Titelthema

Kunst in Zeiten der Transformation

von Johannes Heimrath, Hortensia Völckers, Alex Arteaga, Phillip Ruch, erschienen in Ausgabe #9/2011

Johannes Heimrath Ich freue mich sehr, dass wir heute in den ­Uferhallen unser Gespräch führen können. In diesem ehemaligen Werkstattkomplex der Berliner Verkehrsbetriebe befinden sich heute Ateliers und Ausstellungsräume. Extra für uns arbeitet heute niemand in der großen Halle – herzlichen Dank an Frau Sharifi!
Unser Gespräch soll sich um die Bedeutung der Kunst in einer Zeit des Wandels, der großen Transformation, drehen. Auf diesem Weg verfolgen wir alle auf unterschiedliche Weise künstlerische Strategien. Mein eigener Hintergrund ist meine Profession als Komponist, aber ich drücke mich heute weniger in dem Medium Musik aus. Das Musikalische beeinflusst vielmehr die Art, in der ich Gesellschaft wahrnehme und mich frage, welchen Beitrag ich leisten kann. Mögt ihr euch auch kurz vorstellen?
Philipp Ruch Gerne. Ich bin künstlerischer Leiter des Zentrums für politische Schönheit. Wir meinen: Was im 20. Jahrhundert geschichtsentscheidend war, Völkermord, wird auch das 21. Jahrhundert beherrschen. Darüber sprechen wir mit Politikern, Historikern, Journalisten und setzen Kunst als politisches Mittel ein. Deutschland hat den schlimmsten Völkermord des 20. Jahrhunderts geplant. Die Frage, wie wir im 21. Jahrhundert weltweit Völkermord verhindern können, kümmert uns aber nicht. Genozid ist heute ein drittrangiges Thema. Der Filmemacher Alexander Kluge erinnerte einmal an eine Frau im Bombenkeller von Halberstadt. Im Jahr 1944 kann sie dort nichts mehr ausrichten. Da hätte sie schon 1928 etwas tun müssen. Ich frage mich, was wir heute tun müssen, um das Schlimmste im 21. Jahrhundert noch zu verhindern?
Im Jahr 2010 haben wir mit der Aktion »Säule der Schande« begonnen. Die 6000 Überlebenden von Srebrenica, hauptsächlich Frauen, haben in 40 Tagen doppelt so viele Schuhe, wie es Opfer gab, nämlich 16 744, gesammelt. Wir haben diesen »Berg aus Trauer« dann vor dem Brandenburger Tor zum 15. Jahrestag des Massakers präsentiert. Daraus wollen wir nun ein acht Meter hohes und sechzehn Meter langes Denkmal gegen das westliche Versagen bauen.
Alex Arteaga Auch mein Einstieg als Künstler war die Musik. Leider muss man sich ja heutzutage zunächst für eine Kunstgattung entscheiden. Aber in der Folge konnte ich das entgrenzen und verzichte heute auf Titel wie Komponist, Klangkünstler oder Medienkünstler. Ich habe später in Philosophie promoviert, weil ich bestimmte Fragen durch meine künstlerische Praxis allein nicht lösen konnte. Mich interessieren vor allem offene Prozesse. Dass gesellschaftliche Transformation heute nötig ist, bezweifelt niemand. Aber was muss passieren? Das ist eine offene Frage. Warum wurde 1928 nicht interveniert? Damals wie heute hat es nicht an Information gemangelt. Deshalb beschäftige ich mich mit dem Konzept des »verkörperten Wissens«. Künstlerische Praxis ist ein wirksames Instrument für die verkörperte Wissensproduktion.
Hortensia Völckers Ich bin künstlerische Leiterin der Kulturstiftung des Bundes, die seit 2002 existiert und mit rund 38 Millionen im Jahr aus dem Ministerium für Kunst und Kultur gespeist wird. Wir unterstützen ein breites Spektrum an Kunst und Kultur, von Hochkultur wie der »documenta« oder großen Musikfestivals wie in Donaueschingen bis hin zu freien Projekten und selbst initiierten kulturellen Programmen. Wir führen große Projekte zu Themen wie »Schrumpfende Städte« oder »Zukunft der Arbeit« durch, und in diesem Jahr geht es im Programm »Über Lebenskunst« um die Klimafrage, aber eigentlich noch grundlegender um die Frage, wie wir in Zukunft leben wollen. Bei diesen Programmen geht es nicht um Kunst im engeren Sinn. Kunst vornehmlich für politische Zwecke zu instrumentalisieren, erscheint mir problematisch. Wir können der Kunst nicht aufbürden, all das zu lösen, was von der Politik heute nicht bewältigt wird. Wie alle gesellschaftlichen Bereiche leistet Kunst aber ihren Beitrag, und so verstehe ich auch die Arbeit der Kulturstiftung.
