Die Traumatherapeutin und Gemeinschaftsberaterin Sucha Gesina Wolters weiß, wie Menschen sich durch Liebe und Verlust berühren lassen und durch Bezogenheit und Demut Visionen ins Leben bringen können.von Luisa Kleine, Sucha Gesina Wolters, erschienen in Ausgabe #71/2022
Luisa Kleine Ich bin dankbar dafür, mit dir sprechen zu können; ich kenne wenige Menschen, die so viele Facetten vom Leben in Gemeinschaft kennenlernen konnten wie du. Du hast selbst lange in Gemeinschaft gelebt, viele Gemeinschaften in sozialen Prozessen begleitet, du bildest Menschen in dieser Arbeit aus und wirkst als Traumatherapeutin. Was ist deine früheste Erinnerung an eine liebevolle Geste, die dir jemand geschenkt hat?
Sucha Wolters Ich war sechs und die liebevolle Geste kam von meiner damals 86-jährigen Tante Amanda. Meine Eltern waren beide stark traumatisiert und hatten entsprechend immer wieder auch sehr ruppige Erziehungsmethoden. Wenn ich von meinem Vater ohne Abendbrot ins Bett geschickt wurde, kam meine Tante Amanda über die Hintertreppe hoch zu mir und brachte mir – was auch immer sie sich dabei dachte – einen Apfel und eine Weinbrandbohne. Es hat einen bleibenden Eindruck in mir hinterlassen, dass ein viel älterer Mensch, ohne meinen Vater zu beschämen, zu mir kam und mir so vermittelte: Du bist in Ordnung!
LK Was ist deine früheste Erinnerung an Gemeinschaft?
SW Als kleines Mädchen saß ich in der Erntezeit mit den Frauen des Dorfs an einem langen Tisch und wir putzten Bohnen. Dort wurde über alles geredet, auch über Abtreibung, Ehebruch und Vergewaltigungen. So wuchs ich in einer Welt auf, in der diese schrecklichen Dinge Teil des Lebens waren, die Menschen damit aber nicht allein blieben. Ich lernte in meinem Leben immer wieder, in mir einen Ort zu finden, an dem ich gleichzeitig mit dem Licht sein und den Schatten anschauen kann.
LK Wie hat es sich ausgewirkt, dass deine erste gemeinschaftliche Erfahrung so von Frauen geprägt war?
SW Lange Zeit – während ich Mathe und Physik studierte – habe ich mich eher an männlichen Prinzipien orientiert. Jetzt kehre ich quasi zu meiner Tante Amanda zurück und merke, dass ich mit Menschen am liebsten mit einer Schüssel auf dem Schoß unterm Pflaumenbaum sitze. Die Großmütter meiner Kindheit haben oft gesagt, dass wir immer etwas mit den Händen zu tun haben sollten. Lange hielt ich das für unemanzipatorisch, merke heute aber, wie anders ich denke, wenn meine Hände beschäftigt sind. Das Denken kommt dann mehr aus dem Körper. Als Therapeutin merke ich oft, dass unsere Hände vieles früher wissen als der Kopf. Wenn ich meine Klienten auf ihre Gesten aufmerksam mache, staunen sie oft, dass ein Teil von ihnen schon weiß, wohin sie wollen – die Hände sind die ersten!
LK Wie bist du dann vom Bohnenputzen zu Lebensgemeinschaften gekommen?
SW In meinen ersten Lebensjahren befand ich mich im Wesentlichen in einem grauen und kummervollen Kokon, der viel mit Überleben zu tun hatte. Doch daneben verlief auch eine warme Spur. Schon in der Schule gab es Freundinnen, zu denen ich gehen konnte. Mit 18 bin ich ausgezogen – dünn, schwarzgekleidet und zynisch. Im Studium habe ich jahrelang in Wohngemeinschaften gelebt, in denen ich auch mit sozialen Zusammenhängen beschenkt wurde, die es zu Hause nicht gab.
Eines Tages öffnete ich in meiner WG den Kühlschrank und merkte dabei, dass ich gar nichts essen, sondern nur meiner Mitbewohnerin nachweisen wollte, dass sie nicht einkaufen war. Ich habe mir selber beim Gemeinsein zugeguckt und fand das unerträglich! Und deshalb habe ich mich dazu entschieden, so lange allein zu wohnen, bis ich wirklich mit Menschen leben konnte. In diesen Jahren brach für mich eine schwere, dunkle Zeit an: Als ich 27 war, ist mein Vater tödlich verunglückt; als ich 28 war, hat sich einer meiner Brüder umgebracht, als ich 29 war ein anderer meiner Brüder auch; als ich 30 war, wurde bei meiner Mutter ein Hirntumor diagnostiziert, und als ich 31 war, ist sie gestorben. Heute ist diese Dunkelheit nicht mehr so präsent. Die Tränen kommen mir jetzt eher aus Mitgefühl für mein jüngeres Selbst. Ich war ja in einem Alter, in dem man ins Leben aufbricht. Es war schrecklich, dass ich über Jahre hinweg nicht trauern konnte, sondern wie erstarrt durchs Leben gegangen bin.
