Sich wahrhaftig einlassen auf die Seele eines Orts.von Patricia Christmann, erschienen in Ausgabe #70/2022
»Man müsste Acker in Grünland umwandeln und eine Streuobstwiese pflanzen!« Diesen Satz sagte Wieland, mein Herzensmensch, vor einigen Jahren zu mir, als wir von der gepachteten Weidefläche, auf der unsere Ponys und Esel grasen durften, zurückkamen. Damals lebten wir nach unserem Auszug aus einer Lebensgemeinschaft übergangsweise in einem Gartenhaus von gerade mal 26 Quadratmetern Wohnfläche. Wir hatten noch keine Ahnung, wie unser Leben weiter verlaufen würde, wohin wir gehen würden – obwohl wir mit einer Mosterei und einer Herde von sieben Huftieren zugegebenermaßen nicht mehr ganz frei und ungebunden waren.
Rückblickend glaube ich, dass Wielands Satz, der eine tiefe Sehnsucht nach Veränderung und ein Nicht-Mehr-Hinnehmen-Wollen von Gegebenem beinhaltete, einen Samen legte, der tief in uns – und zunächst gänzlich unbemerkt – zu keimen begann.
Als der Satz fiel, standen wir am Rand eines kleinen Wäldchens, blickten auf die riesigen Monokultur-Ackerflächen um uns herum und stellten uns vor, wie das Land aussehen könnte: ein Grasland mit vielfältigen Gräsern, Kräutern, Wildblumen, Obstbäumen, Büschen und – ach, aber es war ja nur ein Traum, eine fixe Idee, völlig unrealistisch ...
Mitte August 2017, zwei Jahre später, standen wir wundersamerweise auf einem Acker, der laut Papier ab sofort »unser« war. Dabei schien es uns eigentlich absurd, Land zu besitzen. Und so fühlten wir uns von Anfang an eher als Hütende dieses Landes statt als Eigentümerin und Eigentümer.
Es war nicht nur in finanzieller Hinsicht ein Wunder, dass wir einen Hof mit angrenzendem Ackerland kaufen konnten: Als Nicht-Landwirte mussten wir für den Acker ein Konzept beim Landwirtschaftsamt vorlegen, und bei einem persönlichen Gespräch sagte die Leiterin des Amts zu uns, dass sie unser Vorhaben bewillige, weil unser Konzept für sie so ehrlich klinge. Außerdem glaube sie, dass die Zeit der riesigen Äcker langsam vorbei sei – eine hoffnungmachende Aussage von der Amtsleiterin des Kreises Uckermark, einer Region, in der die Äcker nicht selten mehrere hundert Hektar groß sind, und wo bislang noch kaum Bio-Landwirtschaft betrieben wird.
In unserem Konzept schrieben wir davon, dass wir mit unseren Tieren in Amalienhof leben wollen. Im Zentrum sollten Angebote mit ihnen stehen; Spaziergänge und freies Spiel mit den Pferden. Die heilsame Wirkung von Natur und Tieren wollten wir für andere erfahrbar machen. Wir formulierten auch klar, dass wir nicht unseren Lebensunterhalt mit den Tieren bestreiten würden. Es grenzte also an ein Wunder, dass die Amtsleiterin uns zutraute, am ackerbaulichen Wandel mitzuwirken!
Verbundenheit säen
Der Landwirt, der bislang »unsere« Fläche beackert hatte, war an jenem denkwürdigen Tag im August 2017 mit der Getreideernte fertig geworden, und somit war das Land nun frei. Da er sich geweigert hatte, nach der Ernte noch einmal den Boden zu bearbeiten, und es in jenem Jahr so viel geregnet hatte, sah der Acker ziemlich erbärmlich aus, als ich zum ersten Mal über die 3,4 Hektar Land stapfte, die von da an in unsere Obhut fielen. Es war ein sehr besonderes Gefühl, über dieses geschundene Land zu laufen, und es rührte mich, den Boden zu berühren und dem Land zu versprechen, dass von nun an keine Ackergifte oder chemische Düngemittel mehr ausgebracht werden würden. Wo wir auch gruben, es fand sich kaum ein Regenwurm oder sonstiges sichtbares Bodenleben, dafür umso mehr verdichtete Erde.
Und so machten wir uns an die Arbeit, das Bodenleben mit Effektiven Mikroorganismen zu beleben – mit völlig improvisierter Technik, doch voller Enthusiasmus und Liebe für das Land. Normalerweise werden Flüssigkeiten wie unsere selbstangesetzte Mikroorganismen-Lösung mit Traktor und Feldspritze ausgebracht. Nichts davon besaßen wir. Von außen mag es verrückt ausgesehen haben, als wir mit Auto und Anhänger langsam über das Feld ruckelten. Mit einem Schlauch und einer Gießkannentülle verteilte ich die Flüssigkeit aus einem 1000-Liter-Tank vom Hänger aus. So fuhren wir über mehrere Tage die Fläche Stück für Stück ab – und das alle vier bis sechs Wochen, bis zum Einsetzen des Frostes.
