Anke Caspar-Jürgens erzählt im Gespräch mit Andrea Vetter von ihrem über 40-jährigen Einsatz für ein freies Lernen junger Menschen in gemeinschaftlicher Verbundenheit.von Anke Caspar-Jürgens, Andrea Vetter, erschienen in Ausgabe #71/2022
Andrea Vetter Wir unterhalten uns hier in deinem schönen Gärtchen im Dorf Klein Jasedow. Du lebst seit 35 Jahren in dieser Gemeinschaft und seit 25 Jahren hier in Ostvorpommern.
Nur wenige Meter entfernt befindet sich die 2017 eröffnete »Kleine Dorfschule Lassaner Winkel«, die auch dank deiner jahrzehntelangen Vorarbeit gegründet werden konnte. Du unterstützt die Schule heute, indem du sie in ihrem »Lern- und Hütekreis« begleitest. Was bedeutet es für dich, eine Freie Schule zu gründen?
Anke Caspar-Jürgens Eine Schule zu gründen bedeutet, sich rundum auf ein Abenteuer einzulassen. Vorab ist es meiner Erfahrung nach erforderlich, einen Reflexionsraum mit allen Beteiligten zu öffnen: Welche Bedingungen haben wir? Was wünschen wir uns wirklich, wirklich – und was davon ist umsetzbar? Meine Erfahrungen mit dem Schulsystem hatten mir bewusst gemacht, wie fruchtbar solch eine reflektierte Beziehung zwischen den Teilnehmenden ist. Viele Freie Schulen gehen davon aus, dass die Lernbegleitenden als Personen neutral bleiben mögen. Die Folge kann sein, dass Kinder sich langweilen, im Haus bleiben oder die Erwachsenen sich zu Dienstleistenden der Kinder machen. Zu -Beginn unserer Demokratischen Schule habe ich das ähnlich erlebt. Regeln zu erstellen und auf ihre Einhaltung zu achten schien von größter Bedeutung. Doch im Lauf der vergangenen Jahre -entwickelte sich ein spontaner und lebendiger Prozess -zwischen den Kindern, den Lernbegleitenden und den Eltern, der deutlich gegenseitige Öffnung und Vertrauen bewirkte. Darüber freue ich mich sehr. Unser Zukunftskonzept, das Dorf zu einem gemeinschaftlichen »Lernort« mit Landwirtschaft und Gewerken zu machen, anstatt eine »Schule im Dorf« zu betreiben, kommt meiner Traumvorstellung von Schule schon sehr nahe.
AV Was ist deiner Wahrnehmung nach der Unterschied zwischen dem von dir mitentwickelten Konzept der »Familienschule«, wie ihr es in Bayern gelebt habt, und einer Freien Demokratischen Schule?
ACJ Jede im staatlichen Bildungssystem verankerte Schule ist für mich problematisch. Gäbe es auch in Deutschland die Pflicht, sich zu bilden, also eine Bildungspflicht – wie international üblich –, anstelle des seit 1938 fast unverändert geltenden Schulanwesenheitszwangs, könnte Schule endlich ihr volles Potenzial entfalten. Beeindruckend ist da beispielsweise England, wo laut Verfassung die Verantwortung für die Bildung in den Händen der betroffenen Menschen liegt. Denn Selbstverantwortung ermöglicht Beziehung und die ist das Fundament lebendigen Lernens, nicht das Befolgen eines Rechtssystems!
AV Es geht also deiner Meinung nach nicht darum, eine andere Form von juristischer Struktur für einen Lernort zu finden, sondern aus der Idee, dass wir alles juristisch regeln müssten, ganz auszusteigen?
ACJ Ja, unbedingt. Für mich war immer klar, dass es Grenzen und Regeln geben muss, sofern sie gemeinsam gefunden werden. So wird es heute auch an der Kleinen Dorfschule praktiziert. Ich denke, dass funktionierende Demokratische Schulen vor allem dann gelingen, wenn dort gemeinschaftskompetente Menschen wirken. Natürlich spielen auch die juristischen Rahmenbedingungen eine Rolle für das, was möglich ist: An Schulen hierzulande haben Menschen Angst vor den Vorgesetzten, Angst, etwas falsch zu machen, Angst vor Bestrafung. Deshalb muss fortwährend alles dokumentiert werden. Diese Fixierung auf Rechts-formen zersetzt das Miteinander.
