Der Biologe und Philosoph Andreas Weber erkundet den Weltinnenraum, in dem alles essbar ist und sich immerzu verwandelt. Tabea Heiligenstädt traf ihn zu einem Gespräch und einem Spaziergang.von Andreas Weber, Tabea Heiligenstädt, erschienen in Ausgabe #71/2022
Tabea Heiligenstädt Andreas, du hast Oya schon seit der ersten Ausgabe begleitet. Als relativ neues Redaktionsmitglied freue ich mich über diese Gelegenheit, dich nun besser kennenzulernen! Du erforschst das Naturverbundensein des Menschen. War dieses Inter-esse schon in deiner Kindheit angelegt?
Andreas Weber Ja, allerdings gab es da eher »Natur aus zweiter Hand«. Ich bin in einer Schlafgemeinde bei Hamburg aufgewachsen. Alle pendelten. Der Ort war hässlich, mit Wohnblocks und Reihenhäusern aus den 1960er und 1970er Jahren angeschwollen. Das fand ich als Kind freilich nicht weiter schlimm. Die Landschaft ist eigentlich schön – Weiden, Felder, viele Knicks, mehrere Wälder und das Quellgebiet der Alster. Dort machte ich intensive Naturerfahrungen. Zudem waren meine Eltern mit uns Kindern viel draußen. Mit zwölf habe ich auf der gegenüberliegenden Straßenseite einen leerstehenden Gemüsegarten für 50 Mark pro Jahr gepachtet. Während die anderen sich Mofas kauften, schaffte ich mit der Schubkarre Mist heran.
TH Allein?
AW Allein, aber ein guter Freund half mir regelmäßig. Ab und zu kam mein Vater – vor allem, um mich zu kritisieren.
TH Was hat er kritisiert?
AW Meine großen Planungen und meine kindliche Systematik. Ich habe mir dann John Seymours »Großes Buch vom Leben auf dem Lande« von meinem Ersparten gekauft. Vor dem Schlafen-gehen habe ich immer darin gelesen und weitergeplant.
TH Vermisst du deinen Garten?
AW Merkwürdigerweise nein. Allerdings leide ich unter totalitär zurechtgestutzten Landschaften, in denen das Leben nicht sein darf. Ich vermisse, dass die Welt immer weniger Garten ist. Als ich später mit meiner eigenen Familie ein Einzelhaus bewohnte, hätte ich jederzeit Gemüsebeete anlegen können. Stattdessen habe ich das Grundstück gezielt verwildern lassen. Aus dem Rasen ist in wenigen Jahren eine wilde Blumenwiese entstanden. Die Nachbarn haben mich dafür nicht geliebt …
TH An der Fuchsmühlen-Gemeinschaft, wo ich lebe, haben wir auch Nachbarn, die uns ermahnen, den Rasen zu trimmen und das Beikraut aus den Fugen zu kratzen. Rasen verkörpert ja auch etwas Aristokratisches: Er bedarf aufwendiger Pflege und beheimatet nur wenige Tier- und Pflanzenarten.
AW Natürlich. Interessanterweise ist dieser gestutzte englische Rasen – mit dem der Herrscher seine Macht demonstriert – das Ziel fast aller Eigenheimbesitzer. Selbst wenn sie als Mieter so etwas vorher belächelt haben, fangen sie als Eigentümer plötzlich an, den Rasen artrein zu halten.
TH Darunter liegt wohl oft das Bedürfnis nach Zugehörigkeit.
AW Allerdings ist es toxisch, wenn ich Zugehörigkeit realisiere, indem ich die Wiese so zurichte. In einem solchen Fall suche ich gewaltsam Anschluss, die Duldung durch eine Gruppe, die an einer bestimmten Norm festhält. Echte Zugehörigkeit ist dynamisch. Ich kann nicht ein für alle Mal verbunden sein. In Wirklichkeit lassen sich Verbundenheit und Gemeinschaft nur immer wieder neu aktiv herstellen. Verbundenheit entsteht erst, wenn lebendigkeitsstiftende Beziehungen beständig hervorgebracht werden. Alles andere ist Geiselnahme und beruht auf einer Fiktion, die gewalttätig wird, wenn ich sie durchsetzen will.
TH Wie Menschen mit Land umgehen, hat auch mit Verwurzelung zu tun: »Wer entwurzelt ist, entwurzelt andere«, schrieb die französische Philosophin Simone Weil. Ich merke, wie herausfordernd es für mich ist, an einem konkreten Flecken Erde heimisch zu werden. Suchst du nach Beheimatung?