Im Herbst desselben Jahres brachte ich zudem Saatgut aus: eine Mischung verschiedener Grassorten als Pferdeweide, dazu Wildkräuter, Esparsette, Luzerne, Pharcelia – alles per Hand auf insgesamt über drei Hektar Fläche! Die Einsaat war für mich wie eine Art Meditation mit dem Land: Jeweils kurz vor einem Regen zog ich los und schritt ein Stück ab, mit Stecken als Orientierungshilfe auf der noch kahlen Fläche. Mit der umgehängten Saatschale vollführte mein Körper wie von selbst die Bewegungen, die nötig sind, um das Saatgut mit der Hand auszubringen. Ich hatte noch nie in meinem Leben auf diese Art gesät und erst recht nicht auf solch großer Fläche, doch es war, als würde etwas in mir sich rückverbinden mit denen, die vor langer Zeit über das Land gezogen waren, um Saatgut auszubringen. Mein Körper schien genau zu wissen, was er tat – auch wenn mein Verstand immer wieder zweifelnd fragte, ob ich hier nicht einfach nur auf einer riesigen Fläche die Wildvögel fütterte.
Ich nahm mit jeder Handvoll Saatgut, das ich zu Boden regnen ließ, gleichzeitig tiefen Kontakt zum Land auf; so, als würde uns von nun an ein unsichtbares Band verbinden. Zum ersten Mal seit vielen Jahren des Umherziehens bekam ich ein Gefühl davon, wirklich anzukommen, ja, buchstäblich Wurzeln zu schlagen: Mit jedem Samenkorn, das ich säte, mit jedem Baum und Busch, den wir später pflanzten, verband ich mich mehr mit diesem Land, nahm es mit jeder Zelle in mich auf. Im Gegenzug trug das Land mich, hielt mich, gab mir Schutz und förderte mich gleichzeitig auf eine bislang ungekannte Weise. Ich fühlte stark, dass wir für dieses Land die Verantwortung trugen.
Schutz bot mir das Wissen, dass dieser Flecken Erde uns gehörte, ich hier jederzeit sein durfte und sogar Dinge ausprobieren konnte, die von außen betrachtet merkwürdig wirken mochten. Ich entdeckte mein eigenes Potenzial im Umgang mit dem Land und erfuhr im Tun, dass ich auch ohne Ausbildung zur Landwirtin hier sinnvoll wirken konnte.
Vertrauen hilft
Daneben gab es selbstverständlich auch große Herausforderungen, die uns sehr verunsicherten und unser Vertrauen forderten: Nach dem unglaublich nassen ersten Jahr mit dem Land folgten zwei so trockene heiße Sommer, dass es ein Wunder war, dass die jungen Bäume überlebten. Die Wiese glich eher einer trockenen, kargen Steppe als einer blühenden Landschaft. Es kamen Mengen an Raps und Weizen hoch, aber nur wenig von den von uns gesäten Gräsern und Kräutern.
Wir wässerten, sensten, schnitten, mähten, säten nach – wir taten alles, was wir aktiv tun konnten. Von Anfang an haben wir zudem der Natur vertraut, haben daran geglaubt, dass die Fläche irgendwie ins Gleichgewicht kommen würde. Im ersten Jahr war, wie gesagt, viel Ausfallgetreide aufgegangen. Was tun? Wir wollten doch weg von den Ackerkulturen! Wir ließen es stehen und schließlich kamen Trupps von Vögeln und fraßen die Körner.
Wir unterstützten, wo es uns nötig erschien; begrenzten beispielsweise die Ausbreitung des Raps, indem wir ihn vor der Blüte abschnitten. Und wir zogen uns an anderer Stelle zurück, um der Natur Raum und Zeit zu geben. Wir lernten Empathie von diesem Land, wirkliches Einfühlen und Hinspüren. Und wir lernten, dass wir nicht andauernd aktiv sein müssen, dass wir Situationen stehen lassen können, auch wenn sie uns in dem Moment nicht gefallen. Die Zeit würde sie wandeln.
Ich spürte eine tiefe Sehnsucht und auch Dringlichkeit, eine spirituelle Dimension in unserem Sein mit dem Land mit einzubeziehen. So kreierten wir Rituale der Verbindung, des Dankens und Bittens: Rituale, die den Weg in die Heilung ermöglichten – nicht nur für das Land, sondern auch für uns und die Tiere, die Pflanzen und alle Wesen. Wir begaben uns auf angeleitete schamanische Gedankenreisen, räucherten, musizierten oder waren in Stille auf der Fläche, ohne etwas zu tun.
