Der Schlüssel zum Wasser ist der Schlüssel zum Klima
2022 ist bereits das fünfte Dürrejahr in Folge. Die Frage, was zu tun ist, wird vielerorts mit viel zu kurz gedachten Rezepten beantwortet. Denn der wichtigste Faktor – das Wasser – hat einen langen Weg, an dessen Anfang angesetzt werden muss. Dabei helfen die Möglichkeiten des »Keyline Designs«.von Philipp Gerhardt, erschienen in Ausgabe #70/2022
Auch dieser Sommer ist geprägt von Meldungen über die anhaltende Hitze und Trockenheit, von Waldbränden, Ernteausfällen und zu niedrigen Wasserständen in Flüssen und Seen. Dann wieder gibt es Starkregen, der vom Boden gar nicht aufgenommen werden kann und immer wieder zu Überschwemmungen führt. Überall steht die Frage im Raum, was noch kommen mag, wo das hinführt und was angesichts all dessen zu tun sei.
Während er vielerorts brennt oder vertrocknet, wird auf den Wald geschaut, wie es ihm geht, wie man ihn retten kann. Ein bekannter Forstwirt und Bestsellerautor schreibt von natürlichen Reaktionen der Bäume und beschwört ein Zurück-zur-Natur-Bild herauf, das vielen Menschen Hoffnung gibt. Einfach »natürlich« soll es sein, denn die einheimischen Baumarten würden das alles schon schaffen, wenn man sie nur ließe.
An anderer Stelle, in Berlin, wird die Spree angestaut, damit sie genug Wasser hat; Nebenflüsse und Teiche lässt man leerlaufen. Das Problem ist, dass hier wie da das Wissen über die entscheidenden Zusammenhänge und damit auch nachhaltige Lösungen fehlen. Weder der Wald wird im Wald gerettet noch der Fluss im Fluss!
Beide brauchen stetig – ebenso wie die landwirtschaftliche Produktion, die Grundlage unserer Ernährung – Wasser. Wenn das Wasser nicht kommt oder zu schnell seinen Weg fortsetzt, hat es keine Chance, Pflanzen oder Gewässer konstant und ausreichend zu versorgen. Es wird derzeit viel zu einseitig überlegt, wie wir die extremen Bedingungen aushalten können, anstatt damit zu beginnen, diese Bedingungen zu verändern!
Es geht darum, den Wasserkreislauf zu verlangsamen und zu verstetigen, sonst wird auch der »natürlichste« Wald den Hitzetod sterben, wird die Ernte der neuesten »dürreresistenten« Feldfrüchte auf den Äckern vertrocknen, und auch das naturnaheste Gewässer wird ohne frischen Zustrom zur recht leblosen Schlammpfütze.
Oben anfangen
Bei allen Maßnahmen gilt es, »oben« anzufangen in der Landschaft: Da, wo der Regen auf den Boden trifft. Jeder Meter, den sich Wasser an der Bodenoberfläche in Richtung Meer bewegt, ist ein verlorener Meter, auf dem das Nass keine Pflanzen versorgt, keinen Speicher auffüllt und nur vernachlässigbar durch Verdunstung kühlt. Wenn das Wasser im Gewässer ist, ist es bereits zu spät. Der Regen muss in der Fläche gehalten werden und dort versickern, damit das Wasser wieder seine wichtige Rolle im Kühl- und Kohlenstoffkreislauf erfüllen kann!
Die Renaturierung von Gewässern und Mooren, ein massiver Waldumbau oder die Wahl von trockenheitsresistenten Kulturpflanzen sind auf jeden Fall sinnvoll, wichtig und dringend. Aber sie packen das Übel nicht bei der Wurzel. Das Problem ist der große Teil an Landfläche, der hydraulisch gesehen »glatt« ist, auf dem Regen also leicht als Oberflächenabfluss verlorengeht. Offensichtlich zählen hierzu versiegelte Flächen, aber bei Starkregen (über 17 Millimeter pro Stunde) verläuft das Wasser auch auf landwirtschaftlichen Flächen, je nach Boden und Nutzung. So können etwa auf tonigen Böden im Maisanbau 88 Prozent des Regens als Oberflächenabfluss verlorengehen und dabei Erosion und Hochwasser verursachen. Auf einem Sandboden sind es immer noch bis zu 60 Prozent. Im Dauergrünland auf tonigen Böden kommen wir auf bis zu 70 Prozent Oberflächenabfluss, auf einer Weide mit Sandboden können es noch über 30 Prozent sein, und sogar im Wald auf durchschnittlichen Böden laufen teilweise über 50 Prozent des Niederschlags an der Oberfläche ab, etwa wenn der Boden dort wegen saurer Nadelstreu wenig lebendig ist.
