Angesichts wegbrechender Gewissheiten erkundet die Nachhaltigkeitsforscherin Hildegard Kurt vielfältige Formen eines »kreativen Wir«.von Hildegard Kurt, Maria König, erschienen in Ausgabe #71/2022
Maria König Das Zustandekommen unseres Gesprächs war geprägt von Unsicherheiten und spontanen Planänderungen. Daher möchte ich mit folgender durch die vergangene Oya-Ausgabe inspirierten Frage beginnen: »Was gibt dir gerade Sicherheit?«
Hildegard Kurt Danke, dass du dich für diesen Austausch nach Berlin-Kreuzberg bemüht hast, wo ich seit nunmehr fünf Jahren in einem genossenschaftlichen Wohnquartier, dem Möckernkiez, lebe. Die Idee der Genossenschaft ist vor etwa 200 Jahren aus der Arbeiterbewegung hervorgegangen – als Organisationsform, um jenseits von Privatwirtschaft und Staat elementaren Lebensbedürfnissen nachzukommen. Das ist eine Antwort auf die Frage, was mir Sicherheit gibt. Der Möckernkiez entstand aus einer Bürgerinitiative von Menschen mit dem Anliegen, selbstorganisiert und selbstbestimmt Wohnraum zu schaffen. Genossenschaftlich organisiert, konnten sodann 470 Wohnungen für über tausend Menschen gebaut werden – quasi ein Dorf mitten in der Hauptstadt. Alle Mitglieder haben dazu beigetragen, alle sind Pflegende und Nutzende, während zugleich die auf dem sogenannten freien Wohnungsmarkt herrschende Profitdynamik ausgehebelt ist. Ich frage mich wirklich, warum in einer Stadt wie Berlin, wo es kaum noch bezahlbaren Wohnraum gibt, Genossenschaften nicht wie Pilze aus dem Boden schießen.
MK Was mir dazu aus dem Oberlausitzer Dorf, in dem ich aufgewachsen bin, oder von meinen Reisen durch Ecuador und Peru einfällt, ist, dass Menschen sich im Kleinen oft ganz selbstverständlich informell organisieren, ohne das groß zu thematisieren oder in einen offiziellen Rahmen zu setzen.
HK Sicher, doch kann ein Wohnungsbauprojekt mit einem Volumen von 120 Millionen Euro kaum informell zustande kommen. Wir mussten Schnittstellen zwischen unserer Vision eines gemeinschaftlichen, nachhaltigen Bauens und Wohnens und dem kapitalistischen Wohnungsbaumarkt finden, zum Teil gar schaffen. Das war ein echt schwieriger und oft auch schmerzhafter Kraftakt. Ein kleineres Projekt wäre besser gewesen. Doch der Senat verkaufte dieses Grundstück nur als Ganzes, und zu den Auflagen gehörte, dass es dann auch vollständig bebaut wird. Für die Umsetzung eines so riesigen zivilgesellschaftlichen Vorhabens reichte es nicht, menschlich und politisch integer zu sein, hier war auch viel Kompetenz in puncto Bau- und Finanzwirtschaft gefragt. Welch ein Spagat!
MK Wie schön, dass das Projekt geglückt ist! Woran arbeitest du gerade?
HK Neben anderem an der Hütekreis-Idee. Seit Anfang letzten Jahres hat die »erdfest-Initiative«, die Andreas Weber und ich ins Leben gerufen haben, einen Hütekreis, wozu uns nicht zuletzt der Oya-Hütekreis inspiriert hat. Doch kann das, was wir da praktizieren, wohl allenfalls ein Embryo dessen sein, was an Potenzial in solch einer gemeinschaftsgetragenen Organisationsform steckt. Unsere Hypothese an dieser Stelle lautet: Was die Genossenschaft für große wirtschaftliche Unternehmungen ist, könnte der Hütekreis für kleine transformative, gemeinschaffende Initiativen sein. Noch gibt es dazu so gut wie keine Forschung. Deshalb erwägen wir derzeit, das Potenzial der bislang existierenden -Hütekreise in Kooperation mit einer an Nachhaltigkeit orientierten Hochschule zu erforschen.
MK Wie spannend! Bei Oya tritt auch immer wieder die Frage auf, was genau der Hütekreis eigentlich ist. Bei einer solidarischen Landwirtschaft ist das sehr viel klarer: Die Mitglieder können oder wollen selbst keinen Hof bewirtschaften, möchten jedoch die Arbeit eines Hofs ermöglichen.