AV Ich frage mich manchmal, woher eigentlich der Glaube an die Überlegenheit juristischer Strukturen kommt. Das ist ja nicht nur bei Alternativschulen, sondern auch in vielen Gemeinschaftsprojekten so. Manchmal ist das erste, was Menschen tun, wenn sie zusammenkommen, einen ellenlangen Regelkatalog oder ein Konzept zu erstellen. Viele denken, sie müssten Verträge miteinander schließen, damit das Zusammenleben funktioniert.
ACJ Das ist das Ergebnis unserer Misstrauenskultur. In der Regelschule wird den Kindern das Vertrauen in sich und ihre Nächsten ausgetrieben, weil dort Erwachsene zu bestimmen haben – und diese wiederum tun in aller Regel, was ihnen gesagt wird. Sobald Kindern hingegen Freiraum zugestanden wird, organisieren sie sich selbst aus diesem Vertrauen heraus. Dazu gehört freilich immer, dass Erwachsene dabei sind, die diese seelisch-geistige Grundhaltung verinnerlicht haben. Wenn sie von ängstlichen, regelfixierten Erwachsenen umgeben sind, dann fällt es Kindern oft sehr schwer, Vertrauen miteinander zu entwickeln. In der staatlichen Schule konnte ich viele Erfahrungen damit sammeln, welch einen Unterschied es macht, wenn ich einer Klasse unterstelle, dass alle Kinder – und wenn sie sich noch so »komisch« verhalten – letztlich gut miteinander auskommen wollen. Für diese Atmosphäre riskierte ich so manchen Regelverstoß. Aber die Kinder haben meine akzeptierende, freundschaftliche und vertrauensvolle Grundhaltung aufgesogen.
AV Wie kommen wir überhaupt zu diesem Vertrauen ineinander? Du bist ja 1942 geboren, mitten im Krieg, wo du schon als Kleinkind viel Angst und Schrecken mitbekommen hast. Solche Erfahrungen wirken noch Generationen später nach. Wir wurden alle in einer sehr angstgesteuerten Gesellschaft sozialisiert.ACJ Als kleines Kind musste ich mit meinen beiden Schwestern drei Jahre im Waisenhaus verbringen, weil unsere Mutter nicht für uns sorgen konnte. Dort musste ich zusehen, wie ich überlebte und genug zu essen bekam. Wir waren als Flüchtlinge aus dem polnischen Łódź, das damals Litzmannstadt hieß, nach Ostfriesland gekommen. Unsere Mutter musste sich dort mit anderen Menschen winzige, durch Bettlaken aufgeteilte Räume teilen, in denen kein Platz für mich und meine beiden Schwestern war. Sie bezahlte das Waisenhaus mit ihrem Schmuck, damit es uns aufnahm. Die Leitung selbst hat gut davon gelebt, für uns gab es nur das Nötigste.
Bei meiner Mutter erlebte ich später einerseits ein sehr gemeinschaftliches Zuhause: Sie baute mit Freunden eine Schneiderei auf, und bei uns waren immer Menschen willkommen – sie saßen gemeinsam an einem großen Tisch und halfen einander. Seitdem wusste ich, dass ich einmal mit allen Generationen in einer Gemeinschaft leben wollte. Diese Erfahrung ist das Fundament für mein Vertrauen in Gemeinschaftlichkeit.
Andererseits versuchte meine Mutter, mir das Bettnässen mit Schlägen auszutreiben, und sagte hinterher, dass das doch nur zu meinem Besten sei. Mein Vater kam als zuvor überzeugter Nazi schwer krank und tief verändert aus dem Krieg zurück. Später war er nicht fähig, auf meine Fragen nach seiner Beteiligung an den Verbrechen der Nazis zu antworten. Mit diesem persönlichen wie kollektiven Erbe versuche ich, so verantwortungsvoll wie möglich umzugehen. Dazu gehört auch, dass ich den jüngeren Generationen – etwa meiner Enkelin – davon erzähle. Natürlich wollte ich diese destruktiven Prägungen nicht an meine beiden Kinder weitergeben. Aber als im Schuldienst tätige, alleinerziehende Mutter in der Großstadt bin ich immer wieder an Grenzen gestoßen – an meine eigenen wie auch an die des Systems. Ich bin dankbar, wenn ich heute miterlebe, wie Eltern und ihre Kinder sich auf der Basis unserer Gemeinschaft entfalten können.
Mit Ende dreißig wollte ich den Lehrberuf eigentlich an den Nagel hängen. Ich hatte endgültig verstanden, dass eine auf Bestrafung und Beurteilung angelegte Pädagogik das Fundament des staatlichen Schulsystems ist. Aber dann wurde jemand gesucht, der die erste multinationale Klasse in Hamburg begleitet. Ich dachte, das könnte genau meine Lücke für intuitives, gemeinschaftliches Arbeiten mit Kindern sein, da es um pädagogisches Neuland ging.
