Margarete und Markus Distelberger gründeten vor 21 Jahren in Österreich eine florierende alternative Schule. Oya-Redakteurin Anke Caspar-Jürgens sprach mit ihnen über ihr zukünftiges Gemeinschaftsdorfprojekt.von Anke Caspar-Jürgens, Margarethe Distelberger, Markus Distelberger, erschienen in Ausgabe #10/2011
Anke Caspar-Jürgens Ich freue mich, dass wir uns zum Ende des von euch organisierten Sieben-Generationen-Symposiums hier im malerischen St.Pölten noch zu einem Gespräch zusammenfinden. Der Einladungstext des Symposiums machte mich neugierig, nicht nur auf euch als Gründerin und Gründer einer bemerkenswerten Schule, sondern mehr noch auf euch als Pioniere für pädagogisches Neuland. In eurer Einladung steht: »Wirkliches Lernen ist ebenso wie sinnvolles Arbeiten nur in Freiheit möglich und in dem Vertrauen, dass Menschen von sich aus lernen, sich entfalten und beitragen möchten. Daher halten wir das Bildungssystem offen und frei! Bildung braucht Kommunikation und Gemeinschaft. Wenn wir das Bildungssystem als Markt gestalten, wenn wir Systeme von Vergleichen und von Rankings an die erste Stelle stellen, fördern wir Isolierung und Konkurrenz. Wenn nur zählt, was einen Marktwert hat, wird der weitaus größte Teil der Fähigkeiten, die Menschen füreinander haben, und deren Bedeutung nicht erkannt und auch nicht anerkannt.« Viele suchen heute neue Formen des Lebens in Gemeinschaft. Deshalb interessiert mich sehr, was dich, Markus, und dich, Margarete – oder Gretl, wie dich hier alle nennen –, bisher bewegt hat und welche neuen Wege ihr beschreitet. Markus Distelberger Mitte der 80er Jahre suchten meine Frau und ich eine freundschaftliche, sich gegenseitig unterstützende Nachbarschaft für ein geborgenes Aufwachsen unserer vier Töchter. Das ist uns mit der Gründung des Dörflein-Wohnprojekts 1987 in Herzogenburg bei St. Pölten dann auch gelungen. Drei Jahre später wurde unsere zweite Tochter, Maria, ein Kind mit der Chromosomenbesonderheit Trisomie 21, der Anlass, selbst eine alternative Schule zu gründen, um für sie ein gemeinsames Aufwachsen mit ihren Schwestern und Freundinnen zu ermöglichen und auch für unsere anderen Kindern eine freie, selbstbestimmte Art, zu lernen. Gretl Distelberger Ich bin als Mathematiklehrerin am Gymnasium lange im staatlichen Schulsystem tätig gewesen, später auch als Psychotherapeutin. Daher kannte ich die Situation und hatte Ängste vor den Schwierigkeiten, die wir haben würden, wenn wir eine alternative Schule starten. Übrigens haben sich alle meine Befürchtungen bewahrheitet. Aber ich und wir, die ganze Gruppe der Eltern gemeinsam, haben in all diesen Jahren auch einiges an Problemen gemeistert. Während wir noch mit unseren Kindern dabei waren, bestärkte es uns, zu sehen, wie unsere und auch die anderen Kinder sich entwickelten. Mit etwas Abstand rückblickend gesehen, glauben wir immer noch, es hat sich gelohnt. ACJ Und wie geht es der Lernwerkstattschule heute? MD Sie hat sich kräftig entwickelt. Schon seit vielen Jahren ist die Kinderzahl über Hundert. Es gibt viele hundert Absolventen, die neben und mit den Eltern und den Betreuerinnen und Betreuern auch nach der Schulzeit ein eigenes soziales Biotop und Netzwerk bilden. Es gibt so viele aus dem Schulumfeld entstandene Verbindungen, Gruppen, Initiativen von Eltern, von Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Eine besonders beeindruckende Initiative ist die Theatergruppe »Pistatschios«. Die Kinder stehen hier in einer Art auf der Bühne, die in