JH Da sind wir bereits bei einer spannenden Grundfrage, derjenigen nach der Freiheit der Kunst. Ich erinnere mich, wie ich als Jugendlicher dieser Freiheit sehr verpflichtet war. Aber bald habe ich gemerkt, wie sehr diese freie Kunst in einen Dialog mit der Gegenwart tritt, also einen Kontext hat und auf diesen einwirkt.
PR Die größten Künstler in der Geschichte waren immer auch Intellektuelle, deshab wäre eine Trennung von Politik und Kunst kaum durchzuhalten. Kunst verhandelt die Fragen, die der Politik noch gar nicht bewusst sind. Und Kunst zerstört den Glauben an die Unveränderlichkeit der Welt.
Ich denke an ein Land wie Somalia. Allein 90 000 Menschen sind 2009 über die Meerenge in den Yemen geflüchtet. Somalia versinkt zwar nicht im Genozid, aber in endemischer Unsicherheit und Massensterben. Das kümmert hierzulande niemanden. Damit ist das Land der Kunst abgegeben. Die Kunst erbt von der unwilligen Politik die Aufgabe, Deutschland den Spiegel vorzuhalten und zu fragen: Was sind wir bereit, für das Ziel der Humanität zu tun?
HV Solches Engagement begrüße ich sehr. Persönlich erscheint mir Kunst, die keinen Kontext hat, nicht sonderlich interessant. Wenn man mit künstlerischen Strategien an die Politik herangeht, ist das doch wunderbar. Auch ich setze künstlerische Strategien ein, aber ich mache keine Kunst.
JH Welche Strategien aus der künstlerischen Sphäre ließen sich denn für die »große Transformation« konkret gewinnen?
HV Es ist schwierig, in einer Welt, die so voll von Bildern ist, mit bildnerischen und symbolischen Gesten und mit Komplexität – Kunst sollte immer komplexer als Werbung sein – eine Botschaft zu vermitteln. In meiner Praxis erlebe ich, wie wenig das, was Künstler schaffen, geeignet ist, Massen von Menschen zu erreichen, und wenn wir die Notwendigkeit einer Tranformation ernstnehmen, müssen wir sehr, sehr viele Menschen erreichen.
AA Ja, jeder auf der Straße könnte etwas zu den Folgen des Klimawandels sagen. Aber dieses Wissen hilft noch nicht weiter. Wissen wird zu sehr im Singular benutzt, dabei leben wir in einer Ökologie verschiedenster Wissensformen, die dynamisch miteinander verbunden sind, und aus dieser dynamischen Verbundenheit entsteht das, was wir Wirklichkeit nennen. Ich spreche viel lieber über ästhetische Praxis als über den historisch so beladenen Begriff Kunst. In einer ästhetischen Praxis kann ich zu Formen des Wissens finden, die primärer, basaler, körperlicher sind als das übliche ratio­nale Wissen, und über ein solches Wissen können wir viel intensiver an der gesellschaftlichen Transformation arbeiten.
Das große Problem der Politik ist ja das Gegebene. Immer heißt es »TINA – There Is No Alternative«. So fangen die meisten großen Politikerreden an. Aber wenn man anders an die Sache herangeht und sieht: die Realität ist das, was wir kollektiv hervorgebracht haben, ist der TINA-Satz nicht möglich, dann gibt es nur Alternativen und offene Prozesse.
