Titelthema

Vom Spinnen und Flechten

Werner Küppers lenkt seit zwei Jahrzehnten den »Omnibus für direkte Demokratie«. Statt am Ende seiner Reise, ist er mitten zwischen den Menschen angekommen. Das erlebte auch Anja Marwege, die ihn unterwegs besuchte.von Werner Küppers, Anja Marwege, erschienen in Ausgabe #71/2022
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© annett-melzer.de

Anja Marwege  Danke, dass du dir Zeit für ein Gespräch nimmst, Werner! Es ist Anfang Oktober. Noch zwei Wochen fährst du mit dem »Omnibus für direkte Demokratie«, dann geht ihr in die Winterruhe. Monatelang warst du tagein, tagaus auf Tour – -zusammen mit deiner »Band«, wie du die Freiwilligen nennst, die dich begleiten. Während wir sprechen, steht der Omnibus auf dem Rathausplatz von Vaihingen, einem Stadtteil von Stuttgart. Wie geht es dir?

Werner Küppers  Mir geht es gut. Vor allem bin ich froh, dass wir dieses Gespräch nicht in meinem Winterquartier führen, denn die besondere Qualität unserer Arbeit lässt sich nicht theoretisch beschreiben, sondern nur sinnlich miterleben als ein unberechenbares Zusammenspiel vieler Faktoren, auf die ich zum Teil überhaupt keinen Einfluss habe. Ich hoffe sehr, dass euer Einblick in unsere alltägliche »Soziale Praxis« dazu beitragen kann, das Besondere und Einzigartige des Omnibus verständlicher zu machen.

AM  Du fährst den Omnibus seit nunmehr 22 Jahren. Wirst du das auch weiterhin tun?

WK  Natürlich, das ist meine Aufgabe in der Welt, auf die ich mich – ohne es zu wissen – 50 Jahre lang vorbereitet hatte und in der ich mich immer mehr zuhause fühle. Es geht doch darum, auf allen Ebenen soziale Werkzeuge zu schaffen, mit denen wir beginnen können, friedlich und konstruktiv in die Gestaltung unseres Gemeinwesens einzugreifen, für das wir so oder so die volle Verantwortung tragen. Ich konnte noch nie verstehen, wie wir uns damit zufriedengeben, alle paar Jahre unsere Stimmen als Blankovollmachten in Urnen zu versenken. Die Idee der »Sozialen Plastik«, die der Künstler Joseph Beuys 1972 auf der -»documenta 5« in die Welt gesetzt hat, leuchtete mir dagegen sofort ein. Und als sich im Jahr 2000 mit dem Start des zweiten, dieses Mal schneeweißen Omnibus die Gelegenheit dazu bot, habe ich bereitwillig sein großes Lenkrad ergriffen und mich auf den völlig ungewissen Weg zur »Direkten Demokratie« gemacht ...

AM  Wie hältst du diese Ungewissheit aus? Oder anders gefragt: Was motiviert dich, immer weiterzumachen?

WK  Die alltäglichen Erfahrungen mit meinen Mitmenschen. Ich nehme mir den wörtlichen Sinn von Omnibus zu Herzen: »für Alle, mit Allen, durch Alle« – und bin für alle Menschen offen. Wildfremde sind mir am liebsten, denn ich bin auch überall ein wilder Fremdling. Der Omnibus ist nämlich kein Infobus oder gar das Vehikel einer politischen Kampagne, sondern beackert das Land als bewegliches Kunstwerk im Sinn des »erweiterten Kunstbegriffs«. Das Grundelement dieser Arbeit ist der freilassende und vor allem friedliche Austausch von Mensch zu Mensch. Ich habe einige Jahre gebraucht, um das immer klarer verstehen und weiterentwickeln zu können.

Zudem weiß ich aus eigener Erfahrung, wie viel direkte -Demokratie es trotz der jämmerlichen gesetzlichen Rahmen-bedingungen schon gibt. An mehr als 8000 Bürgerbegehren in den Städten und Gemeinden haben sich ja Millionen von Menschen beteiligt und in meinen Augen praktisch unter Beweis gestellt, dass sie zu vernünftigen, am Gemeinwohl orientierten Sachentscheidungen fähig sind. Das haben sie ganz bestimmt nicht in der Schule gelernt. Die Krönung war – kurz vor Corona – das Bienen-Volksbegehren in Bayern: Innerhalb von zwei Wochen haben sich etwa 1,8 Millionen Menschen mit ihren Ausweisen in die Rathäuser begeben, um für ein verbessertes Naturschutzgesetz zu unterschreiben. Doppelt so viele Unterschriften wie erforderlich sind zusammengekommen – ein deutliches Zeichen dafür, dass ich mich auf der richtigen Spur befinde.

