Titelthema

Für das Leben streiten

Die Historikerin und Ökonomin Friederike Habermann erzählte Luisa Kleine von wegweisenden Begegnungen in der Globalisierungsbewegung – und warum sie trotz allem hoffnungsvoll bleibt.von Friederike Habermann, Luisa Kleine, erschienen in Ausgabe #71/2022
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© annett-melzer.de

Luisa Kleine  Warst du eigentlich schon immer ein politischer Mensch, Friederike?

Friederike Habermann  Im Grunde war ich schon vor der Einschulung voll politisiert, weil meine Mutter so politisch war. Sie war in den 1960er Jahren mit uns Kindern zu Hause, mit all den Entrechtungen, die es damals für Frauen in der Bundesrepublik gab. Das war für sie wie eine Versklavung und prägte das Grundgefühl, mit dem ich aufwuchs: dass etwas grundverkehrt läuft.

Sie hat mich feministisch geprägt, aber auch für andere Unterdrückungsformen sensibilisiert. Als der Club of Rome 1972 »Die Grenzen des Wachstums« veröffentlichte, erzählte mir meine Mutter davon. Ich war fünf. Oder: Ungefähr im selben Alter habe ich einen Spielfilm über Rassismus in den USA gesehen. Solche Sachen haben sich in mir eingebrannt.

LK  Wie ging es dann zur Schulzeit weiter?

FH  Mit elf wollte ich Biobäuerin werden, mit zwölf Politikerin. Weil die Leute dann allerdings immer komisch guckten, sagte ich etwas später »Journalistin«. Gleichzeitig wurde ich in der evangelischen Jugendgruppe politisch aktiv, wo alle ein paar Jahre älter waren als ich. Die erste Demo, auf die ich ging, war eine Anti-Atom-Demo, aber ich beschäftigte mich damals auch mit dem Nord-Süd-Konflikt. Mit 15 habe ich die Friedensbewegung in meiner Gegend mit aufgebaut und Blockade-Trainings gegen Atomwaffen mit organisiert.

LK  Fand deine Mutter das gut?

FH  Ja! Und mein Vater sagte nur: »Ist der Ruf erst ruiniert, lebt sich’s gänzlich ungeniert.« Ich bin damals strategisch vorgegangen, habe in der Schule Latein gewählt, damit ich später Geschichte studieren konnte. In den 1980er Jahren war ich Bundesschülersprecherin und habe die »Diffusis« – alle von grün bis autonom – vertreten. Ich war wohl nicht besonders erfolgreich: Regelmäßig wurde ich »über den Tisch gezogen«, wie das damals im strategischen Gegeneinander der Strömungen hieß.

Nach der Schule hatte ich erstmal genug von dieser Art, Politik zu machen, und bin mit einer Freundin nach Asien gereist. Das war eine tolle Zeit für mich. Gleichzeitig erlebte ich, mit wie wenig viele Menschen leben müssen. Nach einem Jahr kam ich mit dem Gefühl nach Hause, dass ich in Deutschland keine finanziellen Ängste haben muss. 

Ich fing in Hamburg ein Doppelstudium in Volkswirtschaft und Geschichte an. So kam ich in die autonome Szene, die ich als Vorläuferin meiner jetzigen Bewegung sehe. Wir glaubten, bereits alle Herrschaftsverhältnisse zu reflektieren, aber die Beschäftigung mit Rassismus steckte damals noch in den Kinderschuhen, und Ökonomie spielte kaum eine Rolle. Aber es ging schon darum, die Utopie im heutigen Leben vorwegzunehmen.

LK  Wie dachtest du damals, dass sich die Welt verändern ließe?

FH  Bis zum Ende meines Wirtschaftsstudiums 1995 habe ich an Reformen geglaubt. Erstaunlicherweise war der Kapitalismus bis dahin für mich unhinterfragbar. Nach dem Abschluss bin ich zur Zeitung »junge Welt« gegangen, die ursprünglich in der DDR die Tageszeitung für junge Menschen war. Als Ökonomin habe ich sofort die Ressortleitung bekommen, wurde aber nach einem halben Jahr entlassen, weil ich nicht marxistisch genug gewesen sei. Das lag nicht zuletzt an den intersektionalen Themen – also den Verschränkungen von Unterdrückungsformen wie Rassismus und Sexismus –, die ich in den Wirtschaftsteil einbrachte.