AW Die Sehnsucht nach dem einen, heimatlichen Ort spüre ich nicht so stark. Andererseits merke ich sofort, wenn -Landschaften mich zurückweisen. Meist fühle ich mich an neuen Orten aber rasch heimisch. Die »Wurzeln« sind eine Metapher, die etwas Unveränderliches suggeriert. Aber die realen Wurzeln der Pflanzen sind nicht statisch. Sie bewegen sich die ganze Zeit, wachsen beständig. Die dicken Äste der Hauptwurzeln verankern einen Baum im Boden, aber die kleineren Wurzeln und vor allem die von ihnen ausgehenden Milliarden feiner Wurzelhaare wachsen immerzu dem Wasser und den Nährstoffen entgegen. Von Simone Weil gibt es auch den Satz »Jede Trennung ist eine Verbindung«. Und umgekehrt ist Verbindung auch immer Trennung. Verbindung muss immer wieder neu geschaffen werden, im Austausch zwischen unabhängigen Partnern.
TH Von welchen Prägungen, die du durch deine Eltern und Großeltern mitbekommen hast, hast du dich getrennt – und mit welchen fühlst du dich nach wie vor verbunden?
AW Zu den wichtigsten Geschenken meiner Herkunft gehören die Liebe zu anderen Wesen und mein Interesse für künstlerische und geistige Dimensionen. Gleichzeitig wurden mir durch meine Familie auch Botschaften über mich selber vermittelt, die nicht besonders heilsam waren. Ein Teil meiner Arbeit besteht bis heute darin, mich selbst hinter diesen Glaubenssätzen wiederzufinden und so wieder ganz lebendig zu werden. Ich hoffe, davon möglichst wenig an meine Kinder weiterzugeben. Aber es ist zu früh, um zu sagen, ob das geklappt hat.
TH In »Alles fühlt« hast du geschrieben, dass wir einander Spiegel sind und Teile von uns nur sehen können, wenn sie durch ein Gegenüber gespiegelt werden. Als du eben toxische Prägungen erwähnt hast, tauchte in mir das Bild eines Zerrspiegels auf.
AW Das Wort »Spiegel« benutze ich nur noch zögernd. Heute würde ich eher von »gegenseitiger Verwandlung« sprechen. Wir erkennen uns in Anderen nicht wie in einem Spiegel, sondern indem wir uns durch ihre Blicke verwandeln lassen. Das ist ein -Motiv des Buchs »Essbar sein«, an dem ich gerade arbeite.
TH Was genau kann ich mir darunter vorstellen?
AW Die Wirklichkeit ist lebendig. Leben bringt Individuen hervor, die sich immer wieder mit- und durcheinander verwandeln. Niemand bleibt je die gleiche Person. Wir müssen essbar sein, um Leben zu ermöglichen. Ganz buchstäblich – aber auch von der inneren Haltung her. Unsere westliche Zivilisation tut jedoch so, als wären wir Menschen nicht mehr Teil dieser Zyklen von gegenseitiger Verwandlung. Sie hängt dem fatalen Irrtum an, dass Menschen sich unsterblich machen könnten, indem sie Besitz und Renommee anhäufen. Um zu existieren, müssen wir aber unsere Sterblichkeit und die notwendigen Verwandlungen annehmen, um anderes Leben zu ermöglichen. Es ist ähnlich wie mit den Wurzeln: Nichts, was erstarrt, hilft dem Leben.
TH Wann hast du dich grundlegend verwandelt?
AW Eine wichtige Verwandlungsphase war, als ich mich vor zehn Jahren von der Mutter meiner Kinder getrennt habe. Aus dieser Zeit stammt der Essay »Erotische Ökologie« (siehe Oya 13). Dabei begriff ich, dass es darauf ankommt, wahrhaftig zu sein, anstatt den eigenen Tod vermeiden zu wollen. Erst seitdem ich mich dem Sterben anvertraut habe, kann ich unbeschwert leben.
Ein gutes Jahrzehnt zuvor hatte eine andere Verwandlungsphase begonnen, als ich im Studium die Denker, die meinem Gefühl für die Welt entsprachen, entdeckte: Den Philosophen Hans Jonas und Francisco Varela, den Kognitionsforscher und Buddhisten, bei dem ich später in Paris studiert habe.
Am stärksten wurde mein Ich jedoch durch die Geburten meiner beiden Kinder verwandelt: Sie lehrten mich, dass Liebe nicht darauf zielt, eigene Bedürfnisse zu stillen, sondern Leben zu spenden. Leben spenden zu können – das erfordert freilich seelische Autonomie. Es erfordert, nichts aufrechterhalten und niemanden instrumentalisiern zu müssen. Das wiederum bedeutet, sich selber ganz und gar zu glauben.
