Titelthema

Der Aufklärung zweiter Teil

von Gandalf Lipinski, erschienen in Ausgabe #11/2011

Wir leben in aufregenden Zeiten. Immer mehr Zeitgenossen erkennen, dass ein grundlegender Wandel unserer Lebens- und Gesellschaftsform – nicht etwa bevorsteht, nein – begonnen hat. Und noch wesentlich mehr Menschen spüren es zumindest. Es liegt etwas Großes in der Luft. Eine mögliche Reaktion darauf heißt Angst. Wenn wir diese jedoch weder ignorieren, noch mit Aktionismus übertönen, dämmert dahinter eine mögliche neue Haltung herauf. Die Neugier darauf wächst, die Lust, selbstbestimmt die Chancen zu ergreifen, die im Zerfall der alten Strukturen entstehen.
Chancen tun sich auf, wenn scheinbare Gegensätze überwunden werden, zum Beispiel der Dauerkonflikt zwischen ökonomischen und Umweltinteressen. Er transformiert sich durch ganzheitliche und realistischere Perspektiven, die Geist und Seele auch in nicht-menschlichen Lebewesen unserer Mitwelt zu erkennen vermögen. Bisher hat das politisch-historische Wachbewusstsein die Impulse aus nicht-materialistischen Zusammenhängen wie blind und reflexhaft abgestoßen, und eben dadurch geht eine Chance verloren. Mit einem sorgfältigen Blick, der Spreu von Weizen trennt, könnten diese anderen Impulse den Duft oder den Geschmack eines neuen geistigen Aufbruchs erzeugen, und zuweilen ist dieser Duft bereits zu wittern. Könnte es sein, dass die große europäische Aufklärungsbewegung, die im Materialismus des 19. Jahrhunderts ins Stocken geriet, sich nun endlich weiter­bewegt und zu ihrer eigentlichen Blüte hin weiterentwickelt? Noch scheint die sich anbahnende Fortsetzung der Aufklärung sich auf einige gesellschaftliche Nischen zu beschränken und selbst ihren Protagonisten in ihrem vollen Umfang kaum bewusst zu sein. Aus dem Mainstream schlägt ihr bestenfalls ratlose Irritation, eher aber konsequente Ignoranz oder gar wütende Ablehnung entgegen. Und es sind oft gerade die Gralshüter der ersten Hälfte der Aufklärung, die »aufgeklärte« bürgerliche Öffentlichkeit, die sich dem Fortgang der Aufklärung nun in linker oder in wissenschaftlicher Attitüde entgegenstemmen.
Bewusstseinsentwicklung und politischer Gestaltungswille sind keine Gegensätze, sie gehören zusammen. Ein selbsbestimmter, emanzipierter Mensch akzeptiert nicht nur keine politische Fremdbestimmung und keine Scheuklappen im rationalen Denken, sondern auch keine im Fühlen und Erkennen. Wir brauchen diese Bewusstseins-Emanzipation, gerade für eine Weiterentwicklung der Demokratie. Nur die politische Korrektheit verbietet uns, Ratio, Gefühl und womöglich noch Spiritualität oder auch Individualität und Gemeinschaft zusammenzudenken.
Eine ähnliche Chance der Fortsetzung der steckengebliebenen Aufklärung hat es vor gut hundert Jahren ja schon einmal gegeben: die Lebensreform. Sie wurde vom aufkommenden Nationalsozialismus vereinnahmt und aufs Gröbste in ihr Gegenteil verkehrt. Das liegt nun wie eine Betonplatte aus Tabus auf den Wurzeln der Geschichte der Befreiung.
Doch ein Geschichtsbild, das die Zeitgeschichte der Gegenwart erst nach 1945 beginnen lässt und die große Vielfalt der ganzheitlichen und fundamentalen Kapitalismuskritik der Lebensreform­bewegung zur bloßen Vorform rechten Gedankenguts zurechtstutzt, verhindert massiv die geistige Freiheit und Vitalität, die wir brauchen, um den anstehenden Gesellschaftswandel aus authentischer Tiefe selbstbestimmt und gemeinsam zu gestalten.