AV Kürzlich sprach ich mit einer Freundin, die gerade mit viel Leidenschaft, aber auch viel Überforderung, eine ganz ähnliche Klasse unterrichtet: Dort kommen Kinder zusammen, die erst seit Kurzem in Deutschland sind. Ihrer Meinung nach sei das Schulsystem gerade dabei, aus Personalmangel und an den Auswirkungen der Pandemie zusammenbrechen. Da habe ich mich gefragt, ob es sich nicht schon immer so angefühlt hat, zumindest während der vergangenen 50 Jahre …
ACJ Schon seit Beginn des Schulzwangs gab es massiven Widerstand – von Kindern wie auch von manchen Eltern –, aber bislang war das hierarchische System immer stärker. Der Preußenkönig Friedrich Wilhelm I. ernannte 1717 seine ausgedienten, lädierten Soldaten zu Lehrern. Diese brachten natürlich militärischen Drill und hierarchische Befehlsketten in die Schulen.
AV Hast du Hoffnung, dass diese Art von Hierarchien in einem jahrhundertealten System verändert werden könnte, ohne dass auch der Rest des Staats sich ändert? Hinter dem Lehrer sitzt ja die Schulleiterin und hinter dieser das Schulamt und so weiter – diese ganze bürokratische Hierarchiekette!
ACJ Hierarchien sind eine Grundstruktur unserer Kultur, in der es auf Konkurrenz anstatt auf Beziehung ankommt. Das setzt sich in allen Institutionen fort – auch, weil dort Menschen arbeiten, die von Ängsten durchsetzt sind. Die Angst, die wir von klein an verinnerlicht haben, wird durch autoritäre Hierarchien noch verstärkt. Dass es ab und an doch mal eine junge Lehrerin, Richterin oder Psychologin gibt, die eine andere Haltung hat, ist eigentlich ein Ergebnis der Freien Schulen und des Freilernens. In Deutschland hat es gerade in den vergangenen 20 Jahren eine enorme Bewegung in Richtung des freien Lernens gegeben.
AV Als Mutter empfinde ich immer wieder einen Schmerz darüber, meine Tochter zur Schule schicken zu müssen, obwohl sie das nicht will. Du bist ja auch Mutter und Großmutter, und deine Kinder haben die staatliche Schule besucht. Wie können wir als Mütter mit dem Schmerz umgehen, unseren Kindern das manchmal nicht ersparen zu können?
ACJ Lernen ist etwas so Tolles und Kostbares, das begeistert mich und das habe ich mit den Kindern der »Freien Kinderschule Hamburg« so gelebt! Vielleicht kannst du deiner Tochter ja den Unterschied zwischen Lernen und Schule vermitteln?
Es ist schon über vierzig Jahre her, seit meine Kinder eingeschult werden mussten. Nachmittags kamen wir alle drei immer total erschöpft aus der Schule. Davon wurde ich dann chronisch krank – es war der reinste Albtraum! Daran ist unsere Beziehung zerbrochen und die Kinder wurden schwer geschädigt. Weil ich vormittags und nachmittags mit Kindern zusammen war, brauchte ich ein Gegengewicht mit Erwachsenen und habe mich bei den Grünen engagiert.
Mit Anfang vierzig hatte ich dann zwei schwere Unfälle und hatte im Krankenhaus viel Zeit, um Literatur aus der Entschulungsbewegung und Reformpädagogik zu lesen – von Janusz Korczak, Maria Montessori, Paolo Freire, John Taylor Gatto, John Caldwell Holt und Ivan Illich. Ich spürte die Lebendigkeit und Begeisterung dieser Menschen! Dann hospitierte ich an diversen Schulen – etwa an der »Freien Schule Frankfurt« –, um ein Gespür dafür zu bekommen, wie es anders gehen kann. Oft erlebte ich dort die Einstellung, dass Kinder sich von ganz allein entwickeln würden und Erwachsene sich nicht einmischen sollten. Einmal hörte ich etwa von einem Kind, das weinend unter der Treppe saß, weil es so gern Lesen lernen wollte, sich aber nicht mehr traute, das zu äußern; bis dahin hatte es vor allem Fussball gespielt und war dem, was es eigentlich wollte, ausgewichen. Deshalb sind Erwachsene vonnöten, die in einen persönlichen Austausch mit den -Kindern gehen.