HK Ja, wie kann ein Hütekreis so beschaffen sein, dass er transformativen Initiativen das Nötige gibt, um allen Beteiligten ein suffizientes Auskommen zu ermöglichen? Für jede kleine Initia-tive eine Genossenschaft zu gründen, wäre absurd. Mir scheint, für derlei Unternehmungen – auf die es ja so sehr ankommt! – gibt es noch keine wirklich passende Unterstützungsform.
MK Zur erdfest-Initiative gehört neben dem Begleiten der alljährlichen Erdfeste neuerdings auch ein »Initiativraum«. Was kann ich mir darunter vorstellen?
HK Inspiriert durch die Frage »Wie werden wir erdfest?« bietet der erdfest-Initiativraum werteverwandten Akteurinnen und Organisationen die Möglichkeit, interaktiv zu kommunizieren, um in vielfältigen Kooperationen ein »kreatives Wir« zu werden. So etwa hat sich aus einer Kooperation zwischen dem »Netzwerk Ökologie des Bewusstseins« und erdfest ein digitaler wie analoger Lernprozess zu natürlicher Wasserrückhaltung – beispielsweise in der bäuerlichen Landwirtschaft – ergeben, der im kommenden Jahr weitergehen wird. Die Grundhaltung ist hier ein bewusstes, wertschätzendes In-Beziehung-Treten. Mir scheint, darin liegt eine noch kaum erschlossene Ressource für den notwendigen – den Not -wendenden – Wandel.
MK Dabei kommt mir die Haltung des Kompostierens als postaktivistische Praktik in den Sinn, die wir in Ausgabe 66, inspiriert durch den Philosophen Báyò Akómoláfé, gefunden haben. Das Kompostieren ermöglicht einen Blick auf das, was ist, als Nährboden, aus dem das Neue wächst. Es ist ein friedlicher und liebevoller Blick auf den vermeintlichen oder auch tatsächlichen Dreck unserer Zivilisation.
HK Es gibt ja tatsächlich kaum etwas Lebendigeres als Kompost.
MK Ich finde es schön, dass wir uns – vom Wohnungsbau über Hütestrukturen bis hin zum Kompostieren – bisher mit sehr erdigen, handfesten Themen beschäftigt haben. Das bringt mich zum Begriff »Realität«, den du in deinem Buch »Die neue Muse« von der »Wirklichkeit« – also der energetischen Sphäre – unterscheidest, in der alles Wahrnehmbare kein abgrenzbares Ding, sondern Prozess, Werden, Wandlung und Beziehung ist.
HK Ja, die Realität – also das eher verdinglichende Wahrnehmen dessen, was ist – wird von Menschen wie uns, die gerne dem Beziehungscharakter der Welt nachgehen, oft zu wenig beachtet. Doch haben beide Wahrnehmungsweisen ihre Berechtigung, erfordern Präsenz, Demut und Tatkraft. Die Realität gut im Auge zu haben, ist schon deshalb unverzichtbar, weil auf der ganz realen, materiellen Ebene all die unsagbaren Vernichtungen von Lebendigem stattfinden. Hier kommt es nicht zuletzt darauf an, den eigenen »Haltungsspielraum« zu kultivieren. Welche Haltung wäre angemessen angesichts der sich vor unseren Augen vollziehenden Katastrophe? Darf ich dir erzählen, was ich dazu für mich herausgefunden habe?
MK Ja, unbedingt!
HK Aus der allgemeinen Systemtheorie und der Chaosforschung wissen wir: Je komplexer lebendige Systeme sind, desto weniger vorhersagbar sind ihre Veränderungen und desto mehr kommen Phänomene des Alogischen, des Akausalen und des Arationalen ins Spiel. Wobei etwa »a-rational« nicht dasselbe wie »ir-rational« ist. Stattdessen haben wir es mit Dynamiken jenseits der Linearität von Ursache und Wirkung zu tun und jenseits des rein Rationalen, worauf das moderne westliche Denken fußt. Es gibt ja diese sprunghaften Phänomene: so etwas wie »vertikale Impulse«, die zwar nicht voraussetzungslos sind, aber doch auch nicht prognostizierbar. Beispiele dafür sind der Fall des Eisernen Vorhangs oder das Aufkommen der »Fridays for Future«-Bewegung.
An dem Epochenrand, an dem wir nun stehen, geht es uns zunehmend wie jenem Kind im Märchen »Des Kaisers neue Kleider«. Wir erkennen, wie zutiefst irrig und damit fatal irreführend zentrale Grundannahmen der westlichen Denkweise sind, etwa die Trennung von Geist und Materie oder von Natur und Kultur: »Der Kaiser ist nackt.« Wir sehen das jetzt. Wir haben begonnen, über den Rand unserer eigenen Weltsicht zu treten, sie schaudernd von außen anzuschauen. Welche Generation erlebt schon so etwas?