Zum Verständnis dieser Behauptung müssen wir eine Reise bis an den Beginn der Neuzeit unternehmen. Es geht dabei um nichts Geringeres als das komplexe Beziehungsgeflecht zwischen Religion, Esoterik, Wissenschaft und Machtpolitik in der europäischen Neuzeit und Moderne.

Gesellschaftlicher Wandel zu Beginn der Neuzeit
Während wir in der späten Antike des römischen Reichs eine Vorform des »globalen« Kapitalismus finden, kann das Mittelalter mit Fug und Recht als eine Art Auszeit für den Kapitalismus bezeichnet werden. Die Herrschaftskomponenten Geld und Staat spielten eine weitaus geringere Rolle als vorher oder nachher, das geistige Leben stand vornehmlich unter dem Primat der Kirche.
Mit den Kreuzzügen beginnend, und dann verstärkt in der ­Renaissance, strömte vieles vom alten, vorchristlichen Wissen der ­Antike, das im islamischen Raum bewahrt worden war, nach Europa zurück. Das bedeutete zunächst einen Wandel des Bewusstseins in den Köpfen der geistigen Eliten und vor allem der Künstler. Für die Mehrheit der Menschen beginnt nun eine Zeit, geprägt von Chaos und Gewalt, Hunger, Krankheiten und Auflösung gewachsener sozia­ler Ordnungen. Um mit den aufstrebenden Städten ­finanziell mithalten zu können, drehen weltliche und kirchliche Grundherren immer stärker an der Abgabenschraube.
Luthers Reform der Kirche wird von den Bauern als Zeichen des Widerstands gewertet und trägt dazu bei, dass sie den Aufstand wagen. Luther aber stellt sich auf die Seite der Obrigkeit, und die Revolution der Bauern wird im Blut ertränkt. Ein weiteres Phänomen, das fälschlicherweise oft dem Mittelalter angelastet wird, verdunkelt den Beginn der Neuzeit. Zigtausende – zumeist Frauen – fallen den Hexenverbrennungen zum Opfer, auch aus »weltlichen« Gründen. Nach dem Dreißigjährigen Krieg schließlich ist im deutschen Reich die Bevölkerung um ein Drittel gesunken. Politisch gestärkt gehen aus den Glaubenskriegen die Fürsten als Landesherren hervor. Jetzt erst sind die Grundlagen für den neuzeitlichen Territorialstaat geschaffen. Die Landesfürsten wandeln sich zu absoluten Herrschern ihrer Gebiete.
Parallel dazu und vor dem Hintergrund der geschilderten Ereignisse hat eine differenzierte geistige Auseinandersetzung die Allmacht und Deutungshoheit der Kirche zu Fall gebracht. In der Wissenschaft ist ihr ein mächtiger Rivale erwachsen. ­Naturwissenschaften, Medizin und Philosophie befreien sich zunehmend aus der theologischen Bevormundung. Und sie haben in diesem Prozess zwei mächtige Verbündete, die mächtiger werdenden weltlichen Herrscher und die Esoterik.

Emanzipatives Wissen
»Esoterik« ist hier als geschichtswissenschaftlicher Fachbegriff zu verstehen, der seit Mitte des 19. Jahrhunderts für verschiedene, teils bis in die Antike zurückreichende Traditionen verwendet wird, die seit dem Mittelalter und der Renaissance aus Arabien nach Europa drangen, wie beispielsweise die Alchemie, der Neoplatonismus, der Platons Philosophie metaphysisch zu deuten suchte, oder das Rosenkreuzertum.
