Commonie

Wie wichtig ist es, miteinander verwandt zu sein?

Die Diskussion um Queer-Feminismus und Matriarchat in Oya 62 bewegt die Gemüter. Frauen aus verschiedenen Generationen im leidenschaftlichen Austausch.von Friederike Habermann, Veronika Bennholdt-Thomsen, Heide Göttner-Abendroth, Andrea Vetter, erschienen in Ausgabe #63/2021

Veronika Bennholdt-Thomsen schreibt zum Artikel »Queerfeminismus und Matriarchat«
in Ausgabe 62:

Vier kluge, welterfahrene Frauen, kenntnisreich in der Materie, diskutieren miteinander. Was für eine Freude! Dennoch fühle ich mich unbehaglich hinsichtlich des Gesamteindrucks, den das Gespräch hinterlässt. Wieso, frage ich mich, sind die Meinungen doch durchaus vielfältig (vierfältig) und keineswegs unisono? Dennoch scheint mir die Aura der Unsichtbarkeit und des schamvoll Unsagbaren um »Mutter«, »gebären«, »Weiblichkeit« und »Mütterlichkeit«, die die gegenwärtige Alternativszene pflegt, nicht überwunden. 

Erst einmal stolpere ich über einzelne Aussagen. Andrea Vetter: »Ökofeministinnen meinten …, sie verstünden ›Frau‹ als Klasse, also als Gruppe von Menschen, die weltweit ein bestimmtes Unterdrückungsverhältnis teilt.« Ich selbst werde als Ökofeministin bezeichnet (und bin mit der Einordnung samt meiner Subsistenz-perspektive ganz zufrieden). Als solche muss ich Andrea Vetter widersprechen. Aber zunächst: Ja, die weltweit vorherrschende patriarchale Ordnung fußt auf der Unterdrückung der Frau, speziell durch die Kontrolle über ihre Gebärfähigkeit. Weder aber herrscht die Ordnung durchgängig – siehe matriarchale Gesellschaften – noch ungebrochen. Die lebensfördernde Stärke von Frauen war und ist unser ökofeministisches Thema, etwa auch von Maria Mies und Vandana Shiva, um von denjenigen zu sprechen, die mir inhaltlich besonders nah sind. Der entscheidende Punkt meines Widerspruchs: »Klasse« signalisiert Einordnung in ein marxistisches Kategoriensystem, in dem Frauen tatsächlich aber nicht mitgedacht wurden. Dabei hatten wir doch just mit der Kritik daran unsere feministische Analyse begonnen. 

Bei Friederike Habermanns Zusammenfassung der 1980er Jahre und des Differenzfeminismus krampft sich mein Magen. Entstanden sei die Richtung um den Kernsatz herum, »Frauen sind emotional« und »emotional sein ist besser«, in Gegenposition zur herrschenden Ideologie, Frauen seien nicht rational wie Männer. Die aufblühende Frauen- und Geschlechterforschung war gerade hinsichtlich der Demaskierung dieser Ideologie eine besonders spannende, erkenntnisreiche Zeit. Philosophinnen, Historikerinnen, Anthropologinnen, Juristinnen, Ökonominnen, Soziologinnen, Biologinnen usw. analysierten die Konstruktion der patri-archalen Rationalität und zeigten, dass und inwiefern sie auf der Verachtung des Weiblichen beruht, die die Grundlage der Hexenverfolgung in der beginnenden Neuzeit war, dem anbrechenden Zeitalter der Vernunft. 