ihrer Präsenz und ihrem Selbstbewusstsein für sich spricht. Sie gab ja auch bei diesem Symposium eine Vorstellung und tritt auch andernorts in Österreich und auf Wunsch auch in anderen deutschsprachigen Ländern auf. Die Betreuergruppe der Lernwerkstatt trägt nach wie vor sehr wesentlich zum konsequenten pädagogischen Profil bei, nämlich dem einer Schule, in der den Kindern nichts »beigebracht« wird, sondern die Kinder sich alles selbst beibringen. Die Kinder sind wirklich frei, wann, wo, wie und mit wem sie was tun. Es freut mich sehr, dass nach diesen 20 Jahren die Lernwerkstatt und mit ihr viele andere ähnliche alternative Schulen in Österreich den pädagogischen Horizont wesentlich erweitert haben. Sie belegen durch die Entwicklungswege der Kinder, dass junge Menschen wirklich von sich aus lernen, dass das Lernen angeboren ist und nicht anerzogen werden muss. In der heutigen österreichischen Bildungslandschaft hat die Lernwerkstatt einen gewissen Bekanntheitsgrad als Multiplikationszentrum für freies Lernen. Und ich glaube, sie hat da die wichtige Aufgabe, in einem noch immer recht geschlossenen Bildungssystem allein durch ihre Existenz gemeinsam mit anderen Initiativen »das System« offenzuhalten. Ich habe schon oft von Lehrerinnen und Lehrern aus dem Regelschulwesen gehört, wie wichtig es sei, dass es sie gebe, weil doch, wenn auch langsam und ohne die Lernwerkstatt zu nennen, manches übernommen werde. ACJ Euer neues Projekt, der »Garten der Generationen«, soll nun mehr umfassen als eine Schule. Kinder und junge Menschen sollen in einen gemeinschaftlichen Zusammenhang so eingebunden sein können, dass Schule als eigene »Veranstaltung« überflüssig wird. Habe ich euer Modell da richtig verstanden? MD Der »Garten der Generationen« ist viel, viel breiter angelegt. Er ist ein Lebens-Wirtschafts-Gemeinschaftsprojekt, das die Grundlagen für ein »gutes Leben« aller Generationen verbessern möchte, und ein Ort, an dem Menschen aller Altersstufen gemeinsam leben, spielen, arbeiten, lernen und wachsen. Der konkrete Platz der Gemeinschaft in Herzogenburg ist dabei ein zentraler Knotenpunkt eines viel größeren Netzwerks. Es wird Menschen geben, die ständig oder phasenweise dort wohnen oder arbeiten, und andere, die sich nur zeitweise dort aufhalten. ACJ Und wie soll damit in der Praxis begonnen werden? Kannst du das kurz skizzieren? MD Als eine Gruppe von rund 15 Leuten haben wir gemeinsam ein zwei Hektar großes Areal gepachtet, das mit der Zeit gekauft werden soll, und haben einen kleinen Gemeinschaftslandbau begonnen. Es ist der Beginn einer Subsistenzwirtschaftsgemeinschaft. Mit unseren freiwilligen Beiträgen wollen wir sukzessive eine gemeinsame Grundversorgung sicherstellen. Der Grundgedanke ist: In Gemeinschaft machen einfache Handarbeiten ungleich mehr Spaß, ermöglichen viele schöne Begegnungen zwischen den Generationen, und ein Gefühl von neuer Unabhängigkeit entsteht, wenn wir mehr vom eigenen Acker statt vom Supermarkt holen. Menschen bringen ihre vielfältigen Fähigkeiten ein und erzeugen eine ideelle und materielle Fülle. Wer Geld hat, legt es in der Gemeinschaft an, und die Gemeinschaft stellt sicher, dass man es bei Bedarf wieder herausnehmen kann. So wollen wir auch Häuser mit zusammengelegtem Geld und viel gemeinsamem Handanlegen bauen. Vielleicht trägt auch unser Versuch ein wenig dazu bei, neue (alte) Werte eines Wirtschaftens in Gemeinschaft zu stärken. Immer nach dem Motto: »Gib, was du kannst, und nimm, was du brauchst.