Den spirituellen Aspekt in unserem Tun und Sein mit einzubeziehen, ist für uns westlich-verstandesgeprägte Menschen immer wieder eine Herausforderung: zu lauschen, was das Land wünscht; Hingabe; ein liebevolles Miteinander-Sein, die Magie, das Nicht-Erklärbare; unsere Vision einer blühenden Landschaft mit zufriedenen Tieren und Menschen einzuladen, damit der Weg für Heilung und Wunder geebnet wird. Dafür mussten wir ausgetretene Pfade verlassen, uns im Nichtwissen üben und uns auf Unbekanntes einlassen, denn dieser Weg ist durchaus abenteuerlich, nicht vorhersehbar und mit dem Verstand alleine nicht zu erfassen. Unsere Herde hat uns dabei immer wieder den Weg gewiesen durch ihre tiefe Verbundenheit mit dem ursprünglichen Sein und dem Nicht-Erklärbaren. Es war Kora, die Leitstute, die mich dazu brachte, jemanden zu finden, der mit uns Rituale für das Land durchführte. Sie hatte Bereiche auf der Fläche, wo sie absolut nicht hingehen wollte, und sie kränkelte seit ihrer Ankunft ohne klare Diagnose. Insbesondere durch ein Ritual, bei dem wir gedanklich weit reisten und sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verwoben, hat sich unser Leben verändert – und dieser Prozess ist bis heute nicht abgeschlossen.
Indem die Herde sich von dem ernährt, was auf dem Land wächst, transformiert sie es, düngt es über ihre Ausscheidungen und ernährt damit wiederum unzählige Bodenorganismen. Mist wird zu fruchtbarem Dünger, auf dem Gemüse wachsen kann, das uns Menschen ernährt. Wildkräuter auf der Wiese ernähren unzählige Wesen, nicht nur die Herde und uns Menschen.
Ich übe mich in Demut vor all diesen sichtbaren und unsichtbaren Kreisläufen und bekomme erst sehr langsam ein Gefühl dafür, was es heißt, mit dem Land zu leben, nicht von ihm oder auf ihm, sondern wirklich und wahrhaftig miteinander zu sein, eingewoben in den Kreislauf des Lebens. Wir stehen noch ganz am Anfang, dieses Potenzial überhaupt nur zu erfühlen, hier gibt es noch so vieles zu lernen. Doch ich merke schon jetzt, dass es zutiefst nährend ist, erdend und fördernd, auf diese Art und Weise zu sein.
Für mich ist klar geworden, dass unser Land eine Seele hat, so, wie jedes Land, jeder Wald, jeder Ort und jedes Wesen eine Seele hat. Es schmerzt mich, dass wir in einer Zeit leben, in der diese Seelen nicht gewürdigt werden.
Letztens sah ich eine Dokumentation, in der am Ende gezeigt wurde, wie Gemüse in futuristischen Hallen gezogen wird: unglaubliche Mengen an immer gleich aussehenden Pflanzen, die nie den Boden berühren, weil ihre Wurzeln in einer künstlichen Nährflüssigkeit wachsen. In dieser sterilen Welt betreuen Laborantinnen mit weißen Kitteln und Einweghandschuhen die Pflanzen. Technisch gesehen, können wir uns so ernähren und riesige Mengen an Nahrungsmitteln produzieren – doch nährt dieses Essen unsere Seele? Und wie ergeht es der Seele des Salats, der auf diese Weise angebaut wird? Was passiert mit der Seele des Spinats, der auf diese Weise wachsen muss? Haben die perfekten, immer gleich aussehenden Tomaten überhaupt eine Seele? Wie sehr wird unsere Seele verkümmern, wenn wir nicht mehr die Hände in lebendige Erde legen, uns nicht mehr »dreckig« machen, um das Leben in unseren Händen zu spüren?! Wenn wir nur noch über Bildschirme wischen, um diese angeblich perfekten Nahrungsmittel zu bestellen, die – wie es in Peking bereits Realität ist – von selbstfahrenden Fahrzeugen ausgeliefert werden?
Ich möchte einen anderen Weg gehen und nähre dabei die Hoffnung, dass viele Menschen entdecken werden, wie es sich anfühlt, in diese Verbindung zu gehen: die Rinde eines alten Baumes ertasten, die Hand über das flauschige Fell eines Tieres streichen, den Boden berühren und in Kontakt sein mit all unseren Sinnen, damit wir das pulsierende Leben und die Schönheit, die darin enthalten ist, wahrnehmen können. //
Patricia Christmann (49) lebt auf Hof Amalion in der Uckermark, wo sie unter anderem erforscht, wie ein gutes Leben für alle mit der mehr-als-menschlichen-Gemeinschaft möglich ist. www.hof-amalion.de