von Kosha Anja Joubert, erschienen in Ausgabe #1/2010
Es sind anmutige, schöne Menschen, die Frauen, die aus Indien zu Gast im Ökodorf Sieben Linden sind. Sie sind gekommen, um über ihren verzweifelten Überlebenskampf zu berichten und am jährlich stattfindenden Ecovillage-Design-Kurs teilzunehmen. Begleitet werden sie von George John, dem Initiator der Nari-Samaj-Bewegung. John ist ein sanfter Revolutionär mit marxistischer Vergangenheit, den seine spirituelle Suche zur politischen Arbeit geführt hat.
Die Bilder aus einem Film, den John vorführt, berühren mich tief: Ein Zelt mit Hunderten von Frauen in ihren traditionellen Gewändern, die abwechselnd auf einen Tisch steigen und mit erhobenem Haupt Reden halten. Bilder der Frauen an einem Feuer, wo sie einen Schwur leisten, als Hüterinnen des Lebens die Wälder, das Wasser, die Erde und den Frieden in ihren Dörfern zu schützen. Die innere Macht dieser Frauen ist offensichtlich. Sie kommt aus einer tiefen Verbundenheit mit der Natur und der Fürsorge ihren Liebsten gegenüber. Ich fragte mich: Was ist der Hintergrund und die Magie dieser kraftvollen Bewegung?
Zur Situation der Adivasi Orissa ist einer der ärmsten Staaten Indiens. 71,5 Prozent der Bevölkerung gehören zu unterschiedlichen traditionellen Stammeskulturen. Vor allem die indigene Bevölkerungsgruppe der Adivasi leidet unter Armut, dem Verlust ihrer Wälder und ihrer Kultur. Nach einer Studie des Tribal Research Instituts leben 90 Prozent von ihnen unterhalb der Armutsgrenze. Der indische Sozialwissenschaftler Walter Fernandes schätzt, dass allein zwischen 1951 und 1990 mindestens 15 Millionen Adivasi wegen Modernisierungs- und Industrieplänen von ihrem Land verjagt wurden. Die Adivasi zerstörten die Wälder, hieß es ein Jahrhundert lang unter britischer und anschließend indischer Herrschaft. Dabei schützen die Ureinwohner den Wald, da sie von seinen Ressourcen leben. Schon immer war er Gemeinschaftsbesitz und wurde nach festgelegten Regeln genutzt. Ein Rotationssystem für die Anbauflächen schonte das Land. Das Verbot, nahrungsspendende Bäume zu fällen, sicherte den Baumbestand. Mensch und Natur lebten in Einklang, bis die Briten in den Wäldern Indiens eine lukrative Einkommensquelle sahen. Britische Waldgesetze untersagten den Adivasi das Betreten und die Nutzung bestimmter Gebiete.
Mit der Unabhängigkeit Indiens im Jahr 1947 wurde die Situation der Adivasi immer dramatischer. In einer Resolution wurden die Ansprüche der im und vom Wald lebenden Adivasi dem »Nationalen Interesse« untergeordnet. In der Praxis heißt das: Für Straßen, Staudämme und Industriekomplexe wurden große Waldflächen vernichtet. Die Ureinwohner suchten Arbeit auf Farmen oder landeten in den Slums. Im Jahr 1988 schien sich das Bewusstsein der indischen Regierung zu ändern: Eine neue Resolution sollte den Wald und seine Bewohner schützen. Doch in der Praxis hat sich die Absicht kaum durchgesetzt. »Naturschutz« und Wirtschaftsinteressen hatten bisher Vorrang gegenüber den Interessen der Adivasi. Seit 1991 sind mehr als 600 000 Ureinwohner unter anderen aus den Tiger-Reservaten in Kanhau und Bandhavgarh sowie dem Wildpark Biro im Bundesstaat Madhya Pradesh verjagt worden.