1996 folgte ich dem Aufruf der Zapatistas zu einem weltweiten Treffen im Urwald von Chiapas, Mexiko. Ich hatte längst von ihrem Aufstand gehört und war fasziniert. Das Camp dauerte zehn Tage, danach blieb ich noch einen Monat im Urwald, und fuhr bis 2000 jedes Jahr wieder hin. John Holloway, Massimo de Angelis, Ana Esther Ceceña, Harry Cleaver und Ulrich Brand waren damals in unserer zwanzigköpfigen Ökonomie-Arbeitsgruppe – bis heute tragen diese Menschen die Commons und andere wesentliche Impulse in die Welt.

Abschließend riefen die Zapatistas dazu auf, uns zu einem Netz der Widerständigkeit zu verbinden; daraus entstand die »Peoples Global Action« (PGA) – der Ursprung der Globalisierungsbewegung. Das Netz umfasste Bewegungen aus über 70 Ländern – besonders aus dem Globalen Süden – Menschen, die auf den Philippinen Kleinfischerei betreiben, die in Bangladesch in Textilfabriken arbeiten, in Indien Ackerbau betreiben, in Ecuador Hausangestellte sind oder sich in Kanada in der Postgewerkschaft organisieren. Spätestens da habe ich gelernt, dass wir den Kapitalismus abschaffen müssen – und können!

LK  Wie hast du diese Zeit sonst noch erlebt?

FH  Vieles, was sich später als Bewegungspraktik verbreitete, wurde damals begonnen: die Diskussionskultur mit Handzeichen oder dass darauf geachtet wird, dass Menschen aller Geschlechter und Ethnien gleichermaßen sprechen können, habe ich etwa 1998 in Genf erstmals erlebt. Damals fanden die ersten wirklich global vernetzten Widerstandsaktionen statt: Parallel zur neu gegründeten Welthandelsorganisation und zum 50-jährigen Jubiläum des Freihandelsabkommens GATT gab es nicht nur starke Proteste in Genf selbst, sondern auch in Brasilien zogen 50 000 Land- und Obdachlose in die Hauptstadt und besetzten das Regierungsviertel, während in Indien 200 000 auf die Straße gingen. Doch die Medien haben damals nicht verstanden, dass es ein weltweit koordinierter Protest war.

LK  Dabei hast du als Koordinatorin der europäischen Öffentlichkeitsarbeit von PGA bestimmt gute Pressearbeit gemacht!

FH  In den Medien hierzulande blieben die Proteste im Globalen Süden unsichtbar. Deshalb hat insbesondere die indische Bauernbewegung beschlossen, dann eben ins Herz der Bestie nach Europa zu kommen. Zum Doppelgipfel von EU und G7 in Köln im Juni 1999 reisten 500 Menschen aus Indien und einigen weiteren Ländern als »Intercontinental Caravan« für fünf Wochen auf verschiedenen Routen durch elf Länder Europas. Doch ihre Kapitalismuskritik wurde nicht gehört, allenfalls wurde über ihre Kritik an der Gentechnik berichtet. Als sie zum Abschluss die Mächtigen öffentlich auslachen wollten, wurden sie gekesselt und teilweise festgenommen. Die meisten von ihnen trugen weiße Gewänder und grüne Schals – doch die einzige Zeitung, die überhaupt davon berichtete, schrieb über sie als »Schwarzer Block«. Die Unsichtbarkeit lag nicht an der Entfernung, sondern daran, dass ihre Kritik zu radikal war, um gehört zu werden.

LK  Wie habt ihr auf diese Unsichtbarkeit in der Presse reagiert?

FH  Wir haben uns mit den Protesten gegen die Welthandelskonferenz in Seattle unabhängig von der Presse gemacht, indem wir die Online-Plattform Indymedia eingeführt haben – diese hatte damals mehr Klicks als die CNN-Website! Im November 1999 haben wir in den USA als interkontinentale Mini-Karawane zu den Protesten nach Seattle mobilisiert. Menschen ketteten sich auf den Kreuzungen aneinander, so dass die Konferenz am ersten Tag gar nicht anfangen konnte. Die Autorin Naomi Klein hat diese Proteste die »Coming out Party« der Bewegung genannt.