« ACJ Aber sind Menschen nicht zu unterschiedlich, um sich für solch eine altersübergreifende, auf das Schenken ausgerichtete Lebensgemeinschaft mit all ihren Unsicherheiten einzulassen? GD Hier wollen ja Menschen als Gruppe miteinander leben. Da muss man zueinander passen. Aber eigentlich geht es darum, selbst die Verantwortung für die Nähe und auch die Distanz zu übernehmen. Ich muss nicht mit jedem Menschen immer gleich nahe sein. Und zudem braucht es auch eine gewisse Gruppengröße. Mein Bild ist, dass es einmal Hunderte von Leuten sind. ACJ Überall entstehen Gemeinschaftsprojekte, ähnlich wie euer »Garten der Generationen«. Oft frage ich mich: Und die Kinder? Wo bleiben die? Oft verbringen sie den Großteil ihrer Zeit in Ganztagsschulen, und so schön die auch sein mögen, sind sie doch abgetrennt vom Alltag des gemeinschaftlichen Lebens. Eine freie Lernwerkstatt im Rahmen einer Gemeinschaft scheint die perfekte Lösung zu sein. Wie soll es in eurem neuen Projekt nun gelingen, noch über dieses Ideal hinauszuwachsen und das Lernen noch mehr ins Leben zu integrieren? GD Wir wollen die Autonomie der Kinder noch stärker respektieren. Am Anfang steht ihre Bewegungsautonomie. Sechsjährige bewegen sich nicht selbständig auf eine Distanz von 30 Kilometern zu einem Schulort hin. Für die Kinder ist es besser, wenn sie auch in ihrer Bewegungsentwicklung organisch wachsen können, dass man sie nicht täglich an einen weit entfernten Ort bringt, der jetzt besonders gut für sie sein soll. Für sie ist es vermutlich besser, wenn sie sich Schritt für Schritt ihre Welt selbst erobern können. Das geht vom Krabbeln als Baby im geschützten Innenhof zu den ersten Fahrradtouren der Kinder, ihren ersten Zugfahrten und irgendwann zum eigenen Führerschein. Damit verbunden ist, dass ein Kind sich selbst seine Kontakte sucht und dabei lernt, diese zu gestalten. Das alles passiert in viel geringerem Maß, wenn die Eltern das Leben der Kinder vororganisieren und zu bestimmten Zeiten Schule an einem vorbestimmten Ort stattfindet. MD Ja, meine Überlegung ist, dass Schule kein eigenes System zu sein braucht, dass man keine speziell vorbereitete Umgebung aufbaut, sondern dass wir eben mit Kindern wie mit alten Menschen leben und gemeinsam für unsere Grundbedürfnsise sorgen. Noch ein weiteres Thema treibt uns um. Geht es beim Lernen um die marktgerechte Bewertung von Kindern oder um die Fürsorge der Gemeinschaft für Kinder? Bildung, vor allem bei Kindern, ist Subsistenzgut, kein Marktgut. Im Nachdenken darüber auf unserem Symposium zum neuen Wirtschaften ist uns bewusst geworden, dass es in zukunftsweisenden, lernenden Gemeinschaften um Schenkökonomie gehen wird, so wie Geneviève Vaughan es beschreibt. Gerade die Subsistenzwirtschaft ist ein weites Feld, in dem viel zu lernen ist. Sie bringt uns in unmittelbaren Kontakt zu Land- und Gartenbau, zu allen Arten von Handwerk, sei es die Schneiderei, die Fertigung moderner Kommunikationsmittel oder einer ökologischen Energieversorgung. ACJ Also ein Lernen ganz ohne Pädagogen? Riskieren wir da nicht Kulturverlust? GD Wenn man die Kinder selbst suchen lässt und nur unterstützt, finden sie alles, was sie an Wissen brauchen. Lernwerkstatt-Kinder beim Lernen zu begleiten, war für mich eine wunderschöne Erfahrung. In meiner Vision gibt es im »Garten der Generationen« aber auch einen Campus-Bereich, ohne die Definition, dieser sei »nur für Kinder«. Junge wie alte Menschen können dort ihren eigenen Interessen nachgehen und voneinander lernen. ACJ Mit dieser Vision sprichst du mir ganz aus dem Herzen. Die Verbindung vom Lernen der Kinder einerseits im geborgenen Zusammenhang der größeren sozialen Gemeinschaft und andererseits das reiche Wissen, dass jeder anbieten oder nutzen kann – das kann beides zusammenkommen. Wer weiß denn schon, was Kinder wirklich interessiert? Vielleicht etwas ganz anders, als wir vermuten, etwas, das sie für die Welt von Morgen brauchen. GD Wir wissen alle nicht, welches Wissen uns die Zukunft abverlangt. Was die Kinder aber auf jeden Fall brauchen, ist das Vertrauen in sich selbst, alles ausprobieren zu können. Ich selbst hatte immer Angst, etwas nicht zu können, weil ich gelernt hatte, dass man schon bestraft wird, wenn man beim Lernen Fehler macht. Unsere Kinder sagen nur: »Na, probier’n wir es aus!«. ACJ Was ihr sagt, klingt für mich, als würdet ihr über eine neue Kultur sprechen. MD Ja, selbstverständlich! Meine Vision ist eine Kultur, in der es viel mehr direkten, persönlichen Kontakt gibt, viel mehr Beziehung. Die Menschen sollten sich viel öfter spüren, umarmen, sich mehr erleben, öfter sehen, einander besuchen, gegenseitig füreinander sichtbar sein. Dann könnten wir auch stärker in Kontakt zur Natur kommen und müssten weniger Zeit im Kopf verbringen. Sinnliche Erfahrungen mit dem Boden, mit Pflanzen, mit Tieren, mit Materialien, mit allem Möglichen sind so wichtig. Ich glaube, dass diese Dinge sehr damit zusammenhängen, wie ein Mensch sich entfaltet. Der Kontakt zur Mitwelt führt zur Entfaltung von Begabungen, die oft viel reicher und vielseitiger sind, als allgemein angenommen wird. Die Arbeiten von Heinrich Jacoby haben uns dafür die Augen geöffnet. ACJ Kann die Gesellschaft also nur gewinnen, wenn Kinder in Gemeinschaften und in selbstorganisierten Campus-Strukturen lernen statt in Schulen? Können Kinder durch intensiven Kontakt mit der Natur und den vielfältigen Austausch mit sehr unterschiedlichen Menschen, was Alter, Fähigkeiten, Neigungen etc. betrifft, ihr Begabungs- und Intelligenzpotenzial erweitern? MD Ja, genau dieses Potenzial sehe ich. Das passt zu den Werkstattkindern, die von Anfang an in der Lernwerkstatt zur Schule gegangen sind. Heute erleben wir, dass sie sich nicht über den Markt definieren wollen. Sie wollen sie selbst bleiben. Und das wollen sie auch für ihre Kinder. ACJ Wie siehst du, Gretl, die Aspekte dieser neuen Kultur? GD Markus und ich hatten schon immer eine gewisse Arbeitsteilung. Er ist der Visionär, ich denke eher an die konkreten Menschen. Ich glaube, dass der Garten heute schon für unterschiedlichste Kinder ein guter Platz ist, auch wenn hier noch kein Gemeinschaftshaus steht. Einige der Kinder sind bislang noch in Schulen verschiedener Art. Kürzlich hörte ich dieses Gespräch: »Mein Papa kann auch hobeln.« Derjenige, der gerade mit Hobeln beschäftigt war, meinte: »Und kannst du das auch?« »Nein«, war die Antwort. »Willst du es probieren?« Und der Kleine sagte ja und hobelte selbst. So entstehen schon heute viele Situationen, bei denen Kinder andocken. Ihren Eltern geht es darum, im Rahmen des Gesamtzusammenhangs neue Wege zu erproben. ACJ Ich wünsche euch viel Erfolg und hoffe, dass euer Projekt aufblühen wird. Habt herzlichen Dank für das schöne Gespräch!
Lust, tiefer einzusteigen? Lesetipps: • Heinrich Jacoby: Jenseits von »begabt« und »unbegabt«. Verlag Christians, 6. Auflage 2004 • Geneviève Vaughan: For-Giving: Schenken und vergeben. Eine feministische Kritik des Tauschs. Ulrike Helmer Verlag, 2008