Buchtipps

Matriarchale Gesellschaften der Gegenwart/Geschichte matriarchaler Gesellschaften und Entstehung des Patriarchats (Buchbesprechung)

von Matthias Fersterer, Anja Marwege, erschienen in Ausgabe #70/2022
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Allen, die den Abschnitt »Wir betreten eine verbotene wissenschaftliche Zone und diskutieren die Möglichkeit jungsteinzeitlicher Matriarchate« in Kapitel sechs von David Graebers und David Wengrows wegweisendem Buch »Anfänge« gelesen haben und mehr erfahren wollen; allen, die sich fragen, wie es eigentlich sein kann, dass die beiden Autoren eines populären Sachbuchs mit dem verheißungsvollen Titel »Die Wahrheit über Eva« es schafften, 700 Seiten zur Geschichte und Kritik des Patriarchats zu schreiben, ohne auch nur ein einziges Mal auf die Erkenntnisse der Matriarchatsforschung einzugehen und Matriarchaten sogar jegliche historische Grundlage absprechen; und allen, die ernstlich daran zweifeln, dass der Krieg wirklich der »Vater aller Dinge« (Heraklit) und die europatriarchalische Geschichtsschreibung das Maß der Dinge sei – all jenen sei die Lektüre von Heide Göttner-Abendroths Trilogie »Das Matriarchat« empfohlen. Als Einstieg ins Thema bieten sich zudem die in Ausgabe 61 und 62 erschienenen Oya-Gespräche mit der Autorin an.

Mit dem Erscheinen des dritten Bands 2019 wurde die Trilogie vervollständigt, und nun wurden auch die ersten beiden Bände in Neuauflage herausgebracht. Das dreibändige Werk enthält das über ein halbes Jahrhundert zusammengetragene Lebenswerk der Matriarchatsforscherin. Sie beschreibt neben matriarchalen Gesellschaften der Gegenwart – in Ostasien, Indonesien, und Ozeanien (Band 1) sowie in Amerika, Indien und Afrika (Band 2) – nicht nur die Geschichte matriarchaler Gesellschaften in Westasien und Europa, sondern auch die Entstehung des Patriarchats (Band 3). Bezeichnenderweise gibt es keinen Band zu gegenwärtigen matriarchalen Gesellschaften in der westlichen Welt, denn diese existieren nicht; wohl gibt es hier aber matriarchale Wurzeln, von denen jahrtausendealte Relikte wie Hügelgräber, Dolmen und Erdbauten noch heute zeugen.

Heide Göttner-Abendroth fächert in ihrer mit akribischem Fleiß zusammengestellten Trilogie ein breites Panorama an Lebensweisen auf, die sich organisatorisch, religiös und erbrechtlich an der Mutterlinie orientieren. Der aus dem Altgriechischen gebildete Begriff »Matriarchat« kommt nicht von árchein, »herrschen«, sondern von archē, »Anfang«. »Matriarchat« konzipiert sie somit nicht als »Herrschaft der Mütter«, sondern als »am Anfang waren die Mütter«. Sie will damit dem bis heute verbreiteten patriarchalen Denken in Archäologie und Ethnologie etwas entgegensetzen und bestreitet die immer noch weitverbreitete Annahme, dass die patriarchale, heterosexuelle Kleinfamilie eine immer schon dagewesene menschheitsgeschichtliche Konstante sei.

Matriarchale Lebensweisen spielen bis heute kaum eine Rolle in den hiesigen Geschichtsbüchern. Das ist kein Wunder, denn auch in der archäologischen oder historischen Forschung beeinflussen persönliche Prägungen und Einstellungen die Interpretationen materieller und textlicher Quellen – und bis in die 1980er Jahre forschten vor allem Männer auf diesen Feldern. Heide Göttner-Abendroths Trilogie kann als balancierendes Element zur zumindest im gesamten 20. Jahrhundert üblichen Einseitigkeit einer Rückprojektion patriarchaler Verhältnisse auf jede Vergangenheit betrachtet werden. Darin ist auch ihr großes Verdienst zu sehen: anhand von tausenden Betrachtungen, Quellen und Textfragmenten zu zeigen, dass alles auch ganz anders hätte sein können und dass Menschen möglicherweise ganz anders gelebt haben, als es allgemein angenommen wird – und es teilweise immer noch tun. Durch die Schlussfolgerungen der Autorin wird sicht-, denk- und fühlbar, dass es weltweit egalitäre Gesellschaftsformen gegeben hat und gibt, in denen die Mütter im Zentrum stehen und egalitäre Formen das Zusammenleben, das Wirtschaften, die Kommunikation und alle anderen Bereiche des gesellschaftlichen Lebens prägten und heute noch prägen.

Obwohl Heide Göttner-Abendroths Forschung kaum Anschluss an die akademische Welt gefunden hat, hat sie doch zahlreiche Diskurse in Kunst, Literatur (siehe Rezension links gegenüber) und Feminismus nachhaltig beeinflusst und auch heutige matriarchale Lebensweisen inspiriert, so etwa in Rojava (Seite 52). Ihr Werk kann auch Anstöße dazu geben, im Geschichtsunterricht nach anderen Interpretationsmöglichkeiten zu suchen und andere Geschichten zu erzählen: Was wäre, wenn nicht Helden, Herrscher und Kriege das Bild des Geschichtsfachs prägten, sondern stattdessen Geschichten vom Sammeln, Gebären und Hüten? Welche Auswirkungen hätte das auf die Geschichten, die wir selbst einmal erzählen werden? Auch in Museen und auf den Informationstafeln historischer Stätten könnten egalitäre Gräberkulturen, Göttinnen-darstellungen und das Leben in Langhäusern als Teil matriarchaler Lebensweisen benannt werden.

Es ist dem Kohlhammer-Verlag hoch anzurechnen, dass er die nun abgeschlossene Trilogie in zeitgemäßer Ausstattung herausgebracht hat.  


Matriarchale Gesellschaften der Gegenwart
Band I: Ostasien, Indonesien, Pazifischer Raum.
Kohlhammer, 2021
264 Seiten
ISBN 978-3170376991
39,00 Euro

Matriarchale Gesellschaften der Gegenwart
Band II: Amerika, Indien, Afrika.
Kohlhammer, 2022
290 Seiten
ISBN 978-3170393820
39,00 Euro

Geschichte matriarchaler Gesellschaften und Entstehung des Patriarchats
Band III: Westasien und Europa.
Kohlhammer, 2019
448 Seiten
ISBN 978-3170296305
36,00 Euro

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