt und ebenso in anderen Regionen der Welt, in denen sich das Geschichtsbewusstsein nicht fortschreitend und kontinuierlich »sedimentieren« konnte wie in Europa, handele es sich vielmehr um eine »aus Brüchen gefügte Geschichte« – eine Anti-Geschichte. Da das historische Gedächtnis an solchen Orten allzu oft getilgt worden ist, gelte es, verborgene Spuren aufzunehmen, die sich in der heutigen Lebenswirklichkeit finden. In Martinique wird heute meist verdrängt, dass Mitte des 17. Jahrhunderts die indigenen Kariben getötet und aus Afrika verschleppte und versklavte Menschen in ein ausbeuterisches Plantagensystem gezwungen wurden. Sie kamen als »nackte Wanderer« ohne eigene Werkzeuge, Götterbilder, Gebrauchsgegenstände und ohne jede Hoffnung, Familie und Nachbarn jemals wiederzusehen. Einige fanden, beschwert mit eisernen Kugeln, den Tod am Grund des Atlantiks. In der etwa zweihundert Jahre währenden Zeit der Plantagensysteme wurden Aufstände versklavter Menschen nicht nur gewaltsam unterdrückt, sondern auch weder bezeugt noch gewürdigt als Form von kulturellem Protest. Die Befreiung von 1848 mündete in die Einhegung in eine fremde Staatsbürgerschaft, die zwar die Sehnsucht nach der Rückkehr in die alte Heimat ablöste, aber ebenso wie die entmündigende Zwangsarbeit auf den Plantagen eine wirkliche Verbindung mit dem realen Land der Karibikinsel verhinderte. Dieser eingepflanzte »mimetische Impuls« sei »die wohl extremste Gewalt, die man einem Volk antun kann«.

Das Räderwerk der Eingliederung bloßzulegen, könne kurzzeitig Verzweiflung auslösen, münde aber keinesfalls in Pessimismus, meint Glissant. Es sei vielmehr eine notwendige, wenngleich schmerzhafte Aufarbeitung, auf deren Grundlage überhaupt erst eine vielfältige, »rhizomartige Identität« entstehen könne. Das »Rhizom« als Metapher für eine nicht-hierarchische Wissensorganisation und Weltbeschreibung übernahm Glissant von dem Philosophen Gilles Deleuze (1925–1995) sowie dem Psychoanalytiker Félix Guattari (1930–1992). Dieses vielfältige Identitätsgeflecht der in der Karibik zusammengewürfelten Menschen und ihrer Geschichten, beende die lineare Auffassung von GESCHICHTE, die von sich aus immer weiterläuft. »Wir haben das Glück, eine Relativierung mitzuerleben, die auch uns teilnehmen lässt, eine Verbundenheit, die von der Uniformität wegführt«, schreibt Glissant und fasst dies im Begriff der »Transversalität« zusammen, den er den europäisch geprägten Begriffen »Transzendenz« (die Materie übersteigend) und »Universalität« (Verallgemeinerung) entgegensetzt. Ein gemeinsames Identitäts- und Geschichtsbewusstsein entstehe demnach gerade durch, in und mit den Begegnungen konkreter und verschiedener Menschen und Orte, statt durch abstraktes und von letztlich austauschbaren realen Gegebenheiten abgeleitetes Verallgemeinern.