LK Wie ist dein Leben dann wieder ins Fließen gekommen?
SW In jener Zeit, Ende der 1980er Jahre, reisten viele sinnsuchende Menschen ins indische Poona, in den Ashram von Osho. Hier in Deutschland gründeten sogenannte Sannyasins, die dort gewesen waren, Kommunen, um nach seinen Lehren zu leben, darunter auch einer meiner Freunde. Nächtelang diskutierte ich mit ihm und fand diesen Kult um einen glubschäugigen, alten Mann fürchterlich! Damals las ich Adorno und Horkheimer und arbeitete in einer linken Buchhandlung. Ich wollte die Welt verändern, aber nicht mich. Aber als meine Mutter in der Nähe einer dieser Gemeinschaften beerdigt wurde, konnte ich den Wunsch meines Freundes, dass ich dorthin mitkäme, nicht ausschlagen. Gerade waren meine Eltern und zwei meiner Brüder gestorben, und in mir war diese abgrundtiefe, dunkle Hölle.
Gleichzeitig war um mich herum das sprudelnde Leben! Menschen feierten ausgelassen und begegneten einander auf herzliche, offene Art. Als mein Freund mich bald danach mit nach Poona nahm, schimpfte ich immer noch wie ein Rohrspatz über den Guru-Kult. Dann überließ mir eine Frau ihren Platz in der ersten Reihe vor Osho. Er segnete uns, und plötzlich war es, als würde ein riesiger Sturm durch mich hindurchfahren. Für einen Moment waren alles Dunkle, aller Schrecken und aller Blödsinn wie weggefegt. Es war hell und weit. Das war für mich so ein beeindruckendes Erlebnis, dass ich beschloss, auch Sannyasin zu werden. Als ich aufstand, um meinen Namen zu empfangen, musste ich plötzlich lachen. Es war, als hätte jemand eine Quelle geöffnet, die unaufhörlich aus meinem Bauch sprudelte. Die Frau, die mir den Sannyasin-Namen geben sollte, sagte: »Ich glaube, sie weiß ihren Namen schon …« – »Sucha« bedeutet reine Glückseligkeit. Ich hatte wirklich gedacht, dass ich unter einem Fluch stünde; kaum zu glauben, dass ich dort dann diesen Namen bekam! In der Osho-Szene sind viele Fehler passiert: Menschen haben ihre Verantwortung abgegeben und sind dem Lehrer blind gefolgt, Macht wurde missbraucht – dazu kann ich den Film »Die Deutschen und der Guru« empfehlen. Heute bin ich keine Sannyasin mehr, und es ist mir egal, ob Osho meinen Namen wirklich ausgesucht hat – aber dieser Name hat mein Leben gerettet! Deswegen trage ich ihn heute noch. Ich schaute mir danach einige Sannyas-Gemeinschaften an, doch dort fehlte mir das Geistige und Politische. 1995 zog ich ins ZEGG (Zentrum für experimentelle Gesellschaftsgestaltung in Belzig bei Berlin), wo ich dann 18 Jahre lang lebte. Wir wollten damals eine Gemeinschaft gestalten, in der das Ganze des Menschen Platz haben sollte – also das Geistige, Körperliche, Emotionale und Spirituelle gleichermaßen. Wir wollten eine authentische, nachhaltige und kooperative Kultur schaffen, die in die Gesellschaft hineinwirkt.
LK Das ZEGG war auch umstritten. Dort wurde damals viel zu befreiter Sexualität geforscht, und Menschen haben dadurch auch Grenzverletzungen erlebt. Wie können Gemeinschaften erkennen, ob ein Raum sicher genug ist, um mit sozialen Prozessen zu -experimentieren?
SW Wir haben damals viele Fehler gemacht, weil wir zu wenig über unsere Nervensysteme wussten. In den letzten Jahrzehnten fand viel Forschung zu Traumata und deren Folgen statt, was uns auch in Gemeinschaften sehr helfen kann. Wir Menschen haben heute noch eine Physiologie, wie wir sie während tausenden von Jahren in der Wildnis gebraucht haben. Damit sitzen wir heute in unseren Gemeinschafsplena. Sobald das Wort »Entscheidung« fällt, nimmt die Geschwindigkeit zu, die Stimmen werden heller, die Pausen weniger. Wenn ich mir das als Traumatherapeutin anschaue, sehe ich Menschen im Stressmodus, deren Nervensysteme mit Totstellen, Flüchten oder Kämpfen reagieren. In solch einem Zustand lassen sich keine guten Entscheidungen fällen.