AM  Seit gestern nachmittag, als ich hier ankam, haben wir uns ausgiebig auf dieses Gespräch eingestimmt. Ich konnte eure Abläufe beobachten und Pia und Lisa kennenlernen, die dich gerade begleiten. Warum bezeichnest du deine jeweilige Besatzung als deine »Band«?

WK  Weil es bei unserer Arbeit um die Entwicklung unserer Stimmen geht, sind mir von Anfang an musikalische Metaphern für unser Zusammenspiel eingefallen. Wir leben auf engstem Raum ohne Intimsphäre zusammen und haben ein volles Programm und unerbittliche logistische Notwendigkeiten zu erfüllen. Sich offen auf so etwas einlassen zu können, erfordert genau die Fähigkeiten, die Joseph Beuys mit seinem berühmten Satz »Jeder Mensch ein Künstler« angesprochen hat. Jede Band ist ein einmaliger sozialer Organismus, der viel mehr als die Summe der beteiligten menschlichen und nicht-menschlichen Mitspielenden ist. Besonders inspirierend finde ich, dass die weitaus meisten Bandmitglieder meine Enkelinnen oder Enkel sein könnten. Sie erweisen sich als überaus tauglich für die Arbeit an einer enkeltauglichen Zukunft. Sie sind frisch und unbefangen; und weil sie digitale Eingeborene sind, kann ich unabhängig von Raum und Zeit mit ihnen in Verbindung bleiben. Ihnen habe ich es zu verdanken, dass ich meine Stimme gefunden habe und immer gelassener und friedlicher geworden bin. Mit Pia und Lisa zum Beispiel fühle ich mich total geborgen und kann hier mitten im Betrieb ganz entspannt und unbesorgt mit dir reden.

AM  Ist das nicht verblüffend? Das Ambiente hier ist ziemlich trostlos, gestern habt ihr so gefroren, dass ihr ins Kino gegangen seid, um mal zwei Stunden im Warmen zu sein. Wir blicken hier auf den Hinterausgang eines Einkaufszentrums, die Architektur ist kalt und eckig. Trotzdem erzeugt der Omnibus eine Stimmung, dass ich mich selbst schon fast wie ein Bandmitglied fühle. Hast du eine Erklärung dafür?

WK  Ich bin ganz froh, dass du die Wirkung des Omnibus in einem Worst-Case-Szenario erleben kannst! Landeshauptstädte mag ich am allerwenigsten. Auf meinem Abendspaziergang stand ich letztens in Berlin vor einem der Eingänge eines Plattenbauriegels und zählte 60 Klingelschilder. Die Bevölkerung eines Dorfs lebt da in gerasterten Schachteln isoliert übereinander und nebeneinander her. Außerdem gilt: Je größer die Stadt, desto unmenschlicher die Verwaltung – da gibt es nichts zu verhandeln oder zu besprechen. Da herrschen Algorithmen. Natürlich wirkt der Omnibus am besten in tausend Jahre alten, organisch gewachsenen Städtchen, wo jedes Haus eine eigene Geschichte erzählt. Aber eingedenk des wörtlichen Sinns vom Omnibus kann und will ich mir die Standorte nicht aussuchen. Am Anfang der Tour bekomme ich einen Ordner mit den Sondernutzungsgenehmigungen, den ich zuverlässig abarbeite. Also stehe ich etwa 100 Mal im Jahr vor der Aufgabe, mich so gut wie möglich an einem Standort einzunisten. Du kannst dir selbst ausrechnen, wieviel Erfahrung sich da in 22 Jahren angesammelt hat. Und wenn du dir diesen Standort hier anschaust, kannst du feststellen, dass der Omnibus an der einzig stimmigen Stelle steht.

AM  Er sieht einerseits aus, als ob er schon immer dazu gehört hätte, und andererseits wie ein geheimnisvoller Besucher aus einer anderen Welt, der viele Fragen auslöst. Mir fällt da Christopher Alexander ein, der kürzlich 86-jährig verstorbene Architekt und Philosoph, dessen Lehren ich beim Bau unseres Hauses praktisch angewandt habe ...