Die Welt als Archipel

Die weltweiten Begegnungen verschiedener Kulturen, so schrieb Glissant in 1996 seinem Buch »Kultur und Identität«, erlebten wir gegenwärtig als Chaos voller Krisen und Katastrophen, in dem uns die Anhalts- und Bezugspunkte verlorengegangen seien: »Der Grund dafür ist, dass wir immer noch versuchen, sie an einer souveränen Ordnung zu messen, die ein weiteres Mal danach strebt, das Welt-Ganze zu einer beschränkenden Einheit zu führen.« Diesem »kontinentalen Denken«, welches die Welt als Ganzes, als Block, als System oder auch als »aus einem Guss« zu erfassen sucht, setzt er das »archipelische Denken« entgegen, welches eher tastend ist und einem intuitiven Versuch gleicht. Mit diesem Denkansatz »kennen wir die Steine in den Bächen, bis zu den kleinsten von ihnen, und wir betrachten die Schattenlöcher, die sie zeigen oder verdecken«. In Martinique ließen sich so etwa zabitans, kleine Flusskrebse, die auf der benachbarten Antilleninsel Guadeloupe ouassous heißen, entdecken. Die Welt als Archipel zu denken, heißt, die unentwirrbare und unvorhersehbare Vielfältigkeit der Details der »Tout-Monde«, der »All-Welt«, wahrzunehmen, ohne eines als wichtiger oder wahrhaftiger als ein anderes anzusehen. »Das Unterschiedliche, nicht das Identische, ist das Elementarteilchen aller Lebewesen auf der Welt und im verwobenen Netz der Kulturen«, schreibt er. Diversität ist dabei nicht das Maß für Vielfalt an sich, sondern für die Solidarität der Differenzen untereinander. Identitätsstiftend wird aus dieser Perspektive die Begegnung und das Aufeinanderbezogensein zwischen Menschen, Kollektiven und Nationen. Die Pfahlwurzel der einen Abstammungslinie weicht dem Bild eines Rhizoms, eines weitverzweigten Wurzelgeflechts.

Das »Zusammengewürfelt-Sein« verschiedener Menschen und Kollektive beschränkt sich nicht nur auf die Antillen, sondern begleitet unsere Spezies seit Anbeginn. Wie etwa auch der Anthropologe David Graeber (1961–2020) und der Archäologe -David Wengrow im Buch »Anfänge« zeigten, lebten verschiedene Menschengruppen nicht – wie lange behauptet – isoliert voneinander, sondern wanderten und begegneten sich. Immer galt es, sich sowohl abzugrenzen als auch in Beziehung zu setzen, immer formten sich dabei neue, experimentelle Sozialformen.

Die Idee, die Welt als Archipel wahrzunehmen, empfinde ich als ein befreiendes Geschenk. Sie erzeugt in mir ein Gefühl der Weite. Ich muss nicht erst eine korrekte Gesamtanalyse der auf ein vermeintlich homogenes System reduzierten Welt haben, um mein künftiges Handeln daran auszurichten. Stattdessen fühle ich mich eingeladen, im Bewusstsein der zuweilen verwirrenden Unerforschlichkeit und des Durcheinanders in der Welt dennoch Spuren zu folgen, mich auf konkrete Begegnungen im Hier und Jetzt wirklich einzulassen und mich so im chaotischen Beziehungsgeflecht der Welt zu beheimaten. //


Mehr archipelisches Denken

Édouard Glissants Werk erscheint seit 1983 in deutscher Übersetzung im Verlag »Das Wunderhorn«.  wunderhorn.de


weitere Artikel aus Ausgabe #70

Photo
von Oya – Redaktion

Oya im Wandel

Die Zeiten ändern sich, also muss auch Oya sich ändern.Seit die letzte papierne Ausgabe in den Druck gegangen ist, haben wir uns in vielen kleineren und größeren Runden in einen intensiven Austauschprozess rund um die Frage, wie es mit Oya weitergehen kann, begeben: In einer

Photo
von Jochen Schilk

Auf Spurensuche nach Natürlichkeit (Buchbesprechung)

An seiner jahrelangen »Spurensuche nach Natürlichkeit« lässt der Wildnispädagoge und Therapeut Bastian Barucker die Leserinnen und Leser teilhaben. Unter Natürlichkeit versteht der Autor dabei eine Art von Konstante nicht zuletzt im sozialen Leben von uns Menschen.

Photo
von Jochen Schilk

Urin – Flüssiges Gold für den Garten (Buchbesprechung)

Eine schöne Vertiefung zu Frank Hofmanns Artikel über die Verwendung von Urin als Nährstofflieferant im Gartenbau (»Düngerproduzent Mensch«, Oya 66) bietet das 2020 im Ökobuch-Verlag erschienene »Urin – Flüssiges Gold für den Garten«.

Ausgabe #70
Was gibt Sicherheit?

Cover OYA-Ausgabe 70
Neuigkeiten aus der Redaktion