Hier ist nicht der Raum, auf die esoterischen Schulen im Detail einzugehen. Interessant ist für uns, dass eines sie gemeinsam kennzeichnet: Während die Kirche dem Einzelnen die Erlösung nur über den Glauben bzw. den Gehorsam gewährt, stellen sie die Erfahrung und die Erkenntnis in den Mittelpunkt. Statt allein von der Gnade abhängig zu sein, zeigen sie emanzipatorischere Wege auf: die eigenen Bemühungen, das Streben nach Erkenntnis und die tieferen Einsichten in die Geheimnisse des Menschen, der Natur, der Erde und des Kosmos. Allein diese geistige Grundhaltung macht die meisten Esoterikströmungen der beginnenden Neuzeit zu natürlichen Verbündeten der aufstrebenden Wissenschaften.
Ähnlich wie die Esoterik in jener Zeit das Christentum gleichzeitig integriert und überschreitet, so verhält sie sich auch gegenüber den Wissenschaften. Es ist kein Wunder, dass die meisten großen Geister und Namen, die den Beginn der modernen Wissenschaften in der Neuzeit markieren, zugleich auch den esoterischen Schulen nahestehen. Doch auch die weltlichen Herrscher entwickelten ein vitales Interesse an eben diesen Zusammenhängen. Die Geschichtsprofessorin Monika Neugebauer-Wölk erklärt es mit dem Machtgewinn, den sich die Herrschenden aus den Einsichten in das priviligierte Wissen der gnostischen Lehren versprachen.
Das 18. Jahrhundert ist gleichzeitig der Höhepunkt der Aufklärung im eigentlichen Sinn, der wir die Grundlagen des Humanismus und der Menschenrechte zuschreiben können, wie auch ein Höhepunkt der tyrannischsten Herrschaftsformen, die die Geschichte bis dahin hervorbrachte: des absolutistischen Staats.
Erst an dessen Ende entlud sich die aufgestaute Diskrepanz in zwei gewaltigen Eruptionen: im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg und in der Französischen Revolution von 1789. Vor allem in der Französischen Revolution, die fortan als Matrix aller bürgerlichen Revolutionen in Europa gesehen werden kann, steht nun die Frage der politischen Macht ganz offiziell und pur auf der Tagesordnung. Und als die Jahre der Aufstände, Reformen, Revolutionsregierungen, des Chaos und der Gewalt endlich vorüber waren, hatte nicht das Volk die Macht in Frankreich, sondern Napoleon die Macht über fast ganz Europa übernommen. Weit entfernt davon, die Macht mit der Mehrheit des Volks, dem sogenannten vierten Stand, teilen zu wollen, hatte das Bürgertum zwar die alten Eliten aus Adel und Klerus entmachtet, sich aber nun selbst an deren Stelle gesetzt. Das System der Herrschaft war wieder auf den spätantiken Stand gebracht: Kaiserreiche, die mit ihrer Militärregierung vor allem die Interessen des »Geldadels« durchzusetzen haben. Im Gegensatz zum römischen Imperium stand diesen nun eine ungleich höherentwickelte Wissenschaft und Technologie zur Verfügung. In Verbindung mit diesem technischen und industriellen Fortschritt konnte es dem Herrschaftssystem in nur wenigen Generationen gelingen, den »vierten Stand«, der aus relativ »freien«, aber armen Bauern sowie aus Tagelöhnern bestand, zu einer neuen, disziplinierten Sklavenkaste, dem »Proletariat« umzuformen.

Widerstand gegen die moderne Welt
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts hatten in den Freiheitskriegen gegen Napoleon politische Utopien von mehr Demokratie und sozialer Gerechtigkeit Hochkonjunktur. In diesem Klima entwickelten die Dichterinnen und Dichter, Denkerinnen und Denker der Frühromantik einen ganzheitlichen Gefühls-, Erfahrungs- und Erkenntnisrahmen, der bis heute seinesgleichen sucht. Man unterscheidet zwischen Verstand und Vernunft. Verstand ist die Fähigkeit, die Dinge über die präziseste Gliederung in ihren Details zu begreifen. Unter Vernunft versteht man die Intelligenz, die aus der Zusammenschau der Dinge und ihrer Einordnung in die größeren Zusammenhänge besteht. Politisches und ganzheitliches Denken sind hier nah beieinander. Die wachen Geister um Goethe und Schiller spüren sehr wohl, welche Verwerfungen die moderne Welt mit sich bringt.
Denn eine künstlerische, intuitive Schau und das wissenschaftliche Denken beginnen zu ihren Zeiten auseinanderzufallen. Die wissenschaftliche Neugierde, verstehen zu wollen, »was die Welt im Innersten zusammenhält«, und die Sehnsucht, darin den Sinn des eigenen Daseins erkennen zu wollen, gehören nun nicht mehr wie selbstverständlich zusammen. Die modernen Wissenschaften verschreiben sich allein der Ratio, und es sind die Kulturimpulse der Romantik, die sich gegen diese einseitige Orientierung stemmen sowie gegen die herrschenden Machtstrukturen, die sich der Wissenschaft bedienen.
Die Esoterik ist zu dieser Zeit längst nicht mehr Stachel im Fleisch einer allmächtigen Kirche, sondern zur tragenden Kraft und Verbündeten der neuen Herrscher geworden. Und die Wissenschaft braucht sie nicht mehr. Voneinander getrennt, verlieren beide, Esoterik und Wissenschaft, ihr revolutionäres Potenzial und geraten zunehmend in Gefahr, zur Stabilisierung des Herrschaftssystems vereinnahmt zu werden. Nicht nur von der Wissenschaft, auch von den sozialen Bewegungen des 19. Jahrhundert ist die Esoterik nun zunehmend abgesprengt. Der Widerstand gegen die Schattenseiten des erstarkenden Kapitalismus wird nun zum größten Teil von den sozialistischen Massenorganisationen getragen, die spätestens seit Karl Marx sich auf die wissenschaftlichen Erkenntniswege und auf den bürgerlichen Staat als Hebel zur Macht fixieren. Die anarchistische Bewegung, deren Kapitalismus- und Staatskritik viel tiefer und fundamentaler ist als die marxistisch-sozialistische, ist nur zu besonderen Zeiten und in speziellen Gebieten ebenfalls eine Massenbewegung. Ähnlich wie die utopischen Sozialisten und die frühsozialistischen Kommune-Experimente wird sie im großen Duell der beiden materialistischen Ideologien nur am Rande wahrgenommen.
Nachdem sich nun auch die innere Erkenntnissuche und die Suche nach realen Sozialformen für eine gerechte Gesellschaft von­ein­ander entfernt hatten, wandelt sich der Charakter der Romantik. Hatte sie einst als gleichermaßen »linker« wie auch »spiritueller« Aufbruch begonnen, wurde die Spätromantik durch das Fehlen politischer Perspektiven zu einer rückwärtsgewandten, eher »rechten« Geisteshaltung, die sich ein idealisiertes Mittelalter zurückwünschte. Hauptprofiteure dieses geistigen Niedergangs waren noch einmal die Fürsten, die 1871, diesmal im Bündnis mit dem Bürgertum, das zweite Deutsche Reich gründeten.