PR Das wäre »Handlungsermächtigung«. Mich bewegt die Frage: Was können wir tun? Dafür schaffen wir Situationen, die starke Erfahrungen vermitteln. Zum Beispiel haben wir vor dem Brandenburger Tor die Krisensitzung der UNO vor der Katastrophe von Srebrenica aufgeführt. Mehr als 1000 Zuschauer begaben sich in ein auf dem Boden ausgelegtes Quadrat, eine »Grenze zur Sprachlosigkeit«. Schauspieler verlasen an den Rändern der Grenze die Gesprächsprotokolle der UNO. Die Zuschauer wurden in eine Situation versetzt, in der sie zwangsläufig überlegten: Wie hätte man Srebrenica verhindern können? Man kann immer etwas tun. Es gibt immer Alternativen gegen Massenmord, nämlich Massenleben.
HV Wir haben tatsächlich als Gesellschaft ein Problem mit der Verbindung von Wissen und Handeln. Obwohl wir wissen, dass Konsumismus nicht zum Glück führt und dass Rauchen schädlich ist, kommen wir nicht davon weg. Ich kann von mir nicht sagen, dass ich unglaublich viel Spaß daran habe, in einer Konsumwelt zu leben, aber ich fühle mich in diesen Mechanismen gefangen wie viele andere Menschen auch.
Weil Erfahrungen so entscheidend sind, um zu einem integrier­ten Wissen zu gelangen, ist ein wichtiger Ansatzpunkt die Bildung, sei es in der Schule oder anderen Zusammenhängen. Harald Welzer spricht davon, dass wir eine neue »Narration«, eine neue große Erzählung für die Zukunft brauchen. Auch um diese zu erfinden, brauchen wir Räume, die neue Erfahrungen ermöglichen.
PR Wieso entfaltet die große Katastrophe des 20. Jahrhunderts keine Kraft, die sich auf die Zukunft auswirkt? Es ist doch naheliegend, sich aufgrund der genozidalen Katastrophen einer Vision der Humanität und Menschlichkeit zu verschreiben.
AA Aber in Hinblick auf Erfahrung klafft da eine riesige Lücke. Selbstverständlich weiß ich, was Genozid ist, ich kann dir eine Definition geben, aber sie kommt nur aus angelesenem Wissen.
HV Die Kulturstiftung veranstaltet im August dieses Festival »Über Lebenskunst«, da geht es um Lebenspraxis. Wir wollen zeigen, dass die kommenden Herausforderungen nicht nur die Angst vor dem Verzicht schüren müssen, sondern auch die große Chance enthalten, kreativ Neues zu gestalten. Als Individuen haben wir viel Gestaltungsmacht, aber in der Regel fühlen wir uns alleingelassen und machtlos mit unserem Veränderungswillen, deshalb ist es wichtig, voneinander zu wissen. Wir haben zunächst in Berlin einen »Call for Future« ausgerufen, und daraufhin bewarben sich eine Vielzahl erstaunlicher Projekte, von denen man normalerweise nie erfährt, zum Bespiel die Gruppe »Berlin summt«, die in der Stadt Bienenhäuser aufstellt, Leute, die mit Solarbooten unterwegs sind oder auf Dächern Gemüsegärten anlegen. Wir laden sie ein, sich im Rahmen eines Clubs auszutauschen, und zwanzig von ihnen konnten wir fördern.
Eines der Projekte betrifft das Haus der Kulturen der Welt, in Berlin auch bekannt als »Schwangere Auster«. Unter dem Motto »Austertraum« wurde in einer künstlerisch-wissenschaftlichen Feldstudie mit den Mitarbeitern des Hauses aus allen Bereichen Ideen entwickelt, wie dort wirklich nachhaltiges Kulturschaffen möglich werden kann. Als Projekt des Bundes ist das schwierig, wir waren zum Beispiel bisher verpflichtet, das billigste Papier zu verwenden, nicht das umweltfreundlichste. Zu erreichen, dass aus Ideen schließlich Erlasse werden, die für alle Institutionen gelten, ist Teil des Projekts.
Wichtig war uns auch die Frage der Verpflegung auf dem Festival. Das Künstlerkollektiv »myvillages« hat diese Aufgabe übernommen, und zu ihr gehört, dass die Nahrungsmittel aus einem Umkreis von nur 80 Kilometern kommen dürfen. Sie haben zahllose Kleingärtner gefragt, ob sie für uns Gemüse anbauen würden. Daraus entstanden viele interessante Gespräche. Wir mussten uns dabei auch mit der Frage auseinandersetzen, wo geschlachtet wird, oder ob es Wein geben wird – sehr spannend, so eine Übung!