Gerade die letzten Werte mögen einige Menschen, die bisher glaubten, in Grünland und Wald oder auf Sandböden gäbe es keinen Oberflächenabfluss, in Erstaunen versetzen. Hinzu kommt, dass die Hangneigung nur eine untergeordnete Rolle spielt. Sogar im Flachland fließt Wasser, wenn der Boden es nicht aufnehmen kann, ab – und das liegt vor allem daran, wie »glatt« er ist.
Mit regenerativen Praktiken wie Direktsaat- oder Mulchverfahren kann der Oberflächenabfluss im Ackerbau um bis zu 15 Prozent reduziert werden, weil sie die Oberflächenrauhigkeit und die Porosität des Bodens erhöhen. Doch das reicht nicht aus. Wir werden bei den zunehmenden Starkregenereignissen auch dort Oberflächenabfluss beobachten – er muss aufgefangen und langsam versickert werden.
Eine genau dafür entwickelte Methode ist das »Keyline Design«, auf Deutsch die Schlüssellinienbearbeitung.
Keyline Design ist ein komplexer Gestaltungsansatz für den Aufbau und die Führung von Landwirtschaftsbetrieben. Bekannt geworden ist vor allem die Methode, Bearbeitungsmuster für geneigte Gelände zu finden, die Wasser von feuchteren zu trockeneren Stellen transportieren und somit eine ausgeglichenere Wasserversorgung der Kulturen schaffen. Dabei ist die entstehende Struktur eine wohlüberlegte Mischung von gelenktem Oberflächenabfluss, Zwischenabfluss in den oberen Schichten des Bodens, Anpassung an die maschinelle Bearbeitbarkeit sowie an die sonstigen Standortgegebenheiten und Ressourcen eines Betriebs. Die am Ende der Planung festgelegten Mittel zur Umsetzung können dabei unter anderem das Ziehen von Versickerungs- und Bewässerungsgräben, verschiedene Arten der Tiefenlockerung, die Anlage von Speicherbecken sowie die Pflanzung von Gehölzkulturen (Agroforststreifen) umfassen – um Niederschläge bestmöglich aufzunehmen, zu verteilen und zu speichern. Ursprünglich geht der Begriff »Keyline« – Schlüssellinie – auf den Australier P. A. Yeomans zurück. Er hat bereits in den 1940er Jahren die Grundprinzipien abgeleitet und 1954 in seinem Buch »Water for Every Farm« beschrieben.
Oberflächenabfluss verhindern
Seither hat sich die Methode stetig weiterentwickelt, da der klassische Ansatz einige Schwächen aufwies. So funktionieren die im Internet leicht auffindbaren Grundprinzipien nach Yeomans nur selten, und gerade in Europa gilt es, auf die Gegebenheiten der alten Kulturlandschaft und Flurordnung einzugehen. Heute wird daher im Keyline Design fast immer mit moderner Vermessungstechnik, Fern-erkundung (zum Beispiel Laserscanning mit Drohnen) und hydrologischen Berechnungen, vor allem aber mit neuen, für Mitteleuropa anwendbaren Planungsgrundsätzen gearbeitet, welche die Methodik nach Yeomans weitgehend ersetzt haben. In Deutschland haben wir die ersten sogenannten Hauptliniensysteme angelegt, noch bevor diese Neuerung im Keyline Design, die heute als Standard gilt, international publiziert wurde. Beispiele dafür sind die Systeme bei Märkisch Wilmersdorf in Brandenburg oder auch in Meilen bei Zürich, die auf den Bildern auf der folgenden Seite zu sehen sind.