Die nächsten großen Proteste gab es im Jahr darauf in Prag gegen ein Treffen der »Weltbank« und des »Internationalen Währungsfonds«. Hier arbeiteten wir erstmals mit verschiedenen »Fingern«, also einzelnen Demo-Routen mit verschiedenen Ausrichtungen und Taktiken – etwa explizit queeren in »pink-silver«. Danach verselbständigte sich der Widerstand: Es mussten sich nur ein paar Wirtschaftsminister irgendwo treffen und schon gab es Proteste, ohne dass wir genau gewusst hätten, wer sie organisiert hatte.

LK  Das klingt nach einer Bewegung mit viel Rückenwind. Was passierte dann?

FH  Dann kam der G8-Gipfel in Genua 2001. Donnerstag Demo, Freitag massive Blockade-Aktionen, Samstags wieder eine riesige Demo mit 200 000 Menschen. Ich übernachtete mit meiner Bezugsgruppe in einer Schule, in der auch das Indymedia-Center untergebracht war. Gegenüber lag ebenfalls eine Schule – der Hauptschlafplatz gerade für Gruppen aus Deutschland. In der Nacht von Samstag auf Sonntag sind beide Schulen von Polizisten überfallen worden. Ich war in der Zentrale, als das passierte; Menschen um mich herum schrien wie in Todesangst. Ich sah, wie ein Freund aus dem Fenster sprang, und sprang hinterher. Ich wusste, wir waren umstellt, aber wir beide hatten unfassbares Glück und konnten uns verstecken. In der Morgendämmerung sind wir dann aus unserem Loch herausgekrochen und konnten fliehen. Erst da begriffen wir, was passiert war: Die Polizisten hatten derart auf die Schlafenden eingeprügelt, dass ihre Knochen gebrochen sind. Überall waren Blutlachen. Noch im Krankenhaus wurde weiter geprügelt. Ein Freund von mir war aus der Demo des Vortags rausgezogen und im Gefängnis tagelang verprügelt worden. Er ist bis heute davon traumatisiert. Bei der Demo war ein Mensch erschossen worden – später stellte sich heraus, dass das eine geplante Einschüchterungstaktik gewesen war.

Danach wollten wir einen Schweigemarsch organisieren. Auf mein Stirnband habe ich »Struggle for life is life« geschrieben – es fühlt sich lebendig an, für das Leben zu streiten, egal wie es ausgeht. Aber alle sagten, es sei zu gefährlich, wir sollten nach Hause fahren, so schnell wir konnten. Das haben wir dann auch getan. Das war ein völliger Bruch. Die Bewegung konnte nicht auffangen, was in Genua passiert war.

Bislang war es in den Protesten vor allem darum gegangen, wogegen wir waren. Das änderte sich danach. Die Art, wie wir uns organisierten, rückte stärker ins Zentrum. Ob bei den Protesten in Gleneagles 2005 oder beim G8-Gipfel in Heiligendamm 2007: Am meisten beeindruckte die Menschen – sowohl die Aktiven selbst als auch Anwohnende –, wir wir uns untereinander organisiert hatten. Bei den Occupy-Protesten 2011 wurde dieser Aspekt dann zentral: Die Leute besetzten Plätze und organisierten ihren Alltag dort. Damals hatten wir noch kein Wort dafür, heute würde ich es »Commoning« nennen.

LK  Hattest du bei all diesen Kämpfen Hoffnung, dass die Bewegung das Blatt wenden könnte?

FH  Jedenfalls nicht kurzfristig und allumfassend. Ich glaube, gerade deswegen hatte ich auch so einen langen Atem. Es hat schon damit angefangen, dass meine Mutter mir, auch als ich ungefähr fünf war, sagte: »Die Erde wird sich später wehren.« Ich habe also quasi im Glauben, den heutigen Zustand miterleben zu müssen, angefangen. Gleichzeitig hat sich natürlich unglaublich viel verändert in diesen letzten fünfzig Jahren. Ich muss zum Beispiel nicht leben wie meine Mutter. Und auch nicht wie mein Vater. Queere Lebensweisen haben neue Horizonte eröffnet. Umweltschutz wurde damals erst ein Begriff und später ein gesellschaftlich geteilter Wert. Rassismus wird nicht mehr nur im Fernsehen aus den USA, sondern auch im Alltagsverhalten hier gesehen und thematisiert. Noch in Seattle konnten wir nicht vom »Kapitalismus« sprechen, und auch die Zapatistas hatten zunächst noch »Neoliberalismus« gesagt. Allein dass diese Sprachräume geöffnet und Kapitalismuskritik normalisiert worden sind, ist schon ein Erfolg. Alles verändert sich immerzu. Und immer mehr nehme ich wahr, dass Menschen es nicht mehr normal finden, wenn erwartet wird, dass sie sich unsolidarisch zueinander verhalten.