TH »Autonomie« schürt in mir Angst vor Einsamkeit …
AW Ich meine nicht »gepanzerte Autonomie«. In unserer Kultur denken wir oft, uns zwischen Autonomie und Symbiose entscheiden zu müssen. Wer Beziehung will, misstraut Autonomie. Dabei ist jedes Lebewesen autonom: Es organisiert seine Lebensfähigkeit aus sich heraus. Nur weil es autonom ist, kann es mit anderen interagieren, und es braucht andere, um autonom sein zu können. Erst Autonomie ermöglicht Verbindung. Nur wer selbst sein kann, kann in Beziehung sein. Das lernen wir kaum.
Viele Eltern reichen ihr Unvermögen, autonom zu sein, an ihre Kinder weiter. Kinder sollen Eltern Bestätigung schenken, sollen für ihre Eltern leben – auf Kosten der eigenen Fähigkeit, sich in ihrer Lebendigkeit zu akzeptieren. Man kann ja einen anderen Menschen nie wirklich stabilisieren. Aus dieser psychologischen Perspektive zeigt sich, dass die ältere Generation nicht nur ökologisch, sondern auch emotional auf Kosten der jüngeren lebt. Das einzige Mittel, diese Schulden abzubauen, besteht darin, Verantwortung für mich und mein Tun zu übernehmen: also meinen Kindern gegenüber anzuerkennen, dass ich etwas getan habe, das ihnen geschadet hat – ganz gleich, ob es gut gemeint war oder nicht. Ich möchte diese Verantwortung tragen.
TH Es berührt mich, von einem älteren Mann zu hören, dass er bereit ist, sich selbst zu hinterfragen und Verantwortung zu übernehmen.
Wir gehen zu einem Spaziergang nach draußen, vorbei an gefällten Birken.
AW Einige Bäume sind hier gestorben, weil es in Berlin für Birken inzwischen zu trocken ist. Soweit hat sich das Klima bereits verändert. Birken sind nicht mehr Teil des natürlichen Ökosystems. Die meisten Bäume, die hier kreuz und quer herumliegen, wurden von Forstarbeitern gefällt, vielleicht aus Angst, dass sie ansonsten vertrocknen und umfallen könnten. Ein vorauseilendes Massaker – keine Nester mehr für Bienen, Meisen, Spechte.
TH Was ist dein Gefühl, wo wir als Menschheit gerade stehen?
AW Wir stehen nicht mehr – wir sind schon längst im freien Fall. Spätestens beim gescheiterten Klimagipfel von Kopenhagen 2009 sind wir von der Klippe gestürzt. Wir befinden uns inmitten gewaltiger ökologischer und sozialer Veränderungen, die bereits jetzt mit massenhaftem Tod einhergehen. Ich sehe keine Möglichkeit, diesen Fall aufzuhalten. Es war die große Illusion der ökologischen Linken, zu glauben, dass Naturprozesse durch Techno-kratie gestoppt werden könnten. Den Kapitalismus und seine Folgen müssen wir als geologischen Prozess verstehen.
TH Wie gehst du damit um? Empfindest du Verzweiflung?
AW Verzweiflung würde ich das nicht nennen, Trauer, Frustration und Wut treffen es besser: Ich bin wütend auf diejenigen, die Zerstörung säen, und trauere über die, die verschwinden – die Schmetterlinge, die Feldvögel, die Wildblumen. Ich gehe -damit um, indem ich all das durchlebe.
Wir kommen auf einer Lichtung an.
AW Das hier ist »meine« Wiese. Aber was ist hier passiert?
TH Warum wurden die Bäume ausgerissen?
AW Vielleicht sind diese Baumskelette die Folge eines Forstprogramms. Ich kann nur mutmaßen. Aus den Berliner Wäldern soll die Spätblühende Traubenkirsche entfernt werden, weil sie eine eingeschleppte Art, eine »illegale Immigrantin« ist. Aber niemand hat darüber nachgedacht, wie dieser Wald bei einer um fünf Grad höheren Durchschnittstemperatur und bei stark verringertem Niederschlag aussehen könnte. Vielleicht wäre die Spätblühende Traubenkirsche dann genau die richtige Waldbewohnerin …
Andreas macht an einem Ameisenhaufen halt.
TH Wie lange sind diese Ameisen schon hier?
AW Vielleicht seit drei Jahren.
TH Wie lange leben sie in dem Haufen?
AW Die einzelnen Ameisen leben ein paar Monate, der Haufen potenziell ewig. Ohne zwingenden Grund geben ihn seine Erbauer nicht auf.
TH Auch nicht, wenn die Königin stirbt?