Friederike Habermann fährt fort: »Queerfeminismus macht … deutlich, dass es unseren ›natürlichen‹ Körper nicht gibt«. In welchem Kontext wird hier diskutiert? Im Kontext und in Abwehr der patriarchalen Geschlechterideologie des globalen Nordens der letzten circa 300 bis 400 Jahre – so als hätte es die erwähnten feministischen Beiträge gar nicht gegeben. Dagegen ging es im Kontext der Frauen- und Geschlechterforschung zumal der 1980er und 1990er Jahre gerade darum, die Verwobenheit von natürlichem und sozialem Geschlecht weiter zu erforschen, sowie deren Vielfalt und historische Prozesshaftigkeit darzulegen. Weshalb, so frage ich mich, wird im Queerfeminismus an einem starren Naturbegriff festgehalten bzw. gegen denselben »gekämpft«, wie Don Quijote gegen die Windmühlen? Dabei leben wir in einer Zeit des wachsenden Ökologiebewusstseins, wodurch die Verwobenheit von menschlicher und Naturgeschichte mehr als fühlbar ist – und wo deutlich wird, wohin die Ignoranz gegenüber der untrennbaren Verbindung von menschlicher Natur und mehr-als-menschlicher Natur führt. Im Wesentlichen besteht die Ignoranz des mit Bewusstsein begabten Menschen darin, leider eben nicht mit dem lebendigen Prozess von Werden und Vergehen zu kooperieren. Der Jahrhunderte, in Ansätzen Jahrtausende, alte Versuch, den Naturzusammenhängen zu entkommen, ihnen sozusagen fortgesetzt ein Schnippchen zu schlagen, gipfelt in der Gegenwart in einem zerstückelnden Eingriff in die Mechanismen der Reproduktion selbst, statt mit dem Lebensprozess von Tieren, Pflanzen, des Bodens, des Wassers, der Luft zusammenzuwirken. Dahinter steht der toxisch patriarchale Geist, die Reproduktion nicht nur beherrschen, sondern selbst Leben hervorbringen zu wollen. (Eigentlich würde ich am liebsten schreiben »gebären« zu wollen. Aber das verkneife ich mir hinter dieser Klammer.) Was hindert Menschen mit einem anderen als heterosexuellen Begehren und/oder einer anderen als heterosexuellen sozialen Identifikation daran, anzuerkennen, dass sie von einer Mutter geboren wurden und fortgesetzt von ihr und anderen Menschen bemuttert wurden? Was hindert, ein Verständnis der Erde als »Mutter Erde« zu haben, als der Voraussetzung für unser aller Subsistenz – so wie die Mutter die Voraussetzung dafür ist, dass wir am Leben sind? Wäre es nicht an der Zeit, der Geringschätzung des Mütterlich-Weiblichen etwas entgegenzusetzen und ihm die Würde zuzuschreiben, die dem Lebenspendenden gebührt? Das wäre in der Tat die Basis für ein anderes, enkeltaugliches zivilisatorisches Paradigma als das des toxisch patriarchalen individualistischen Eigennutzmodells der Wachstumsökonomie. Aus meiner sozialanthropologischen, empirischen Erfahrung heraus kann ich Lara Mallien nur beipflichten, wenn sie zum Abschluss sagt »Mir scheint, Matriarchate sind ziemlich queer.«


Oya-Autorin Friederike Habermann antwortet darauf: 

Liebe Veronika, danke für deine Rückmeldung. Das ehrt uns sehr, denn du bezeichnest dich zu recht als »Großmutter des heutigen Feminismus«. 

Darin liegt vielleicht auch schon die unterschiedliche Wahrnehmung des Differenzfeminismus in den 1980er Jahren begründet – beziehungsweise der Grund dafür, dass sich dir beim Lesen meiner Erinnerung der Magen krampft. Sorry dafür übrigens... Denn wenn ich auch durchaus ebenfalls schon Großmutter sein könnte, und auch die Tochter meiner Liebsten, bei deren Geburt ich dabei war, soeben selbst ihr zweites Kind geboren hat: In den 1980ern war ich Jugendliche auf dem Land. Zwar hatte ich 1982 den lokalen feministischen Kaffeeklatsch mitbegründet, aber im Grunde waren wir einfach eine Clique von Freundinnen. Mit Theorie hatte das nichts zu tun. Bei uns kam an, was als feministischer Alltagsverstand durchsickerte. Das ist natürlich nicht mit dir zu vergleichen, die du damals als eine der drei sogenannten Bielefelderinnen zu den wichtigsten Feministinnen gehörtest. Dass du also eine differenziertere Position hattest als das, was bei mir ankam – was ich auch umschreiben könnte mit »Frauen sind emotionaler, darum friedfertiger und besser« – ist keine Frage.