In den letzten Jahren wurde viel zum Vagusnerv geforscht, der ein wesentlicher Bestandteil des vegetativen Nervensystems ist und zur Regulation fast aller inneren Organe beiträgt. Unter anderem ist er dafür da, innerhalb von Sekundenbruchteilen anhand des Gesichts und der Stimme eines Menschen zu erkennen, ob dieser freundlich oder feindlich gesonnen ist. Man vermutet, dass Säugetiere das brauchten, um reflexhaft reagieren zu können. Wenn Menschen unter Stress geraten, schaltet diese Nervenverbindung ab. Wenn zum Beispiel ein Beziehungsstreit eskaliert, kann man nicht mehr spüren, dass das Gegenüber der Mensch ist, den man liebt. Das ist kein emotionales Versagen, keine Charakterschwäche, sondern ein physiologischer Vorgang, der es unmöglich macht, Zuneigung dann noch zu fühlen. Eigentlich hat es gar keinen Sinn, weiterzusprechen, bevor sich die Nervensysteme beruhigt haben. Ich bin an dieser Stelle so leidenschaftlich, weil ich das aus Unkenntnis selbst lange anders gemacht habe.
Ein Trauma – griechisch für »Wunde« – entsteht durch Ereignisse oder andauernde Situationen, die als belastend empfunden werden, nicht verarbeitet werden können und im Körper gespeichert werden. Häufig sind es schwierige Umstände in der frühen Kindheit – so genannte »Entwicklungstraumata« –, die ein Leben lang prägend wirken. Eine Traumafolgestörung – sowohl bei Individuen als auch kollektiv – ist die »Grenzblindheit«: Traumatisierte Menschen können ihre und die Grenzen anderer oft nicht wahrnehmen. Das ist keine moralische, sondern eine physiologische Blindheit! Für viele von uns sind Dinge normal geworden, die eigentlich typisch für Traumafolgen sind: Wenn wir etwa keinen guten Umgang mit Nicht-Fühlen, mit Warten, mit Innehalten, mit Nicht-Wissen oder mit Grenzen haben.
LK Seit zehn Jahren arbeitest du nun als Traumatherapeutin. Welche Erfahrungen hast du in der Transformation von Traumata gemacht – und was können Gemeinschaften dazu beitragen?
SW Was wichtig ist, um Traumata zu transformieren, ist Bezogenheit: Ich muss mich also als Teil eines lebendigen Zusammenhangs begreifen. Individuelles und kollektives Trauma schafft immer Trennung – zu mir selbst und meinem Körper, zu anderen Menschen oder zur Welt. Verschiedene Menschen, die das Gleiche erleben, können daraus ein Trauma mitnehmen oder eben nicht. Nach dem aktuellen Wissensstand kann die bezogenere Person Erschütterungen besser verarbeiten. Mit »Bezogenheit« meine ich hier etwas anderes als »oberflächliche Harmonie« oder »Verbindung«. Eine Gemeinschaft kann im Kreis stehen, sich an den Händen halten – und von außen mag das sehr verbunden aussehen. Aber womöglich sind viele Mitglieder innerlich gar nicht richtig da, sind gestresst und fühlen sich allein oder im Widerstand. Mit dem Wunsch nach Verbindung blenden sie die Trennung aus – jene Stellen, an denen sie sich nicht verbinden können, an denen sie blind, taub, begrenzt sind. »Bezogenheit« bedeutet für mich, auch diese Stellen bewusst wahrzunehmen, anzuerkennen und zu einem Teil der Beziehung werden zu lassen.
LK Also ist es für die Transformation von Traumata vermutlich wichtig, in einem ersten Schritt diese Stellen anzunehmen. Das erinnert mich an das Gespräch, das wir für diese Ausgabe mit Johannes Heimrath (siehe Seite 89) geführt haben. Er sprach davon, mit etwas einverstanden zu sein, ohne es zu billigen.
SW »Billigen« ist ein tolles Wort dafür. Oft wird dieser Punkt als ein inhaltliches Einverstandensein missverstanden, nicht als Anerkennen der Tatsache, dass etwas eben so ist, wie es ist. Das ist ein großer Unterschied!
LK Welche Enttäuschungen hast du in Gemeinschaft erlebt?