MK Was genau folgt daraus?
HK Zu den nun zentralen Aufgaben dürfte zählen, im je eigenen Bereich so zu arbeiten und so zu leben, dass alles, was wir tun, in sich selbst sinnhaltig ist und Sinn schafft – völlig losgelöst von allem sichtbaren, vermeintlichen Erfolg oder Misserfolg. Denn wir können schlicht nicht ermessen, wie weit die Wirkung unseres Handelns und unserer Lebensweise reicht. Was zählt, ist, so bewusst wie nur möglich zu sein, und aus dieser Haltung aufrecht und aufrichtig zu handeln – wie unbedeutend auch immer unsere Beiträge erscheinen mögen.
MK Zu deiner Arbeit als Kulturwissenschaftlerin zählt auch die Auseinandersetzung mit der modernen westlichen Kunst. Wie siehst du deren Bedeutung für den sozial-ökologischen Wandel – jetzt, wo die Grundannahmen der Welt, der diese Kunst entstammt, sich als irrig erweisen?
HK Das ist eine schöne Frage! Tatsächlich wurden in der Kunst der Moderne viele Fragen gestellt, Erfahrungen gemacht, Experimente unternommen und auch Irrtümer begangen, die für uns heute sehr erhellend und weiterführend sein können. Schau mal, hier neben uns hängt ein Gemälde der schwedischen Malerin Hilma af Klint. Entstanden Anfang des 20. Jahrhunderts, zeigt es in der Mitte die DNA-Spirale, Jahrzehnte vor deren wissenschaftlicher Entdeckung. Dieses Werk visualisiert unglaubliche, subtile Erkenntnisprozesse! Es ist ein Beispiel dafür, welch starke, -Zukunft stiftende Impulse unser kulturelles Erbe enthält.
MK Ja, das ist sehr inspirierend.
HK Gemeinsam mit dem Stadtmuseum und der Volkshochschule Bonn veranstaltet das von mir mitbegründete »und.Insti-tut für Kunst, Kultur und Zukunftsfähigkeit« im kommenden März eine »ZUsammenKUNFT« unter dem Titel »Erkundungen am Epochenrand«. Dort wird es um die Frage gehen, wie wir zu einer auf Beziehungswissen und Beziehungskraft gründenden Weltsicht oder vielmehr Zivilisation gelangen können, nachdem der Dualismus Mensch – Objekt uns an den Abgrund geführt hat. Es gibt ja weltweit immer mehr Beispiele dafür, wie etwa die Sphäre des Rechts sich auf die mehr-als-menschliche Welt erweitern lässt. In Europa ist das gerade mit der spanischen Salzwasserlagune Mar Menor gelungen (siehe Seite 12). Die agrarindustrielle Ausbeutung des schönfärberisch als »Garten Europas« bezeichneten Gebiets – eine der trockensten Gegenden Andalusiens – hat einen ökologischen Kollaps ausgelöst. Nun wurde die Lagune zu einer Rechtsperson ernannt, deren Rechte jeder Mensch vor Gericht vertreten kann.
Die Bonner ZUsammenKUNFT wird unter der Schirmherrschaft von Joseph Beuys stehen, der ja gar nicht mehr unter den Lebenden weilt. Beuys hat wie kaum ein anderer Künstler das Terrain jenseits des trennenden Dualismus erkundet. Ihm war kein Lebendiges je Objekt, sondern stets Subjekt. Seine ästhetischen Strategien durchbrachen Automatismen, in denen das Wahrnehmen gefangen ist, damit Bewusstheit entsteht – wodurch die lebendige Mitwelt, die in der Moderne zum Ding degradiert wurde, neu zum Du werden kann.
MK Das hat auch eine politische Dimension, oder?
HK Ja, und die diesjährige »documenta« (Seite 17 und 94) hat Vieles davon weiter entfaltet und erlebbar werden lassen: Es gibt eine global relevante Kunst außerhalb des Kunstmarkts und jenseits des besonders im Westen exzessiven Individualismus; eine Kunst, die aus der Kraft gemeinschaftlicher Kreativität unter Einbeziehung auch nicht-menschlicher Wesen und Kollektive schöpft. Wen wundert es da, dass das Kunstestablishment den Antisemitismusvorfall nur zu gerne als Anlass genutzt hat, um pauschal eine höchst vielfältige Kunstpraxis zurückzuweisen, die sich außerhalb des durchökonomisierten Kunstbetriebs verortet und die Kunst in keiner Weise als Prestige- oder Spekulations-objekt versteht.