Die Nari-Samaj-Bewegung Die Adivasi stehen im Kastensystem der Hindus, wie die Dalits (Unberührbare) auf der untersten Stufe. Gleichzeitig stellen sie mit rund einem Viertel der Bevölkerung Orissas ein wichtiges Wählerpotenzial dar. Ist das der Grund für die Absichtserklärungen der Regierung? Viele von ihnen konvertieren zum Christentum, um so der Kasteneinstufung zu entkommen, und setzen sich mit immer mehr Kraft für ihre Rechte ein. Schon Anfang der 80er Jahre begann George John, die Vision einer politisch-spirituellen Bewegung umzusetzen. Er gründete die Organisation »Thread« – Team for Human Resource Education and Action for Development. Thread unterstützt Menschen im Bewusstsein, dass nur eine klare innere Kraft und Überzeugung die Welt zum Positiven verändern kann. 1992 begann das erste Training mit 25 Frauen aus verschiedenen Dörfern, die über zwei Monate gemeinsam lebten und lernten. Nach dem Erfolg dieses Pilotprojekts entstanden ab 1995 regionale Trainingscenter im Westen und Süden von Orissa. Die dort ausgebildeten Frauen kehrten in ihre Dörfer zurück und gründeten eigene Initiativen. Daraus ist die Orissa Nari-Samaj-Bewegung hervorgegangen: eine landesweite Organisation indigener Frauen, die aus Gemeinschaften in 3940 traditionellen Dörfern besteht und insgesamt rund 260 000 Mitglieder umfasst.
Die bisher 51 regionalen Stammesorganisationen pflegen die Verbreitung und Anwendung indigenen Wissens. Sie fungieren auch als Ökologieschulen, die gemeinsamen Landbesitz, gemeinsame Viehhaltung, Pflanzenmedizin, Baumpflanzungen und den Schutz der Urwälder fördern. Biologische Landwirtschaft, die Nutzung von indigenem Saatgut und der Aufbau von Samenbanken werden propagiert und umgesetzt, lokale Lebensmittelspeicher gebaut und gefüllt. Bisher wurden 25 000 Farmer zu Biobauern ausgebildet. Das ist ein besonderer Erfolg, da über diese Ausbildung auch Männer in die Veränderungen einbezogen werden konnten.
Aber auch der Widerstand gegen Wasserprivatisierung und den Raubbau an den einheimischen Ressourcen durch Fabriken und Konzerne verbindet die Frauen. Erfolgreich setzt sich die Bewegung gegen Gen-Versuche ein: Am 8. April 2008 kamen in der Stadt Orissa 4000 Frauen vor der Niederlassung des Gen-Saatherstellers Monsanto zusammen, um gegen die Zerstörung der Artenvielfalt zu demonstrieren und einen gentechnikfreien Bundesstaat zu fordern. Das Ergebnis: Neben Kerala ist Orissa der einzige Staat Indiens, in dem keine Erlaubnis für die Versuche erteilt wurde.
Die Bewegung bezieht ihre Kraft aus dem Empowerment (Ermächtigung) ihrer Mitglieder. Die Frauen trainieren, öffentlich zu sprechen, um sich als örtliche und regionale Repräsentantinnen in den Dorfräten zur Wahl zu stellen. Bisher wurden 1265 von ihnen gewählt und gestalten nun örtliche Politik mit. Ihre Basis sind die Gemeinschaften, in denen Prinzipien wie Verbundenheit, Harmonie und Gleichwertigkeit ihrer Mitglieder gelebt werden. Konflikte löst man untereinander ohne die Einbeziehung von Staat und Polizei.
Doch immer wieder unterschreiben Männer gegen leere Versprechungen, Geld und Alkohol Verträge mit Firmen, die der Gemeinschaft Land und Wasserrechte entziehen. Traditionell haben schon immer die Frauen die Arbeit getan und die Gemeinschaft zusammengehalten. Aber die Männer, die weniger arbeiteten, verfügten über die Geschicke der Gemeinschaft. Diese alten Probleme eskalieren nun in der neuen Situation. In den Dörfern ist der Alkoholkonsum in den letzten Jahrzehnten bei den Männern stark gestiegen, parallel dazu steigt die häusliche Gewalt. Nun wird versucht, mit Hilfe von Mikrokrediten und Kleinstunternehmen das Geld auch zu den Frauen zu bringen. George John erzählte bei seinen Besuchen von Impulsen aus dem Ecovillage-Design-Kurs, die inzwischen in Orissa umgesetzt werden: Regelmäßige Gemeinschaftsessen, wie es sie früher in den Dörfern gab, wurden wieder eingeführt. Für die Frauen bedeutet das gemeinsame Essen im Schoß der Gemeinschaft einen Schutz gegenüber männlicher Gewalt. Auch das Land bestellen die Frauen zunehmend wieder gemeinsam, so wie es früher war. Gemeinschaftsställe für Kühe wurden gebaut, Urin und Dung gesammelt und zu natürlichen Pestiziden und Dünger verarbeitet.