SW Als ich frisch ins ZEGG gezogen war, hatte ich Kontakt zum Sektenbeauftragten der Kirche. Der aufgeschlossene Mann sagte mir damals: »Die Kirche nimmt Ihnen gar nicht übel, dass Sie dem sexuellen Thema so viel Bedeutung geben. Sie nimmt Ihnen übel, dass Sie das Paradies auf Erden versprechen.« Ich rümpfte erst die Nase und vergaß diesen Gedanken wieder. Aber dann ist er wie ein Holzwurm durch mein geistiges Gebälk gekrochen und hat immer weiter in mir genagt. Eine Erkenntnis, die ich mit dem Leben in Gemeinschaft wie auch als Gemeinschaftsberaterin gemacht habe, ist genau diese: Das Paradies ist nicht auf Erden.
Oft haben Menschen, die eine Vision haben, ein ganz klares und helles Bild. Aber sobald die Vision durch Entscheidungen Stück für Stück in die Welt gebracht wird, müssen Abstriche gemacht werden. Das ist Teil der Materialisierung. Früher dachte ich, in den Projekten würde irgendetwas falsch laufen, wenn sie sich nicht so wie visioniert entwickelten. Es ist schwer, der Erkenntnis beizuwohnen, dass das, was Menschen erträumt haben, nicht wirklich wurde, sondern nur ein kleiner Teil davon – oder etwas ganz anderes. In meinem Leben gab es vieles, was ich bedauere, aber ich bin nicht enttäuscht. Das hat auch mit Demut zu tun – gegenüber dem, wie es nun mal ist, wie viel wir in einem Menschenleben erreichen können und in welcher Geschwindigkeit sich Dinge entwickeln. Oft geben Menschen in Gemeinschaften Visionen nicht genügend Zeit. Bildlich gesprochen, reißen sie die Pflanze aus dem Boden und beschweren sich darüber, dass sie noch keine Wurzeln hat. Es ist eine Kunst, eine Vision in ihrer ganzen Größe in sich zu beheimaten und gleichzeitig das zu würdigen, was gerade möglich ist.
LK Wie lebst du heute?
SW Ich bin Teil einer großen »Sangha«, einer spirituellen Gemeinschaft, die nicht am selben Ort zusammenlebt. Und ich habe nach 28 Jahren Beziehung endlich geheiratet und werde mit meiner Frau, die ich in einer Gemeinschaft kennengelernt habe, in drei Wochen das erste Mal in eine gemeinsame Wohnung ziehen – daran freue ich mich sehr!
LK Gibt es etwas, das du gern an jüngere Menschen weitergeben möchtest?
SW Eine wirklich weitreichende Entdeckung in meinem Leben war es, wie sehr es sich lohnt, dranzubleiben – an einer Tätigkeit, einer Beziehung, einer Gemeinschaft oder an einer spirituellen Praxis. Auch wenn es schwierig ist, auch wenn es nicht zur Vision passt, auch wenn man zwischendurch nicht mehr weiß, warum man es macht. Ich habe so viele Geschenke in meinem Leben bekommen, wenn ich im Inneren oder Äußeren drangeblieben bin!
Als du mich gefragt hast, als eine »Älteste der Gemeinschaftsbewegung« zu sprechen, dachte ich, ich müsste ganz große Gedanken äußern. Jetzt kommen mir nur ganz schlichte: Weine um einen Verlust! Lass dich von etwas Schönem ergreifen! Lerne, dich wirklich zu entschuldigen – also etwas zu bereuen, anstatt Schuldgefühle zu haben! Lerne, mehr Bezogenheit zu wagen! Wenn solche Fähigkeiten geübt werden, ist Gemeinschaft viel einfacher. Es macht einen großen Unterschied, wenn Menschen sich von etwas Berührendem ergreifen lassen und etwas bereuen können. Diese Dinge finde ich wesentlich. Damit lässt sich eine Gemeinschaft aufbauen, eine Familie gründen oder Chirurgin werden.
LK Hab vielen Dank! //
Hinter dem Gebäude in Bad Belzig, in dem Sucha Gesina Wolters (65) bis November 2022 in einer Hausgemeinschaft lebte, liegt der Gemeinschaftsgarten. Als dieses Foto Ende Oktober entstand, hatte Sucha gerade geheiratet und der Umzug ins Nachbardorf stand kurz bevor. Unter dem Apfelbaum wurde ihr plötzlich gegenwärtig, wofür sie sich bis dahin keine Zeit genommen hatte – sie begann zu trauern und Abschied von dem Ort zu nehmen. In diesem Moment flossen zwei Aspekte zusammen, die Gemeinschaften oft auseinanderdriften lassen: Die eine Kraft will alles verändern, die andere will erhalten, was da ist. In ihren Coachings rät Sucha, zu ergründen, welcher Pol sich gerade stimmig anfühlt und wie sich beide vereinen lassen.
Wer mit Sucha in Kontakt treten möchte, kann ihr schreiben: sucha.w–ÄT–gmx.net