Doch wenn du dann verweist auf die historischen, anthropologischen, philosophischen etc. Analysen, wie es zu dieser Zuteilung auf die Geschlechter gekommen ist, dann sehe ich darin die nächste Phase der Forschung unter dem Stichwort -»Konstruktion«. Unter Differenzfeminismus fasse ich Ansätze, die die Unterdrückung der als weiblich verstandenen Charaktereigenschaften, Praktiken etc. vollkommen zu recht und oft sehr beeindruckend analysierten, sie aber nicht gleichzeitig als konstruiert verstanden. 

Schleierhaft ist mir, wieso du dem Queerfeminismus ein Festhalten an einem starren Naturbegriff vorwirfst. Das Gegenteil ist doch der Fall! Erst im Queerfeminismus ist die Unterscheidung von sex und gender aufgehoben worden, also von einer strikten Trennung in »gegebenes biologisches Geschlecht« und »konstruiertes soziales Geschlecht«. Vor allem Judith Butler hat gezeigt, dass die gesellschaftliche Prägung auch unsere Körper formt, dass wir zwar Biologie sind, diese Biologie jedoch nicht ohne Gesellschaft gedacht werden kann, dass wir alle sterben werden, es aber keinen natürlichen Todeszeitpunkt gibt, sozusagen nach Abzug unserer Ernährungsweise, unserem Wohnort, unserer Krankenversicherung etc. Was ist sie dafür beschimpft worden! Im Text »Die Frau ohne Unterleib« zum Beispiel, von Barbara Duden. Bei Butler gebe es nur Diskurs, keine Körper mehr etc.

Warum wirfst auch du mir/uns so viel vor, was wir nicht gesagt haben? Als Queerfeministin sehe ich mich durchaus als Teil der Mitwelt; und nicht erst nach dem material turn auch im Queer-Feminismus, der genau diese Verbindung stark macht. 

Und natürlich bin ich von einer Mutter geboren worden und auch, was ja nicht selbstverständlich ist, von ihr bemuttert worden, aber erstens, wie du es schreibst, auch von anderen, und zweitens hat meine Mutter es nicht freiwillig gemacht. Es waren patriarchale Verhältnisse, die dazu führten – warum sollte ich es also betonen? Etwas zu betonen, falls nicht aus deutlich kritischer Perspektive, macht es stark, reproduziert es. Ich betone in der Regel auch nicht, dass ich weiß bin. Und ich mache kein Verhältnis stark, unter dem meine Mutter litt.


Heide Göttner-Abendroth schreibt zum selben Artikel: 

Ich will euch gerne ein spezielles Feedback zu dem Artikel Feminismus und Matriarchatsforschung geben. Ich denke über das Verhältnis Feminismus – Matriarchats-forschung schon sehr lange nach, denn ich bin in beidem zu Hause, und bringe es immer in meine Studiengänge ein, bin also bestens damit vertraut. Es gibt darin ein paar Punkte, die problematisch sind. Ich würde gerne im Folgenden auf einige Unklarheiten näher eingehen. 


1. Differenzfeminismus und Matriarchat

Differenzfeminismus wird hier ziemlich eng verstanden, dass nun Frauen mit ihren spezifischen Eigenschaften die »besseren« Menschen wären. So verstanden, ändert das an den bestehenden patriarchalen Verhältnissen wenig. Im weiteren Differenzfeminismus eingeschlossen ist aber auch die Kritik am Patriarchat und seine Überwindung – während im Gleichheitsfeminismus die Beteiligung von Frauen an diesem System gesucht wird. Das wurde hier nicht berücksichtigt.