Die aktuelle Situation Erfolg macht neidisch. Immer häufiger werden Mitglieder der Nari-Samaj-Bewegung Opfer von Gewalt. Im Jahr 2008 führte der Mord an fünf Hindus zu einer Explosion von Angriffen. Hinduistische Anhänger wiesen die Schuld an dem Attentat der gesamten christlichen Bevölkerung zu und haben bei Übergriffen Tausende von Häusern angezündet. Die Polizei scheint auf Seiten der mächtigen Hinduorganisationen zu stehen. Aktivisten verschiedener ziviler Bewegungen wurden in Haft genommen und misshandelt. Die Adivasi berichten von Situationen, in denen die Polizei bei Gewaltszenen in den Dörfern zuschaute, ohne einzugreifen. Eine Intrige, um die aufkeimende Selbstermächtigung der Adivasi zu schwächen? Die Nari-Samaj-Bewegung antwortet mit großen Friedensdemonstrationen und der Aufstellung von Friedenskomitees in Dörfern, die das Recht haben sollen, Gewalttäter anzuzeigen. Sie wollen Geld sammeln für den Bau eines »Friedenstempels«, in dem alle Religionen willkommen sind. Es ist erschreckend, wie leicht zarte Netzwerke von Leben und Kreativität zerstört werden können. Andererseits beeindrucken der Einsatz für Frieden und die Liebe zum Leben an vielen Orten der Welt. Eine neue Initiative der Nari-Samaj-Bewegung ist der Aufbau eines Ökodorf-Netzwerks. Traditionelle Dörfer sollen sich wandeln und alternative Technologien und Ökotourismus mit traditionellem Wissen um Nachhaltigkeit verbinden. Außer auf die wichtigen Einnahmen hoffen die Aktivistinnen auf eine verstärkte Vernetzung mit Menschen aus den reichen westlichen Ländern. Im Zug dieser Vernetzung wollen Veronica und Lovely aus Orissa, die 2009 im Ökodorf den Kurs in Ecovillage Design Education erlebten, im Januar und Februar 2011 mit Johns Unterstützung den ersten solchen Kurs in Orissa stattfinden lassen. Daraus sollen Kurse in der Stammessprache Oria entwickelt werden. Die Frauen wollen sie anschließend selbst organisieren.
Die Verbindung zwischen westlichem und indigenem Wissen bildet eine fruchtbare Mischung, die stark genug ist, um die scheinbare Kluft zwischen weit entfernten Welten zu überbrücken.
Kosha Anja Joubert (41) lebt im Ökodorf Sieben Linden. Sie ist Vorstandsvorsitzende des europäischen Global Ecovillage Network (GEN-Europe) und hat das Curriculum des internationalen Ecovillage-Design-Education-Kurses (EDE) mitentwickelt. kosha@siebenlinden.de
Im Jahr 2007 fand der erste internationale Kurs in Ecovillage Design Education (EDE) im Ökodorf Sieben Linden statt. Der vierwöchige Kurs möchte
→ einen ganzheitlichen Wissens- und Erfahrungsaustausch in allen Bereichen der Nachhaltigkeit von Ökologie, Ökonomie und Sozialem bis zur Ethik -ermöglichen,
→ Menschen darin unterstützen, diesen Kurs in angepasster Form in ihren Heimatländern anzubieten,
→ ein unterstützendes Netzwerk für Nachhaltigkeitsprojekte aufbauen.
Bisher haben 34 EDE-Kurse auf allen Kontinenten stattgefunden. Ein inter-natio-nal anerkanntes Curriculum wird dabei jeweils an die örtlichen Gegebenheiten angepasst und zum Teil von örtlichen Spezialisten angeboten.