MK Dazu kommen mir aktivistische Gruppen wie »Die letzte Generation« oder »Extinction Rebellion« in den Sinn, die sich im Dienst des Lebendigen auf Autobahnen festkleben oder Gemälde in Museen mit Kunstblut oder Erbsensuppe bespritzen.
HK Der brasilianische Anthropologe Eduardo Viveiros de -Castro untersucht auf sehr eindrückliche Weise unsere Unfähigkeit, Trauer und Schmerz zu empfinden angesichts dessen, was bereits vernichtet ist. Er bewertet diese Dumpfheit als »tödlich«. Die besagten Aktivistinnen hingegen spüren diesen Schmerz und schöpfen daraus Kraft zu provokanten und fordernden Aktionen. In der Geschichte ist gewaltfreier ziviler Ungehorsam immer wieder unverzichtbar für gesellschaftlichen Wandel gewesen – denken wir an die Abschaffung der Sklaverei, das Erstreiten von Frauenrechten oder die Überwindung der Apartheid. Zugleich wäre, wie mir scheint, die »letzte Generation« gut beraten, ihre derzeitige Methode zu überdenken. Denn all die Aufregung über Erbsensuppe in Museen lässt den eigentlichen Übeltäter noch mehr als ohnehin schon aus dem Blick geraten: den zivilisiert, regelkonform daherkommenden und dabei im Kern monströsen Kapitalismus als systemischen Treiber der Erderhitzung.
MK Die posthume Schirmherrschaft von Beuys bringt mich zu der Frage, welche Rolle die Verstorbenen – oder auch die Ungeborenen – für deine Arbeit spielen.
HK Alle Kulturen, die klüger als unsere Zivilisation waren und sind, wissen, wie essenziell es ist, die Verbindung zu den Ahnen präsent zu halten. Wohl nicht von ungefähr ist unser Wort »Ahnen« im Blick auf diejenigen, die vor uns lebten, identisch mit der Tätigkeit des »Ahnens«: Ich ahne etwas, das noch nicht da ist, das von der Zukunft her eintreten kann. Ähnlich erstaunlich ist das denkbar bescheidene Wörtchen »einst«: Wir können sagen, »einst«, in den Kindheitstagen der Menschheit; und »einst«, wenn der Kapitalismus überwunden sein wird.
Die lineare, messbare Zeit – Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – ist offenbar nur ein kleiner Ausschnitt des Phänomens »Zeit«. Um »wirklicher« im vorhin genannten Sinn zu werden, käme es darauf an, ein Zeitwahrnehmen zu kultivieren, das zyklisch ist, oder, mit dem Kulturphilosophen Jean Gebser gesprochen, »transparent« und »kugelig« – in dem also Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nicht mehr strikt voneinander getrennt, sondern ineinander verschränkt sind.
Das rationalistische Denken hingegen presst die lebendige Welt in eine zutiefst destruktive Linearität. Wer alles planbar und damit kontrollierbar machen will, planiert – außen wie innen –, so dass die Realität sich wie eine Betondecke über die Wirklichkeit legt. Doch wissen wir alle ja viel mehr als das, worüber wir öffentlich sprechen. Ich zum Beispiel darf in meinem Leben ganz konkret erfahren, wie ich mit zwei Verstorbenen – meinem Vater und dann meinem Liebsten – über deren Tod hinaus in höchst lebendiger, Zukunft stiftender Verbindung bin. Dank dessen weiß ich einfach, dass alles wirkliche Verbundensein auch jenseits und diesseits von Zeit und Raum besteht.
MK Hab herzlichen Dank, Hildegard, für den geteilten Raum und die geteilte Zeit! //
Zum Bild: Die im Hintergrund erkennbaren Gebäude im Berliner Möckernkiez sind keine architektonischen Meisterwerke. Doch ist diese Wohnungsbaugenossenschaft durchzogen von einem feinen Geflecht sozialer Interaktion: Unzählige Arbeitsgruppen loten dort vielerlei denkbare und undenkbare Dinge miteinander aus. So wuchs ein sozialer Organismus. Oya-Rätin Hildegard Kurt (64), die selbst im Möckernkiez wohnt, hat die Entstehung von Beginn an miterlebt. Die Kulturwissenschaftlerin und Autorin öffnet auf verschiedenen Feldern Räume für ein »kreatives Wir« und erschließt damit in einer Welt kollabierender Systeme und Strukturen neues Terrain, das tragfähig für Zukunft schaffende Unternehmungen ist.