Der spezifische Unterschied zwischen Frauen und Männern besteht nicht in irgendwelchen beliebigen, austauschbaren, umwertbaren Eigenschaften, sondern darin, dass Frauen Mütter sein können und sind. Das ist durchaus ein entscheidender Unterschied – auch wenn die Bedeutung von Mutterschaft in patriarchalen Gesellschaften verleugnet wird und Mütter unsichtbar gemacht werden. Dies hat der Gleichheitsfeminismus gar nicht und der Differenzfeminismus kaum in den Blick bekommen.In matriarchalen Gesellschaften wird Mutterschaft zu einem kulturellem Modell gemacht, indem matriarchale Werte vom prototypischen Verhalten der Mutter abgeleitet werden: Nähren, Pflegen, Gegenseitigkeit, Konsens, Friedenssicherung. Dies ergibt eine völlig andere Gesellschaftsstruktur, die in jeder Hinsicht mit der Kritik am Patriarchat verbunden ist.Es geht daher nicht um die Schiene »Frauen – Männer«, wie im Feminismus, sondern es geht in der modernen Matriarchatsforschung (MMF) um zwei grundlegend verschiedene Gesellschaftsformen, in denen Frauen und Männer und Diverse vorkommen. Daher überschreitet die MMF auch den Differenzfeminismus in seiner weiteren Form (der meist in Patriarchatskritik stecken bleibt). Matriarchatsforschung ist grundlegende Kultur- und Gesellschaftsforschung und gehört nicht zu einer ersten oder zweiten »Welle« von Feminismus, sondern ist eine »Welle« und ein weites Wissensgebiet für sich. 


2. Matriarchat und »Mutterkult«

In Matriarchaten sind Mütter im Zentrum. Dabei gilt jede Frau, ob sie nun eigene Kinder hat oder nicht, als »Mutter«, z.B. pflegen und hüten Schwestern die Kinder, die nur eine von ihnen hat, gemeinsam. Jeder Mensch hat daher viele »Mütter«, Mutterschaft ist gemeinschaftlich. Es steht jeder Frau frei, ob sie Kinder haben will oder nicht, ihre mütterlichen Qualitäten kann sie stets leben und zugleich hat sie mehr persönliche Freiheit. 

Mutterkult gibt es in matriarchalen Gesellschaften nicht, denn in ihnen werden Mütter nicht ausgebeutet, wie es in patriarchalen Gesellschaften geschieht. Patriarchale Gesellschaften brauchen einen »Mutterkult«, damit Mütter ihre erniedrigte Stellung und Ausbeutung nicht merken. Typisch dafür ist der christliche Mutterkult, bei dem die Frau nur Mutter sein soll, und sonst nichts weiter. Noch schlimmer war der Nazi-Mutterkult, bei dem Frauen als Mütter ausgebeutet wurden, um Kinder als Kanonenfutter für den Krieg großzuziehen – was auch für andere patriarchale Staaten und Reiche gilt.

Den Respekt für Mütter und den Wert der Mütterlichkeit mit »Mutterkult« zu verwechseln, ist daher fatal und leider auch falsch. In Matriarchaten verhalten sich auch Männer »mütterlich«, das heißt nach mütterlichen Werten, und sie pflegen dabei sicher nicht einen Mutterkult für sich selbst.

Wenn junge Frauen heute Mütterlichkeit ablehnen, dann denken sie dabei an die patriarchale Ausbeutung der Mutter, die sie zu Recht ablehnen. In Matriarchaten ist Mutterschaft aber etwas anderes und bedeutet Würde, Einfluss, Prestige und Handlungsmacht im Konsens mit allen Sippenmitgliedern. Eine solche Auffassung von Mutterschaft könnte in unserer Gesellschaft Sprengkraft entwickeln.


