Von Zwiegesprächen mit Weggefährtinnen, Ahnen und Überlebenskünstlerinnen zu biografischen Stationen auf dem Weg zu einem guten Leben für alle.von Matthias Fersterer, Andrea Vetter, Anja Marwege, Luisa Kleine, erschienen in Ausgabe #71/2022
Zum letzten Mal erscheint Oya mit dieser Ausgabe im gewohnten Gewand. Da liegt eine Rückschau auf das bisher Gewesene nahe: So betrachten wir in dieser Ausgabe die Geschehnisse der gegenwärtigen Zeit durch die Augen jener, die sich schon lange auf dem Weg hin zu lebensdienlichen Denk- und Seinsweisen befinden – manche seit fünfzig, andere seit bald neunzig Jahren.
Die Gespräche auf den folgenden Seiten zeichnen die Lebenswege von sechzehn Menschen nach, die Oya als Ganze oder einzelne Mitglieder des Redaktionskreises wesentlich geprägt haben – sei es durch das Geschenk inspirierender Denkbewegungen, durch die Mitwirkung an einzelnen Artikeln oder Ausgaben, sei es in unserem Rat oder Hütekreis: Oya-Gründerin Lara Mallien und Oya-Rat Johannes Heimrath, die ehemalige Hüterin der Bildungsrubrik Anke Caspar-Jürgens, die Ratsleute Veronika Bennholdt-Thomsen, Claus Biegert, Hildegard Kurt, Werner Küppers, Friederike Habermann, Michael Succow und Andreas Weber, die Oya-Hütenden Katrin Kurzmann, Hinnerk Brockmann und Sybille Voelker sowie Frigga Haug, Declan Kennedy und Sucha Gesina Wolters, die uns inspiriert, beflügelt und geprägt haben.
Wegweisende Begegnungen
Im Herbst 2022 besuchten wir sie an ihren Lebens- und Wirkorten – in Gemeinschaft, in einem genossenschaftlich verwalteten Neubau, auf dem Marktplatz, im ehemaligen Elternhaus oder einer anderen langjährig und liebevoll geschaffenen heimatlichen Behausung, draußen in einem hingebungsvoll gehegten Garten, einem enkeltauglich bestellten Acker, einem liebgewonnenen Waldstück oder einem nahegelegenen Fluss. Durch das Zwiegespräch – meist zu zweit und mal auch zu dritt geführt – fanden vollumfängliche Begegnungen – von »Einzelmensch zu Einzelmensch«, wie Werner Küppers es ausdrückte – statt. Wir folgten keinem vorgefertigten Plan, keinem festgelegten Schnittmuster, keiner bestimmten Dramaturgie oder Fragetechnik; stattdessen improvisierten wir an den Orten des Geschehens und ließen uns auf das ein, was da war. Bezeichnend dafür ist die Entstehungsweise der eindrucksvollen Porträts, die Fotografin und Hütekreismitglied Annett Melzer für diese Ausgabe aufgenommen hat.
Beim Hoffest des Hütekreises haben sich Redaktion und Annett, die zuvor bereits mit Redaktionsmitglied Anja Marwege gearbeitet hat, näher kennengelernt. Die Aufnahmen für das Titelbild fanden wenige Tage vor Drucklegung dieser Ausgabe statt. Der auf dem Titel abgebildete Weg zeigt eine durch Wasser entstandene wendländische Schlucht, die vom Höhenzug Drawehn hinunter in die Elbtalaue führt – einige hundert Meter weiter strömt die Elbe. Die Schlucht beginnt mit einem Wiesenweg und endet mit einem schmalen Sandpfad. Viele Generationen sind diesen Weg, den das Wasser geebnet hat, bereits gegangen und viele weitere werden ihn wohl noch gehen; dabei ist der Weg der gleiche und doch jedes Mal ein anderer, so wie auch ein jedes Menschenleben dieselben Phasen durchläuft und doch kein Lebensweg dem anderen gleicht – und Wege sich mitunter so schlängeln und winden, dass unvorhersehbar ist, was sich gleich hinter der nächsten Wegbiegung verbirgt!
Geführte und nicht geführte Gespräche
Die in dieser Ausgabe befragten Personen bilden nur einen kleinen, sehr spezifischen Teil der Suchen nach enkeltauglichen Lebenspraktiken ab: die Perspektiven aller Interviewenden wie auch aller Interviewten ist die einer weißen, aus Europa kommenden Person; fast alle haben studiert; viele, wenn auch nicht alle, kommen aus eher wohlhabenden Familien.