Mit der Keyline-Struktur, die mit Landmaschinen befahren wird, und der Pflugfurchen, Tiefenlockerung, Gräben, Baumreihen oder eine Kombination aus allem folgen, wird Oberflächenabfluss aufgefangen, bevor er sich konzentrieren und in Abflussrinnen Geschwindigkeit aufnehmen kann. Es werden je nach Bodenbeschaffenheit und zu erwartenden Niederschlägen Versickerungsgräben mit keinem oder definiertem Gefälle sowie in anderen Fällen Agroforststreifen oder Kombinationen aus beidem direkt in der Fläche angelegt, so dass Wasser nach einem Niederschlag dort steht und langsam versickern kann. Der Vorteil besteht neben einer kompletten Reduktion des Oberflächenabflusses sowie dem resultierenden Erosions- und Hochwasserschutz darin, dass das versickernde Wasser unmittelbar die Produktivität steigert. Die Acker- oder Grünlandstreifen werden besser mit Wasser versorgt und an den Retentionsstreifen können Gehölzkulturen das Wasser direkt für die Ausbildung von Früchten, die Verdunstungskühlung, das Wachstum wertvollen Holzes und damit für die Kohlenstoffbindung nutzen. Die Flächen bleiben in der landwirtschaftlichen Förderung und sind als Dauerkulturen auch betriebswirtschaftlich attraktiv.
Werden an einem Hang mehrere Linien gezogen, die kein Gefälle aufweisen sollen, so sind diese nicht parallel, da sich die Geländebeschaffenheit im Verlauf eines Hangs verändert – siehe die Höhen-linie auf einer topographischen Karte. Für die in der Landwirtschaft übliche maschinelle Bearbeitung ist jedoch ein System mit gleichbreit bleibenden Ackerstreifen deutlich von Vorteil. Dieses Design hat sich in den letzten Jahren stärker verbreitet und wird auch als »Hauptliniensystem« bezeichnet. Die Hauptlinie hat dabei idealerweise eine sehr lange Versickerungszone ohne Gefälle. Sie wird jedoch so gewählt, dass auch ihre Parallelen immer noch Oberflächenabfluss auffangen und es keine »offenen Enden« gibt.
Entgegen der landläufigen Meinung ist die Arbeit mit der Geländekontur – und damit auch die Keyline-Strukturierung – nicht nur bei starkem Gefälle wirkungsvoll. Besonders in Anbetracht der häufiger werdenden Starkregenereignisse, bei denen die Aufnahmefähigkeit von sandigen bis tonigen Böden fast nie ausreicht, um Oberflächenabflüsse zu verhindern, zeigt sich, dass auch bei geringen Hangneigungen von nur zwei bis drei Prozent Gefälle das Bearbeitungsmuster mit seinen Fahrspuren und Furchen eine große Rolle bei der Entstehung von Abflusskonzentration spielt. Die mittlerweile oft angestrebte »Querbearbeitung«, bei der der Traktor quer zum Gefälle fährt, bringt alleine meist nur wenig Erfolg, da sie Hangmulden vernachlässigt, in denen sich Wasser sammelt, das Furchen und Dammkulturen überströmt und schließlich davonspült. Die entstehenden »Erosionsfächer« sind hinlänglich bekannt und kaum besser als die »Grand Canyons« in den Fahrgassen von Bearbeitungsmustern, die bergab verlaufen.
Auf Standorten mit wenig Gefälle spielt die Schlüssellinienkultur also ebenso ihr großes Potenzial aus. Dort ist die Anlage von Gräben und Versickerungsmulden oft einfacher, da etwa die Stabilität von Gräben oder Dämmen eine untergeordnete Rolle spielt. Meistens reicht dort auch die Planung eines guten Acker-Bearbeitungsmusters, das idealerweise um Baumkulturen (Agroforststreifen) ergänzt wird. Dann bietet jede entstehende Furche oder Rille im Ackerbau genug waagerechte Strecke, um Niederschläge zu versickern; bei Stark-regen sind oft die Randfurchen an Baumstreifen ausreichend, um konzentrierte Abflüsse aufzunehmen.