3. Queerfeminimus und Matriarchat

Es geht bei der Theorie von Judith Butler darum, uns nicht nur von »gender«, dem sozialisierten Geschlecht, zu befreien – dieses wurde schon früh vom Feminismus kritisiert und verändert –, sondern auch von »sex«, dem natürlichen Geschlecht, das es nicht geben soll. Sich auch hier von der »Natur« zu befreien, gilt als emanzipatorisch.

Nun gibt es allerdings unseren biologischen Körper als Grundlage aller sozialen Einflüsse, es gibt ihn anatomisch und bis in unsere Gene hinein. Frauen erfahren dies spätestens, wenn sie Mütter werden, denn das geht nicht über »gender«. In dem Sinne will sich die technokratische Gesellschaft ja auch von »Mutter Erde« befreien, was zu dem Grad an Zerstörung der Biosphäre geführt hat, in dem wir uns heute befinden.

Diese Grundlage anzuerkennen, schließt doch nicht aus, dass es auch diverse Formen gibt! Solche Formen gab es immer, dass sich Frauen eher als »männlich« verstehen und Männer eher als »weiblich«. Es fragt sich in unserer Gesellschaft allerdings, welchem Bild von »weiblich« oder »männlich« sie folgen: der patriarchalen »Männlichkeit« und »Weiblichkeit« oder einer anderen? Im Queer-feminismus tauchen genau diese Klischees von patriarchalen Rollenbildern wieder auf, nur vertauscht, was am System ebenfalls nichts ändert.

In der MMF geht es um ganz andere Bilder von »Weiblichkeit« und »Männlichkeit«, die zu erforschen sich lohnt, denn sie sind völlig anders als patriarchale Rollenbilder.

Dasselbe gilt für matriarchale Menschen, die »divers« sind und die Geschlechtersphäre wechseln. Sie bewegen sich im Rahmen von matriarchaler »Weiblichkeit« und matriarchaler »Männlichkeit«, die sich sehr von unseren Klischees unterscheiden. »Diverse« werden oft mit eigenen Begriffen eines dritten oder vierten Geschlechts benannt, die ihre besondere Art zu leben betont, sie sind voll integriert und werden geachtet.


4. Matriarchat und »Binarität«

Wenn wir heute lebende matriarchale Gesellschaften erforschen, so geht es in erster Linie darum, sie aus ihrem eigenen Weltbild und ihren eigenen Begriffen zu verstehen – soweit das möglich ist – und nicht unsere Vorstellungen und Begriffe auf sie zu projizieren. Das haben sie Jahrhunderte lang von den Kolonialmächten erdulden müssen, so dass sich eine Fortsetzung, sie von unseren Vorstellungen her zu beurteilen, verbietet. Das gilt auch für ihre Vorstellungen von den Geschlechtern.Wenn daher in der MMF von »Frauen und Männern« in Matriarchaten gesprochen wird, so hat das nichts mit »binärem« Denken zu tun, sondern damit, dass matriarchale Menschen diese Begriffe selbst gebrauchen, aber mit anderem Inhalt als bei uns.

Das Weltbild matriarchaler Gesellschaften ist grundsätzlich polar gedacht – was etwas anderes ist als »binär« oder »dual«. Zwei Pole beziehen sich komplementär aufeinander und befinden sich im Gleichgewicht miteinander. Zu den Polaritäten, aus denen ihnen zufolge die Welt aufgebaut ist, gehört auch die Polarität Weiblich – Männlich, sie hat einen spirituellen Gehalt wie jede Polarität.