WK  Oh ja, von Christopher Alexander habe ich viel gelernt! In Oya wurde mal meine handschriftliche Auflistung der »15 fundamental properties« – was ich als »15 universale Eigenschaften von Lebendigkeit« übersetzen würde – veröffentlicht (siehe Ausgabe 55). Die habe ich im Winter als großes Plakat jeden Tag vor Augen. Wenn ich unterwegs bin, helfen sie mir, lebendige Bezüge zu meiner jeweiligen Umgebung herzustellen und mich in gewachsene Ordnungen einzugliedern. Selbst in der stumpfsinnigsten Monotonie sind nämlich Spuren unverwüstlicher Vitalität zu finden – und im größten Lärm gibt es Inseln der Stille. Dafür ein Gespür zu entwickeln, kann ich jeden Tag üben, weil ich von Ort zu Ort unterwegs bin, auf der Suche nach Berührungspunkten und Gemeinsamkeiten. Im schlimmsten Fall wirkt der Omnibus wie ein schöner Schmetterling auf Asphalt.

Was für die Orte gilt, gilt natürlich genauso für die unzähligen Menschen, die ich jeden Tag studieren kann, wenn ich in offensiver Bereitschaft vor dem Omnibus stehe. Ich lasse sie in Ruhe und erfreue mich an ihrem Variantenreichtum. Allen, die freiwillig zu mir kommen, höre ich erst einmal zu – wobei das, was sie sagen, nicht die Hauptrolle spielt. Wie gesagt: Ich bin auf der Suche nach gemeinsamen Interessen. Davon gibt es mehr, als wir uns vorstellen können. Auch das Sprechen kann ich jeden Tag üben und verfeinern, aber die Substanz muss ich für jede Person neu als freie Improvisation aus meiner Mitte heraus erzeugen.

Als Kind wurde mir gesagt, ich sei ein Spinner und aus mir würde nie etwas werden. Jetzt kann ich aus dem Spinnen eine Kunst machen und bin voll in meinem Element. Mein Netz umspannt schon den ganzen Globus und versorgt mich mit Energie und Zuversicht.

AM  Du gehst deiner Lebensaufgabe nach. Ist das der Grund, warum du es immer wieder schaffst, dir nicht die Laune verderben zu lassen?

WK  Ja, das habe ich dem Omnibus zu verdanken. Ohne den Omnibus wäre ich wahrscheinlich schon tot oder bestenfalls ein zynischer Klugscheißer geworden. Vor etwa 150 Jahren wurde von einem deutschen Botaniker das schöne Wort »Symbiose« erfunden, um Flechten zu klassifizieren. Damals war eine Bezeichnung notwendig geworden, die ausdrückt, dass sich Pilze und Algen zu einer Lebensgemeinschaft verbunden hatten, deren Fähigkeiten weit über die Fähigkeiten der einzelnen Partner, die sich vorher getrennt voneinander entwickelt hatten, hinausging. Flechten sind ganz erstaunliche Wesen. Sie können unter den extremsten Umständen überleben – dort, wo nichts anderes lebt und wo auch die einzelnen Partner allein nicht leben könnten. Sie können Ökosysteme vorbereiten, indem sie Steine verdauen. Sie sind ganz unscheinbar überall verbreitet und ihre Schönheit und Vielfalt erschließt sich nur denen, die ganz genau hinschauen. Als Heilmittel haben sie eine sehr vitalisierende Wirkung. In Finnland gibt es eine Flechte, die neuntausend Jahre alt ist. Mit den heutigen wissenschaftlichen Instrumenten wird immer deutlicher, dass es noch mehr Beteiligte in diesem Zusammenspiel gibt.

In diesem Gleichnis wäre ich der Pilz und der er-fahrungen.org die Alge – oder umgekehrt. Und meine Band wären alle Menschen, die sich freiwillig unter die gemeinsame Hülle begeben. Die Vorstellung, dass Pilz und Alge Streit anfangen könnten, ist völlig absurd – ein solcher Organismus kann nur in friedlichem Einklang existieren. Das ist das, was ich als unseren »Groove« bezeichne. Ich habe 15 Jahre gebraucht, um das zu begreifen, und habe mich seitdem in einen unverbesserlichen Friedensapostel verwandelt. Seit sieben Jahren laufe ich barfuß, um mit dem Boden der Tatsachen besser verbunden und näher dran am Leben zu sein, das sich als reichhal-tiges Füllhorn erweist. Ungeahnte Potenziale entfalten sich da ...