AA Ja, werfen wir doch den alten Kunstbegriff weg und sagen: Um so etwas geht es. Was solche Aktionen mit Kunst zu tun haben? Es sind Strategien, die uns die Welt zugänglich machen und ermöglichen, unsere Wirklichkeiten zu gestalten.
PR Ich sehe das vor dem Hintergrund der Tatsache, dass wir auf eine Weltbevölkerung von 10 Milliarden Menschen zusteuern und über Waffen verfügen, die Millionen per Knopfdruck vernichten können. Währenddessen veranstalten wir »Über Lebenskunst« und fördern das Summen der Bienen in Berlin. Aber warum gibt es keine Ausstellung zum dringendsten Problem des 21. Jahrhunderts: dem Völkermord?
JH Albert Einstein hat gesagt, wenn die Biene stirbt, dann stirbt bald darauf der Mensch. Unser Lebensstil, die Folgen der Globalisierung, der Hunger auf der Welt oder die Vereinnahmung der Gemeingüter für private Interessen haben doch unmittelbar mit der Situation von Flüchtlingen zu tun.
PR Aber die Frage ist doch, worauf sich die öffentliche Aufmerksamkeit richtet. Im Kongo sind in den letzten 14 Jahren sechs Millionen Menschen gestorben. Freilich nicht nur durch geplanten Genozid, sondern auch durch Krankheiten. In Deutschland kommen zu einer Demonstration für die Opfer 100 Leute, gegen einen Bahnhof protestieren aber gleich 20 000.
JH Das würde ich nicht vergleichen wollen. Bei einer Diskussion mit Stuttgart-21-Gegnern konnte ich spüren, dass es den Menschen dort um viel mehr geht als nur um einen Bahnhof. Sie sind nicht weit entfernt von einer Vision eines humanitär verfassten Planeten, in dem der erste Satz »Alle Menschen sind gleich« in voller Form berücksichtigt wird.
PR Das ist in meinen Augen der größte Traum, den die Menschheit haben kann.
HV Ich finde es kompliziert, die Einhaltung der Menschenrechte mit einem Kunstprojekt zu vergleichen und zu fragen, was wichtiger sei, da vermischen sich zu viele Ebenen.
JH  Wir führen hier ein Gespräch, das durchaus einen gewundenen Pfad geht. Künstlerisch betrachtet, improvisieren wir mit dem Medium Sprache, und niemand kennt das Ende. Darf ich euch zu einem Experiment einladen? Wenn ihr wie ein Maler von euch ein Selbstporträt anfertigen würdet, das euch so zeigt, wie ihr euch als in einer gewandelten Zukunft lebende Menschen sehen wollt – als wer würdet ihr in diesem Bild erscheinen? Könnt ihr das zum Abschluss skizzieren?
PR Ich entwickle ein historisches Selbstbild: ich stelle mir einen Historiker vor, der vom Ende des 21. Jahrhunderts zurückblickt und beurteilt. In diesem Sinn frage ich, wie ich mein Handeln vor diesem Historiker vertreten kann.
HV Wenn klar ist, dass wir heute gesellschaftlich in der Art unseres Zusammenlebens etwas ändern müssen, dann betrifft das auch mein eigenes Leben. Ich habe den Wunsch, selbst anders zu leben, nicht in erster Linie nur mit administrativen Aufgaben betraut zu sein, sondern mehr Raum für kreative Aktivitäten, wie das Tanzen, zu finden. Klar würde ich gerne Entschleunigung in mein Leben bringen, sonst lebe ich, so wie im Moment, mit einem Mangel an Kohärenz.
JH Welche Farbe fehlt dir heute, welche Farbe braucht dein Selbstbild der Zukunft?
HV Es fehlt überhaupt Farbe … Sehr viel Farbe ist innen, aber sie dringt nicht immer nach außen.
AA Wenn ich mich selbst untersuche, dann frage ich mich: Wie ändere ich die in mir tief angesiedelten Muster, was sind die Felder von Unfreiheit, die in mir existieren? Auch in mir gibt es Aggressivität und Gewalt genauso wie Liebevolles. Ich sehe kein festes Bild, sondern einen Befreiungsprozess.
JH Dann lasst uns weiter an Erfahrungsräumen für eine gewandelte Welt arbeiten. Habt ganz vielen Dank für das Gespräch. 



 

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