»Weiblich« und »männlich« haben jedoch wenig mit dem Geschlecht zu tun, sondern sie definieren es nach dem Aktionsbereich bzw. der Arbeitssphäre. So gibt es in matriarchalen Gesellschaften einen weiblichen und einen männlichen Aktionsbereich, die polar und gleichwertig verstanden werden und im Gleichgewicht miteinander sind. Sie sind damit auch ein Ausdruck ihres Weltbilds. Die individuellen Menschen jedoch haben die Freiheit, das Geschlecht zu wechseln, indem sie in den jeweils anderen Aktionsbereich oder die Arbeitssphäre wechseln – was nicht selten vorkommt und kein Problem darstellt. Sie gelten dann als »Frau« oder als »Mann« ohne medizinische Manipulationen an ihrem Körper und ohne Gehirnwäsche, einfach weil sie jetzt in der anderen Arbeitssphäre leben. In diesem Sinne sind sie voll integriert. Bei manchen matriarchalen Gesellschaften werden ihnen sogar besondere Fähigkeiten zugesprochen.

Das heißt, die individuelle Wahl ist frei, ändert jedoch nichts am polaren Weltbild dieser Gesellschaften.Wenn wir versuchen sollten, das wieder von unseren Vorstellungen her zu beurteilen, aus-gehend von unseren sexuellen Erfahrungen, Theorien und Moden, dann würden wir uns wieder den kolonialistischen Blick aneignen.


5. Matriarchatsforschung und Matriarchatspolitik

Diese Ergebnisse der MMF werden oft dahingehend missverstanden, dass ich meinte, das sollten wir genauso übernehmen. Ich habe oft gesagt, dass Matri-archatsforschung das Eine ist, nämlich wissenschaftliche Erkenntnis einer anderen Gesellschaftsform, und Matriarchatspolitik das Andere, nämlich der Versuch, eine Vision für künftige matriarchale Gesellschaften zu gewinnen. Das ist zweierlei und sollte nicht verwechselt werden.

Es gibt etliches, was wir von traditionellen matriarchalen Gesellschaften nicht übernehmen können, obwohl ihre egalitären, lebensfreundlichen und gemeinschaftlichen Werte für uns wichtig sind. Diese Prinzipien können wir übernehmen für unsere Vision. Wenn ich z.B. an neue matriarchale Gemeinschaften denke, so sind die Menschen, die sie bilden wollen, doch völlig frei, wie sie das machen wollen. Sie können gemischte Gesellschaften aus Männern und Frauen bilden, sie können Gemeinschaften nur aus Frauen bilden, sie können Gemeinschaften aus diversen Personen bilden, und so weiter. Wie ihre Gemeinschaft zusammengesetzt ist, entscheiden ausschließlich diejenigen, die sie gründen. Das Entscheidende dabei ist, dass diese Gemeinschaften trotz ihrer Verschiedenheit friedlich miteinander koexistieren und kooperieren, dass niemand die anderen herabsetzt und von der eigenen Lebensweise überzeugen und sie missionieren will. Diese tolerante Kooperation trotz Verschiedenheit ist ein matriarchales Prinzip.


6. Matrizentrischer Feminismus

Es gibt, getragen von jungen, meist akademisch gebildeten Müttern, längst eine neue feministische Bewegung, den »Matri-zentrischen Feminismus«. Er ist in Kanada und den USA verbreitet und in vielen Publikationen präsent, ebenso ist er eine starke Bewegung in Italien. Diese Frauen kämpfen gegen die Missachtung und Ausbeutung der Mutterschaft in den westlichen Gesellschaften und wollen ihr die entsprechende Würde und allgemeine Unterstützung zurückgeben. Sie sind alles andere als rückwärtsgewandt, sondern gehen von der millionenfachen Situation von jungen und älteren Müttern in allen Gesellschaften aus. Sie zeigen, dass Mutterschaft die wichtigste Aufgabe in jeder Gesellschaft ist, denn ohne sie würden wir nicht und würde keine Gesellschaft existieren.