AW Nein, dann kommt einen neue. Die dynastische Nachfolge ist das geringste Problem. Als dieser Haufen einmal verwüstet war, haben ihn die Ameisen wieder aufgebaut.
TH Das ist eine spannende Frage: Was lohnt es zu erneuern, was loszulassen?
AW Schau mal, die Eiche dort – die habe ich gepflanzt! Die ist schon mehrmals zerstört worden. Ich habe sie als jungen Baum gepflanzt, anderthalb Meter hoch und mit daumendickem Stamm. Dann hat sie jemand knapp über der Erde abgeknickt. Doch die kleine Eiche hat wieder ausgetrieben, hat im nächsten Jahr grüne Blätter entfaltet und einen Sproß emporgestreckt. Dann hat sie wieder jemand gebrochen. Doch sie versucht es immer weiter. Sie gibt erst auf, wenn sie wirklich tot ist.
TH Wie verortest du dich im Fallen?
AW Ich falle kopfüber mit ausgestreckten Armen voraus. Ich versuche nicht mehr, mich irgendwo festzuhalten.
Selbst wer heute noch an stetiges Wirtschaftswachstum und Kapitalismus glaubt, kann nicht mehr ernstlich auf politische und ökologische Stabilität setzen. Seit fünfzig Jahren sind die »Grenzen des Wachstums« bekannt, dennoch plündern wenige dominante Menschen die Erde weiter aus. So wie ein Alkoholiker vom Schnaps, sind die, die zu viel besitzen, von ihrem Besitz abhängig. Dabei machen wir uns nicht nur zu Kollaborateuren, sondern zu Geiseln von Gewaltregimen.
TH Was würdest du der Generation deiner Kinder – also denen, die jetzt um die zwanzig Jahre alt sind – mitgeben?
AW Ich unterscheide da nicht nach Alter. Ich sage allen: Handelt so, dass Leben sei, inklusive des eigenen – ermöglicht Leben! Unsere Aufgabe als Menschen ist es, Leben zu nähren, zu pflegen und zu kultivieren, so dass es sich entfalten kann.
TH Wie können Menschen spüren, was lebensdienlich ist?
AW Alle können sich fragen: Bin ich gerade lebendig? Hinterlässt mein Tun eine blühende Wiese oder verbrannte Erde? Aber es erscheint uns oft unüberwindlich schwierig, lebensfeindliche Handlungen aufzugeben, wenn diese unserer persönlichen Existenz zu nutzen scheinen. Traditionelle Kulturen haben Techniken ersonnen, um den menschlichen Hang zu Egoismus und Dominanz im Zaum zu halten. Die Initiation ist ein solcher Ritus. Sie soll den Heranwachsenden vergegenwärtigen: Leben heißt zu partizipieren, und lebendig zu sein bedeutet, essbar zu sein – wir dürfen dem Tod nicht entkommen. Unsterblichkeit ist die ökologische Todsünde. Ökologisch lässt sich die Dominanz einzelner Individuen oder einzelner Arten nie aufrechterhalten: Auch hier, wo wir gerade sitzen – in einem Ökosystem –, gibt es keine dominante Art in dem Sinn, wie wir Menschen die Erde dominieren. Es mag zwar Spitzenprädatoren geben – Habicht, Fuchs oder manchmal auch Wolf –, aber deshalb unterjochen diese nicht alle anderen. Im Gegenteil: Sie werden selbst beständig von Parasiten, Viren und Bakterien gefressen, den winzigen Agenten, die dafür sorgen, dass aller ökologische Besitz immer wieder gerecht verteilt wird. In der Welt des Lebendigen gibt es keinen Sieg durch Dominanz – und wenn, dann ist das der Anfang vom Ende. Das sollten sich alle bewusst machen, bei denen es in Sachen Dominanz gerade richtig gut läuft.
TH Hab Dank für den intensiven Austausch.
Zum Bild: Das Gespräch mit Oya-Rat Andreas Weber (55) begann in dessen Küche bei selbst-gebackenem Brot. Danach setzten er und Oya-Redakteurin Tabea -Heiligenstädt die Unterhaltung im Park am Brixplatz im Berliner Westend fort, wo sie einen Ameisenhaufen untersuchten (siehe Seite 27) und über die Schicksale, die hinter entwurzelten Birken und Spätblühenden Traubenkirschen sowie hinter verwaisten Erdlöchern stehen mögen, spekulierten. Als dann schon niemand mehr damit gerechnet hatte, ließ sich die betagte Pudeldame Erbse mit einem Mal doch noch zu einem Spiel hinreißen – sehr zur Freude von Fotografin Annett Melzer.