von Christiane Wilkening, erschienen in Ausgabe #70/2022
Es war nicht immer so: Übernutzung, Raubbau, Ausbeutung, Vermüllung … Alternativlosigkeit und Verzweiflung: Wie soll das weitergehen? Die uns selbstverständliche lineare Wachstumswirtschaft und Wegwerfgesellschaft sind neueren Datums und die bekannten Folgen hausgemacht. In ihrem etwas anderen Geschichtsbuch konzentriert sich Annette Kehnel auf die zwei Jahrtausende vor der industriellen Revolution und stellt Beispiele gelungenen Wirtschaftens und Krisenmanagements vor, aus denen wir für die heutige Zeit lernen können. Damit will sie ihre Leserinnen und Leser jedoch nicht zurück ins Mittelalter beamen! Es geht ihr darum, aus den Erfahrungen früherer Jahrhunderte Inspirationen zu gewinnen und die Grenzen festgefahrener Denkmuster zu überwinden. Wir brauchen eine neue Erzählung darüber, wie wir Menschen in den vergangenen 1000 Jahren gelebt haben – war es wirklich finsteres Mittelalter oder waren es doch eher gut organisierte nachhaltige Gesellschaften?
Anhand neuester Studien erzählt Annette Kehnel eine Geschichte des Teilens und der Kooperation im Mittelalter. Klöster werden als Gemeinschaften mit detaillierter Erfahrung in »Sharing Economy« vorgestellt, die Ressourcen kollektiv nutzten und damit anderthalb Jahrtausende Erfolgsgeschichte im gemeinsamen Wirtschaften und in der Organisation des Zusammenlebens geschrieben haben: flexible Arbeitsorganisation, Kleiderkreisel, Selbstversorgung - teilen macht reich. Und die Geschichte der Commons zeigt, dass Kooperation glücklicher macht als Eigennutz. Was wir als Upcycling, Tauschringe und Secondhandläden für moderne Erfindungen halten, war für unsere Altvorderen normaler Alltag: Reparaturgewerbe und Secondhand-Ware dominierten die Märkte, wenn diese auch damals schon nicht im Interesse der Produzenten von Neuwaren waren.
Ein immer noch viel zu wenig bekanntes Bild von mittelalterlichem Frauenleben zeigt die Autorin mit den erstmals im Flandern des 13. Jahrhunderts auftauchenden Beginenhöfen: Selbständige Frauen(wohn-)gemeinschaften bereicherten das städtische Leben über Jahrhunderte als Expertinnen der Nachhaltigkeit mit ihren Gärten und Betrieben; als Kreditgeberinnen hielten sie zudem den städtischen Kapitalfluss am Laufen. Themen sind unter anderem die Geschichte der Mikrokreditbanken in Oberitalien im 15. Jahrhundert, die Lebensweise der Minimalisten oder Projektfinanzierung über Spenden und Stiftungen sowie ihr Einfluß auf die Stadtplanung und Künstler der Renaissance wie Raffael und Michelangelo. In jedem Kapitel wird an farbigen Beispielen gezeigt, wie kreativ und präzise unsere Vorfahren mit Krisen und Geldknappheit umgegangen sind – und was für praktikable Lösungen sie gefunden haben. »Es tut gut, hin und wieder das Gespräch mit den Alten zu suchen«, schreibt die Autorin: Wir müssen nicht warten, bis es noch schlimmer kommt, bevor wir Veränderungen zulassen.
Das Buch bietet eine spannende Lektüre und ermutigt dazu, Abschied von der Alternativlosigkeit zu nehmen und in der Vergangenheit Anregungen für eine kreative, sparsame, lebenswerte Zukunft zu finden.
Wir konnten auch anders Eine kurze Geschichte der Nachhaltigkeit. Annette Kehnel Blessing, 2021 496 Seiten ISBN 978-3896676795 24,00 Euro