Alle sind durch die Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs, der Nachkriegs- und Wirtschaftswunderzeit, des Aufbaus des real existierenden Sozialismus und der sich verschärfenden Weltvernutzung und Klimakrise geprägt. Und doch haben sie alle einen unterschiedlichen Weg durch ähnliches und oft auch sehr unterschiedliches Terrain zurückgelegt.
Wir bedanken uns ganz herzlich bei all jenen, mit denen wir so intensive Gespräche führen durften und die uns so offen und bereitwillig aus ihrem Leben erzählt haben. Ebenso bedanken wir uns bei all jenen, die uns im Lauf der Jahre mit Rat, Tat und Inspiration zur Seite gestanden haben, ohne dass wir im Rahmen dieser Ausgabe mit ihnen hätten sprechen können. – Danke!
Andere Menschen, die wir gern interviewt hätten, leben nicht mehr: die Commonsforscherin Silke Helfrich (1967–2021), die kalifornische Literatin Ursula K. Le Guin (1929–2018), der ober-bayerische Schriftsteller Michael Ende (1929–1995), die südbadische Mutter, Großmutter und Aktivistin Frieda Bieselin (1932–2021; siehe »Zu Besuch bei Frieda Bieselin«, Oya 37), der alemannisch-englische Erzähler W.G. Sebald (1944–2001; siehe »Meister der Melancholie«, Oya 11), die aus den Südstaaten der USA kommende feministische Autorin bell hooks (1952–2021) oder der Pinzgauer Almbauer Matthias Schwaiger (1916–1957; siehe »Es lebe die Lassenskraft!«, Oya 42).
In den Gesprächen wird auch deutlich, wie sehr gerade Frauen sich Handlungsspielräume erst erkämpfen mussten, und wie viel Zurückweisung, Doppelbelastung und Schuldgefühle damit einhergingen, im 20. Jahrhundert eine Frau in Gesellschaften europatriarchaler Prägung zu sein! Viele der geschilderten Erfahrungen wären heute so nicht mehr denkbar: Wie viele der für diese Ausgabe interviewten Frauen hätten nicht studieren dürfen, wenn es nach deren Vätern gegangen wäre? Wie viele der interviewten Personen erhielten quasi oder de facto ein Berufsverbot aus politischen Gründen? Wer wurde im Namen des Sozialismus in Ermangelung eines »gefestigten Klassenstandpunkts« entlassen? Wem wurden Lehrstühle und Arbeitsplätze verwehrt, weil sie entweder zu marxistisch oder nicht marxistisch genug, zu feministisch oder nicht feministisch genug waren? – Die Antworten finden sich auf den nachfolgenden Seiten.
Bei den Gesprächen folgten wir unseren Gegenübern auf Reisen durch Orte und Zeiten – mit Stationen in der DDR, der BRD, Irland, Schottland, England, Italien, Mexiko, den USA und vielen weiteren Orten. Wie immer stehen jedem der genannten Orte zahllose nicht genannte Orte entgegen, viele davon an den Rändern unserer zerstörerischen Zivilisation.
Lichtpunkte und Gegenbewegung
Die geführten Gespräche machen etwas greifbar, von dem in Schulunterricht und Geschichtsbüchern kaum die Rede ist – die Geschichte der sozialen Bewegungen, der offenen Revolten, der mühseligen Schnittstellenarbeit, der Dissidenz und des Desertierens, des Aufbaus von Freiräumen und des Einrichtens von Nischen, der politischen Einmischung, der theoretischen Grundlagenarbeit, des Beharrens auf der Möglichkeit eines guten Lebens, so gut dies eben innerhalb der bestehenden – langsam zerfallenden – lebensfeindlichen Strukturen möglich ist.
Das Graben in der Vergangenheit der Bewegungen, die für das Leben streiten, ist mitunter eine dreckige, gruselige und traurige Angelegenheit. Die Geschichte dieses Streitens ist keine heldenhafte – doch gerade deshalb kann sie immer wieder auch wunderschön, lebendig und sinnhaft sein. »Der Kampf für das Leben ist das Leben selbst«, erzählte Oya-Rätin Friederike Habermann über ihre Erfahrung in der sich Ende der 1990er Jahre formierenden Globalisierungsbewegung, und fuhr fort: »Für das Leben zu kämpfen, fühlt sich einfach lebendig an.«
Immer wieder fingen die Augen unserer erzählenden Gegenüber an zu leuchten. Zwischen den Berichten von Gewalt gegen Protestierende, politischen Repressalien gegen freie Geister, Zersetzung von Bewegungen, Überforderung durch den Gemüse-garten im Nirgendwo wurde uns immer wieder auch von Lichtpunkten berichtet – manchmal taten sich wie aus dem Nichts ungeahnte Möglichkeitsfenster auf, oft waren es jedoch kleine, eher unscheinbare Momente. Manchmal hielten wir Lauschenden den Atem an, wenn es in der erzählten Lebensgeschichte ganz düster wurde, bevor eine unvorhersehbare Wendung mit einem Mal Licht ins Dunkel brachte.