Puh, das war jetzt ein richtiger Wortschwall. Dabei empfehle ich meiner Band immer: »So wenig Worte wie möglich!« und übe mich in epistemologischer Askese. Ich hoffe, ich konnte das Unbeschreibliche durch das Bild der Flechte deutlicher machen.

AM  Die Commonsforscherin Silke Helfrich hatte mir letztes Jahr, wenige Wochen vor ihrem Tod, von ihrer Begeisterung für das Pilz-Myzel erzählt und davon, wie Flechten Steine in den Kompostierungsprozess einbinden und so sehr langlebige Beziehungen eingehen. Diese Art der Symbiose und die »Geduld« der Flechten ist mir seitdem ein Vorbild für meine Beziehungen zu anderen Menschen wie auch zur mehr-als-menschlichen Welt und für mein Verständnis von Wirksamkeit.

Du hast dich als Symbiont des er-fahrungen.org beschrieben. Was könnte in einem Flechten-Bestimmungsbuch über dich zu lesen sein?

WK  Ich bin ein weißer alter Mann mit einem Dutt aus weißen Haaren. Meine Lieblingsfarbe ist schweinchenrosa. Von hinten oder auf den ersten Blick werde ich oft für eine Frau gehalten. Ich laufe barfuß. Auf Kongressen brauche ich nie ein Namensschildchen. Auch nach Jahren können sich die meisten Menschen gut an mich erinnern. Nicht nur vor dem er-fahrungen.org werde ich von immer mehr wildfremden Menschen angesprochen, die sich für mein Wesen interessieren. Als mich Pia letztens »Flamingo« genannt hat, musste ich herzlich lachen, denn so fühle ich mich auch: wie ein seltsamer Vogel. Ich muss nur noch üben, auf einem Bein zu stehen.

AM  Von Anfang an bist du ein Wegbegleiter von Oya. Vor sechs Jahren, in Ausgabe 40, als Oya sich schon einmal in einem Wandlungsprozess befand, hast du uns diesen inspirierenden Satz geschenkt: »Geh nach Hause und kümmere dich um die Bienen!« Welche Bedeutung haben die Bienen heute für dich?

WK  In seinem Buch »Honeybee Democracy« hat der amerikanische Biologe Thomas D. Seeley anschaulich beschrieben, welche dynamisch pulsierenden Abstimmungsvorgänge das Leben eines Bienenvolks regeln. Da gibt es keine Wichtigtuer, keine Machtspiele und individuellen Eitelkeiten. Und wenn die Population ein gesundes Maß überschreitet, wird sogar gemeinschaftlich eine neue Königin herangefüttert als »Große Mutter« für ein neues Volk. Das ist für mich ein Urbild des friedlichen Gemeinschaffens in vollem Einklang mit dem großen Ganzen. Und jede einzelne Biene unterscheidet sich von allen anderen. Angesichts solcher Formen des Zusammenspiels schrumpfe ich demütig und andächtig auf meine Winzigkeit in Zeit und Raum zusammen und suche nach Möglichkeiten einer angemessenen »Sozialen Praxis«, die ich jederzeit und überall friedfertig und gelassen -anwenden kann. So stelle ich mir Frieden und Gelassenheit vor.

AM  Ich verstehe unser Gespräch als Einladung an alle, dich am Omnibus zu besuchen. Danke, Werner! //


Der gepflasterte Vorplatz, auf dem der »Omnibus für direkte Demokratie« während seines zweitägigen Aufenthalts im Stuttgarter Stadtbezirk Vaihingen stand, bildet ein Dreieck zwischen Einkaufszentrum und vielbefahrener Haupt- und einer Seitenstraße. Konsumlärm dröhnte auf den eckigen, kalten Ort ein; Wind pfiff um die scharfkantige Glasfront des Einkaufszentrums. Gleich gegenüber liegt das verschnörkelte, rote Bürgeramt der Stadtbezirksverwaltung. Oya-Rat Werner Küppers (72) hatte den Omnibus für direkte Demokratie zu allem hier sorgfältig in Beziehung gesetzt: Bei der Ankunft fuhr er ihn, wie so oft, noch einen Zentimeter vor und zurück, bis der Omnibus tatsächlich zu einem Teil der Architektur wurde. Immer wieder zog es Vorbeigehende zu Werner und seinen aktuellen »Bandmitgliedern« Pia und Lisa an den Omnibus, wo sich Gespräche entwickelten.

omnibus.org
er-fahrungen.org

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