Das halte ich für weitaus politischer und patriarchatskritischer als den Queerfeminismus, der weitgehend individuell geprägt ist und unpolitisch bleibt. Er kämpft nicht gegen Gewalt an Frauen und für ihre Menschenrechte, wie jeder Feminismus, sondern beschäftigt sich weitgehend nur mit den eigenen sexuellen Befindlichkeiten. Daher ändert er auch nichts am Patriarchat, und es gibt nicht wenige Kritikerinnen, die ihn gar nicht für einen »Feminismus« halten.


Oya-Redakteurin Andrea Vetter antwortet darauf: 

Liebe Heide, vielen Dank für deine ausführliche Zuschrift. Vorausgeschickt: Ich finde viele deiner Bücher, vor allem die über die Neuinterpretation von Mythen und Geschichten, unglaublich bereichernd und wichtig für mein Leben und habe großen Respekt vor deiner Leistung, die Moderne Matriarchatsforschung begründet zu haben, auch gegen viele Widerstände aus dem akademischen Betrieb, die ich leider selbst nur zu gut kenne. Dennoch fordert mich einiges an deinen Anmerkungen, insbesondere zum Queer-Feminismus, zum Widerspruch heraus. 

Ich habe dank deiner Antwort besser verstanden, was vielleicht ein Grundunterschied zwischen matriarchalem und queer-feministischem Denken ist: die verschiedene Betonung von Blutsverwandtschaft – während diese im matriarchalen Denken als zentrales Band zwischen Menschen gesehen wird, geht es im Queer--Feminismus darum, sich bewusst »verwandt zu machen«. Blutsverwandtschaft ist darin nur eine mögliche Verbindung unter vielen. Damit verbunden geht es im queer-feministischen Denken mehr um das Sorgen als um das Gebären. Die Frage, wer für wen sorgt, ist der Frage, wer wen geboren hat, nachgelagert: Es geht darum, diverse Netzwerke von Sorgebeziehungen zwischen Menschen – und vor allem und gerade auch zwischen nicht blutsverwandten Menschen –, zu etablieren und zu stabilisieren. Und es geht darum, diese Sorgebeziehungen zur Grundlage wirtschaftlicher Gegenentwürfe zu machen, nicht irgendwelche Linien gerader Verwandschaftsabstammung. Das sind Unterschiede, über die wir diskutieren können und müssen.