Nur minimale Eingriffe sind nötig
Mittlerweile gibt es in Deutschland, Österreich und der Schweiz schon einige Praxisbeispiele, wo sich die Methode bewährt hat. Diese machen die große Vielfalt an möglichen Keyline Designs, aber auch die Bedeutung einer guten und umfassenden Beratung und Planung deutlich. Die wohl komplexeste Variante ist ein Grabensystem mit Gehölzbepflanzung im Ackerbau, mit verschließbaren Auslässen, regulierbaren Pegeln und der Möglichkeit zum gedrosselten Ablauf bei Starkregen. Ein solches System ermöglicht sowohl das Entwässern als auch das Bewässern der Flächen, bei gleichzeitig hohem Mehrwert für den Hochwasser- und Erosionsschutz.
Dabei ist Keyline Design die bereits angedeutete komplexe Gestaltungsaufgabe, die das Zusammenspiel von Ingenieurhydrologie, Erd- und Wasserbau, Meteorologie, Bodenkunde sowie weiteren Disziplinen erfordert. Mit genauer Planung und Modellierung funktioniert die Wasserretention dann auch bei extremen Wetterereignissen.
Beispiele gibt es auch für Keyline-Systeme im Grünland, etwa in steilen, nicht befahrbaren Weideflächen. Dort verlaufen die Streifen, anders als im Ackerbau, nicht parallel, sondern sind auf ein möglichst geringes Gefälle optimiert. Sie dienen außerdem als Leitstrukturen für die Zäunung von Rotationsweideparzellen.
Die einfachsten Systeme finden sich in Brandenburg und Mecklenburg, wo im Ackerbau Agroforststreifen in Schlüssellinien angelegt wurden, die durch die parallel dazu verlaufenden Bearbeitungsspuren für eine optimale Versickerung von Niederschlägen in der Fläche sorgen. Wird dort mit einer Tiefenlockerung gearbeitet, verstärkt sich der Effekt, und es tritt auch eine Umverteilung der Feuchtigkeit in den tieferen Bodenschichten ein.
Erforscht ist Keyline Design in Mitteleuropa bisher kaum. Die wenigen wissenschaftlichen Untersuchungen zeigen aber klar, dass sich Hochwasserspitzen signifikant reduzieren, dass sich Erosion vermeiden lässt und dass vor allem wesentlich mehr Wasser für die Pflanzenproduktion in der Landwirtschaftsfläche zur Verfügung steht. Letzteres ermöglicht es, den dringend nötigen Hochwasser- und Gewässerschutz, Grundwasserneubildung und Erosionsschutz sowie die Kühlungsfunktion der Landschaft so zu gewährleisten, dass die Bauern dabei auch noch Vorteile für ihren Betrieb erzielen können.
In Deutschland sind Keyline Design und Anbau- oder sogar Agroforstsysteme, die anhand der Geländebeschaffenheit strukturiert sind, leider trotz der großen Chancen noch selten. Aber die Bedingungen verändern sich. Immer mehr Menschen wird klar, dass wir uns etwa den Luxus nicht länger leisten können, die Geländeform und die aus ihr resultierenden subtilen Unterschiede in der Verteilung von Bodenfeuchtigkeit, Oberflächenabflüssen, Erosion, Bodenaufbau und damit Fruchtbarkeit zu ignorieren. Ein allgemeines Umdenken ist unumgänglich, denn die Wiederherstellung der Funktionalität der Wasserkreisläufe ist die einzige schnelle und skalierbare sowie technisch machbare und finanzierbare Methode. Dafür müssen nur auf durchdachte Weise minimale Bodenbewegungen vorgenommen und Bäume gepflanzt werden.
Überall dort, wo auch nur ein Hauch von Geländekontur vorhanden ist, sollte geprüft werden, ob mit einer Schlüssellinienbearbeitung der Wasserrückhalt gestärkt werden kann. Denn schließlich zählt mittlerweile jeder Tropfen. //
Philipp Gerhardt (38) ist promovierter Forstwirt. Er plant regenerative Landnutzungssysteme und ist Gründer und Geschäftsführer der Deutschen Agroforst GmbH. Er arbeitet mit einem erfahrenen Team von Keyline Designern in ganz Mitteleuropa. baumfeldwirtschaft.de