LK  Was denkst du, wie es weitergehen wird?

FH  Eine grundlegende Veränderung in den sozialen Bewegungen der vergangenen zehn Jahren ist, dass dort eine konkrete Alternative zum Kapitalismus sichtbar wird: Commoning! Ich glaube, dass die drei Wege, die wir als »Netzwerk Ökonomischer Wandel« (NOW–NET) beschreiben – Markt abbauen, Demokratie ausbauen und Commons aufbauen – ein guter Ansatz sind. Vielleicht werden wir uns irgendwann an den Kopf greifen und nicht fassen können, wie wir die Gesellschaft früher an Tausch, Arbeit und Eigentum ausrichten konnten. Die Commons weiten sich immer weiter aus, doch auch die Katastrophen spitzen sich zu. Das Positive und Negative entwickelt sich immer weiter auseinander. Historisch betrachtet, ist das eine klassische dialektische Zuspitzung, die einen Systembruch erst ermöglicht.

Zu Brüchen kommt es ja bereits, sie wirken aber oft nicht emanzipatorisch. Noch vor zwei Jahren hätte ich nicht gedacht, dass die Kriegsbereitschaft wieder so salonfähig wird. Das erschreckt mich. Gleichzeitig sehen immer weniger Leute ein, warum sie ständig lohnarbeiten sollten, nur um dadurch die Wirtschaft wachsen zu lassen, den Planeten auszubeuten und die Konkurrenz und Konzernmacht zu vergrößern. Ich glaube, entscheidend ist, dass wir nicht in Rigorosität verfallen, sondern so viele Leute wie möglich mitnehmen und eine einbeziehende Bewegungskultur pflegen.

LK  Was würde die Friederike von 1995 der heutigen Version ihrer selbst sagen?

FH  Sie hätte sich gewundert, warum ich keinen ordentlichen Beruf ausübe. Ich weiß noch, wie ich 1997 im Fernsehen einen Bericht über einen 47-Jährigen, der noch politisch aktiv war, gesehen habe. Das fand ich erstaunlich, weil es damals kaum ältere Menschen in den Bewegungen gab. Das hat sich verändert, auch wenn es jetzt in der Bewegung keine Massen von Menschen in meinem Alter gibt.

LK  Warum bist du dabeigeblieben?

FH  Weil ich immer tolle Menschen getroffen habe und wusste, dass ich mit ihnen zusammen leben und wirken will. Viele Menschen, die mir wirklich wichtig waren, sind dabeigeblieben. Selbst wenn wir in verschiedenen Ecken der Welt sind, halten uns unsere Beziehungen.

LK  Welche Rolle hat es dabei für dich gespielt, dass du nie tagsüber politisch aktiv warst und abends in eine Wohnung mit Kleinfamilienleben zurückgekehrt bist, sondern immer auch das Alltägliche als politisch verstanden hast – wie in deinen Jahren auf dem Kesselberg oder jetzt im Leinehaufen. Verändert das die Art und Weise, wie du politisch aktiv sein kannst?

FH  Sicher, und das sehe ich auch bei den jungen Menschen in meinem Umfeld. Diese haben es nicht nur als Lebensperspektive, politisch aktiv zu sein. Dadurch, dass ökonomische Strukturen heute bewusster selbstgestaltet werden, hat die Bewegung eine andere Basis. Früher war es ein politisches Wirken und ein Zusammenwohnen auf Zeit. Durch die Vernetzung unserer Lebensorte fühlt sich unser Tun immer zukunftsträchtiger an. Dafür schätze ich übrigens Oya: Ihr öffnet einen Sprachraum ins Es-könnte-auch-ganz-anders-sein, den es sonst so in der Bewegung nicht gibt.

LK  Danke! Und ich merke immer wieder, wie viel ich von dir lernen kann, Friederike! //


Friederike Habermanns Bücher »Halbinseln gegen den Strom« (2009), »Ecommony« (2016) und »Ausgetauscht!« (2018) sind im Ulrike Helmer Verlag erschienen, »Der unsichtbare Tropenhelm« (2013) bei thinkOya, »Geschichte wird gemacht!« (2014) bei Laika.


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