Mich macht es traurig, zu hören, dass du dem Queer-Feminismus vorwirfst, individuell und unpolitisch zu sein, denn das ist schlichtweg falsch. Sicherlich gibt es verschiedene Feminismen und auch verschiedene queer-feministische Lesarten, doch ich will dir von meiner Lesart und meinem Erleben mit Queer-Feminismus erzählen: In meinem Haus, meinen Freundschaftsnetzwerken und Arbeitszusammenhängen begreifen viele Menschen (darunter auch männlich sozialisierte) Queer-Feminismus als wichtige Grundlage ihres Tätigseins. Das bedeutet, starre Rollenzuschreibungen bewusst aufzulösen; zu versuchen, Tätigkeiten anzugehen, die uns bislang aufgrund unserer Sozialisation als Mann oder Frau eher fern lagen; es bedeutet, zu versuchen, patriarchale Muster im Alltag möglichst wenig zu reproduzieren und anzuerkennen, dass das ein langer Weg ist, denn diese Muster sind auch in uns selbst. Es bedeutet, politisch klare Position zu beziehen, indem beispielsweise Freundinnen als Journalistinnen über den Kampf auf das Recht auf Abtreibung aus Polen berichten, über die unwürdigen Arbeitsbedingungen von Saisonarbeiterinnen in der Landwirtschaft oder über die vielen Formen sexualisierter Gewalt gegen Frauen oder gegen queere Menschen und Bewegungen in vielen Ländern dieser Welt. Und es bedeutet, dass wir planen, gemeinsam zum Christopher Street Day zu gehen (jährliche Demonstrationen für die Rechte queerer Menschen weltweit) und dort Spaß haben. Es bedeutet, dass wir in unserer Region ein FLINTA*-Netzwerk (FLINTA meint hetero- und bisexuelle Frauen, Lesben, Intersexuelle, Non-binäre, Transgender und asexuelle Menschen, das Sternchen meint alle Queers, die sich damit noch nicht bezeichnet fühlen) aufbauen, in dem wir uns meist ohne Männer treffen und vernetzen. Es bedeutet, sich zu fragen, was »intersektionaler Feminismus« heißt: also Feminismus, der immer mitdenkt, dass es nicht »die Frau« gibt, sondern je nach Position – also Erfahrung mit rassistischen Diskriminierungen, Aufwachsen in Armut, Zugängen zu Bildungsmöglichkeiten, körperlichen Fähigkeiten oder Behinderung durch gesellschaftliche Strukturen – ganz unterschiedliche Sichtweisen und Notwendigkeiten. Daraus erwächst eine Solidarität, etwa mit der Selbstorganisation geflüchteter Frauen und Queers. Es heißt, dass wir feministische Inhalte in regionale Organisierungen gegen Rechtsextremismus hineingeben, und wir stellen auch fest, dass tatsächlich Queer-Feminismus ein wunderbares Mittel der Abgrenzung gegen völkische Umtriebe – gerade im ländlichen Raum – ist, denn rechtsextrem und völkisch gesinnte Menschen gruselt es derart bei der Vorstellung, die Geschlechterverhältnisse könnten in Unordnung geraten, dass sich hier eine selbstverständliche Grenzlinie zeigt. 

Queer-feministisch inspirierte Menschen waren die Hauptorganisatorinnen der großen feministischen Streiks, in der Millionen Menschen weltweit seit einigen Jahren rund um den Globus am Frauentag, dem 8.März, wieder politische Forderungen nach einer ganz anderen Wirtschaft auf die Straße tragen: nach einer Wirtschaft der Commons, die um Sorgebeziehungen zwischen Menschen sowie zwischen Menschen und nicht-menschlichen Lebewesen zentriert ist. Dafür können wir sicherlich viele Inspirationen aus historischen und existierenden matriarchalen Gesellschaften ziehen. Dafür brauchen wir aber auch einen kritischen Blick auf unser Gewordensein in patriarchalen Verhältnissen, das wir nicht einfach abstreifen können. Gerade queer-feministische Theorien des »Neuen Materialismus« (siehe Oya 53), welche auf die Inter-dependenzen und vielfältigen Verbundenheiten zwischen Wesen verschiedener Arten, Pflanzen, Tieren, Mineralien – letztlich allem Existenten – bieten für mich eine entscheidende Grundlage für ein verändertes Selbstverständnis des Menschen, das herausführt aus hierarchischen, dualen Ordnungen, aus den falschen Gegensätzen Mann – Frau und Mensch – Natur, hinein in ein Durcheinander allen Lebens, in ein Denken in Bezügen, das wir brauchen, um die herrschende Ordnung in ihren Grundfesten zu erschüttern und Wege eines guten Lebens für alle zu beschreiten. 

Ich wünsche mir sehr, dass wir als feministische Denkerinnen aus verschiedenen Generationen respektvoll mitein-ander diskutieren und gegenseitig von unseren Erfahrungen lernen wollen und können, ohne uns gegenseitig abzusprechen, ein gutes Leben für alle Menschen im Blick zu haben. Denn das ist meinem Queer-Feminismus und deiner matriarchalen Perspektive gemein: Sie wollen patriarchale und kapitalistische Strukturen überwinden. Und weil wir in stürmischen Zeiten leben, die erst einmal nicht ruhiger werden, halte ich es für überlebenswichtig, über Binnendifferenzen hinaus dafür gemeinsam zu gehen. 

Herzlich, Andrea //



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