Ältere und Jüngere
In unserem Nachdenken über diese Ausgabe tauchte immer wieder der Begriff der »Ältesten« auf. In anderen kulturellen Zusammenhängen ist dieser weit geläufiger als in unserem, eher von Gräbenkämpfen und Unverständnis zwischen den Generationen geprägten. Wie können wir diesen Begriff in einer Gesellschaft, in der es kaum noch gewachsene Ältesten-Traditionen gibt, angemessen verwenden? Und woran genau lässt er sich festmachen? Er findet Zuspruch bei Menschen, die auf eine respektvolle, wertschätzende Haltung den älteren Generationen gegenüber pochen; und er stößt oftmals auch auf Ablehnung, wenn er als Deutungshoheit, gemessen in gelebten Jahren, verstanden wird.
Wie können Menschen verschiedener Generationen einander respektvoll in dem vorausliebenden Vertrauen begegnen, dass alle es gut miteinander meinen, und alle willens und fähig sind, voneinander zu lernen, für einander einzustehen und die je persönlichen Geschenke miteinander zu teilen? Oftmals ist dabei von gleicher Augenhöhe die Rede – wie aber können wir damit umgehen, wenn die Blickhöhe eben nicht dieselbe ist, weil die eine erst zu laufen lernt, während der andere in der Mitte seiner Jahre steht und die materielle Substanz der Dritten am Lebensabend zusehends abnimmt?
Beim Nachsinnen über diese Fragen kam uns das Bild der baumgroßen Riesinnen, auf deren Schultern wir stehen, und in deren mächtiger, knorriger Krone wir klettern, um durch einen Perspektivwechsel in der Weite der umliegenden Landschaft Orientierung zu finden. Welche Äste fühlen sich dabei tragend, welche morsch an? Was können jüngere von älteren Generationen lernen – und wie lässt sich dieses Gelernte in ganz eigene, hier und heute stimmige Bewegung übersetzen, sortieren, neu erfinden, loslassen, weiterentwickeln?
Einverständnis heißt nicht Billigung
Bei aller Fassungslosigkeit über die Monstrosität unserer historischen Gegenwart im Spätpatriarchat – jener »scheußlichsten Zeit«, wie Frigga Haug sie nannte – schimmert in allen Gesprächen immer wieder erfahrene und verkörperte Lebensweisheit durch sowie oft auch ein Einverstandensein mit dem, was ist – »Einverständnis heißt nicht Billigung«, wie Oya-Rat Johannes Heimrath betont – und die tastende Erkenntnis: Was wir brauchen, ist da – wir müssen es nur sehen, ergreifen, verbinden. Dazu gehört es auch, zu erkennen, dass es zwar eine unendliche Vielfalt an potenziell möglichen Wegen gibt, aber nur genau einen Weg, der hier und jetzt begangen werden kann – und im Fall von zuvor wenig oder gar nicht begangenen Richtungen müssen die jeweiligen Wege auch erst geschaffen werden.
Nun möchten wir Sie und euch, liebe Leserin und lieber Leser, dazu einladen, die spannenden, berührenden, erschütternden und hoffnungsvollen Lebensgeschichten auf den folgenden Seiten nachzuvollziehen und dabei vielleicht im Inneren auch selbst einmal die Fragen zu bewegen, die wir unseren Gegenübern im Gespräch gestellt haben, oder diese an Menschen, die Ihr und euer Leben geprägt haben, zu richten: Was hast du erlebt? In welche Zeit wurdest du hineingeboren? Wie hat sich dein Tun in der Welt verändert? Wie ist es dir gelungen, den Mut nicht zu verlieren? Woraus schöpfst du Kraft, weiterzumachen? Wie geht es für Sie und dich weiter? – Welche Antworten finden Sie, findet ihr? Lässt sich etwas davon mit anderen teilen? Dann freuen wir uns darauf, von Ihnen und euch zu hören! //