AV Nach deinen Erfahrungen mit der Familienschule, die in deinem Buch »Lernen ist Leben« so detailliert beschrieben sind, hast du im Sommer 2002 den »Bundesverband Natürlich Lernen!« (BVNL) mitgegründet. Wie kam es dazu?
ACJ Noch neu in Ostvorpommern, trafen wir uns mit bildungsengagierten Menschen. Eine Mutter berichtete von ihren endlosen Rechtsstreitigkeiten mit den Schulbehörden wegen der verzweifelten Weigerung ihres Sohns, zur Schule zu gehen. Mehrfach begleitete ich sie bei ihren gerichtlichen Vorladungen zum Jugendamt und zu Schulbehörden. Unserer immer größer werdenden Gruppe der an Schule Verzweifelnden wurde klar, dass sie ein Sprachrohr nach Außen brauchte.
Einige wollten keine Vereinsstrukturen und entwickelten stattdessen die Zeitschrift »Die Freilerner«. In enger Kooperation setzen sich seit 20 Jahren Zeitschrift, Verein und seit einigen Jahren auch die auf Rechtsfragen spezialisierte »Solidargemeinschaft« dafür ein, dass das Grundrecht der Menschen in Deutschland auf Selbstbestimmung auch für Bildung anerkannt wird.
AV In der aktuellen Ausgabe von »Die Freilerner« habe ich gelesen, dass Zeitschrift wie Verein sich von der Reichsbürger-Ideologie abgrenzen, weil sie verstärkt Zulauf aus dieser Richtung erhalten. Diesen Zuspruch von rechts finde ich bedenklich, wenn auch nicht erstaunlich. Wir haben ja vorhin darüber gesprochen, dass das Schulwesen ein zentraler Pfeiler moderner Staatlichkeit ist. Deshalb ist Schulkritik immer auch Staatskritik. Wie können wir solche Kritik üben, ohne in menschenfeindliche Argumentationsmuster zu verfallen?
ACJ Der Schulzwang prägt unser Denken und Fühlen, zumal die meisten von uns nichts anderes als die staatliche Schule erleben konnten. Da ist es wichtig, dem Schulsystem etwas Konkretes entgegenzusetzen. 1991 hat Johannes Heimrath eine Petition erarbeitet, in der genau beschrieben wird, wie Bildung in der Eigenverantwortung organisiert werden kann. Die Petition wurde an sämtliche offizielle Stellen geschickt. Sie macht nachvollziehbar, wie unser Staat sich auf demokratischer Grundlage weiterentwickeln könnte. Den Text halte ich nach wie vor für hochaktuell.
AV Möchtest du zum Abschluss noch etwas mit mir teilen?
ACJ Sich zusammenzutun, ist das Fundament menschlichen Lebens – das wurde auch in der Pandemie deutlich. Gemeinschaftlichkeit ist im Menschen angelegt. Eine wichtige Voraussetzung dafür ist, dass wir Frauen uns emanzipieren und für uns und füreinander einstehen. Diese Erkenntnis ist nicht neu, aber dennoch wesentlich!
AV Vielen Dank, liebe Anke, für den inspirierenden Austausch! Ich werde noch lange darüber nachdenken. //
Zum Bild: An einem leuchtenden Oktobertag zog es Anke Caspar-Jürgens (80) zum Lehmhaus auf der Campwiese, einige hundert Meter von ihrer Wohnung in Klein Jasedow entfernt, wo sie seit Jahrzehnten in Gemeinschaft lebt. Im Sommer finden dort alljährlich Zirkuscamps für Kinder und Jugendliche statt. An diesem Herbsttag aßen dort Freiwillige einer »Haus- und Hofwoche« zu Mittag – sie luden Anke spontan zu sich ein. Sofort kamen sie ins Gespräch. Später gesellte sich die elfjährige -Carolina dazu. Seit einiger Zeit kommt sie mit ihrer Mutter einmal pro Woche aus einer -nahegelegenen Kleinstadt und hilft im Dorf. Das Mädchen wartet auf einen Platz an der »Kleinen Dorfschule -Lassaner Winkel«. Die beiden quatschten und lachten mit-einander – so kann selbstbestimmtes, altersgemischtes Lernen aussehen.
Anke Caspar-Jürgens: Lernen ist Leben. Wie Schule sein könnte, wenn das Lernen frei wäre, Drachen Verlag, 2012. (kostenloser Download: drachenverlag.de/buch/lernen-ist-leben.html)
Johannes Heimrath: Petition für Freiheit und Selbstbestimmung im Bildungswesen, Eigenverlag, Wolfratshausen 1991. (johannesheimrath.de/829-2)