Die Lebensreform und ihre Perversion
Am Ende des 19. Jahrhunderts bildet sich im Deutschen Reich eine soziale Bewegung heraus, die wir heute am ehesten mit dem Begriff »ganzheitlich« bezeichnen dürfen, im Sinn von »allen Erfahrungsdimensionen des Menschseins zugewandt«. Nicht in jedem ihrer Einzelaspekte, wohl aber in ihrem Gesamtzusammenhang hat sie einen fundamental anti-kapitalistischen, gleichermaßen geistig-spirituell-kulturellen wie auch radikal politischen Charakter. Ihre Anfänge in der Wander­vogel- und Jugendbewegung korrespondieren mit der Frühromantik und entspringen, eher emotionalen und intuitiven Impulsen folgend, einem tiefen Unbehagen an der industriellen Gesellschaft und Zivilisation. Die Lebensreformbewegung, die in der letzten Dekade des 19. Jahrhunderts beginnt und bis zur Machtübernahme der Nazis wirkt, umfasst schließlich alle Bereiche, ist gleichzeitig vielfältiger, komplexer und tiefer angelegt als die Alternativ-, Gemeinschafts- und kulturkreative Bewegung bis heute. Sie hat keine einheitliche Theorie hervorgebracht, bildet in ihrer gelebten Praxis aber den radikalsten Gegenentwurf zu modernen Herrschaftssystemen wie dem Kapitalismus, der sich bisher zeigte.
Die Massenorganisationen der bis dahin marxistischen Linken sind ihr viel zu systemimmanent. Ihre Kapitalismuskritik ist radikaler als die der Parteien. Sie geißelt den Zins, ohne dabei antisemitisch zu sein, sie projektiert »Lebensraum im Osten« und meint damit die Nutzung dünn besiedelter Ostgebiete des deutschen Reichs für Selbstversorgerkommunen aus den westlichen Schwerpunkten struktureller Massenarbeitslosigkeit – und eben nicht Eroberungsfeldzüge. Es herrscht Aufbruchsstimmung. Ein Lebensreform-Protagonist, der Anarchist und Pazifist Gustav Lan­dauer, schreibt 1909: »Wenige sind wir, und jeder unter uns möchte sich verzehnfachen, möchte den Tag spalten, damit mehr Zeit sei, möchte hundert Arme haben, um überall mitanzugreifen; es ruft uns von überallher zur Hilfe, zum Fassen, zum Stoßen, zum Werken: Es ist eine Lust zu leben! […] Mitten im eigenen Lande, mitten unter unserem Volk, wollen wir den Pflock einrammen und allen, die uns hören können, zurufen: ›Seht alle, ein Wegweiser!‹«
Die Lebensreform sprengt die geistige Erstarrung zwischen materialistisch verflachter Wissenschafts- und Fortschrittsgläubigkeit einerseits und reaktionären Restaurationsimpulsen andererseits. Sie stellt Religion und Politik, Wissenschaft und Spiritualität unter das Primat der eigenen Deutungshoheit. Sie sucht die Wahrheit nicht um einer akademischen Reinheit willen. Sie stellt wissenschaftliche, politische und die verschiedenen spirituellen Konzepte nebeneinander und sucht die Zusammenhänge, die wirklich funktionieren, um eine Gesellschaft und ein Leben zu ermöglichen, »wie wir es wirklich leben wollen«. Sie bedient sich der Traditionen wie auch der Utopien vom besseren Leben. Sie verzettelt sich und macht jede Menge Fehler, aber sie fürchtet sich nicht davor, weil es ihr darum geht, das ganze Leben umzugestalten – und nicht nur die Ernährung, die Gesundheit, die Bildung, die Rollen von Männern und Frauen, nicht nur die Funktionen von Staat und Familie, von Arbeit und Geld, nicht nur den Umgang mit Natur oder die geistige Freiheit in Religion und Spiritualität. Es geht darum, die ganze Gesellschaft gemeinsam und in großer Pluralität zu gestalten. »Nicht zurück zur Natur, sondern vorwärts zur Kultur!«, ist ein Slogan dieser Zeit.
Die große Schwäche der Lebensreform-Bewegung ist ihre überdehnte ideologische Offenheit. Sie umarmt nicht nur Esoteriker und Linksradikale, sondern auch Konservative jeglicher Couleur. Neben christlichen, jüdischen, deutschnationalen und ­sozialdemokratischen Gruppen beteiligen sich auch solche aus der völkisch und bündisch organisierten Jugend. Jugendbewegte, wie die Wandervögel, und die breite Gemeinschaftsbewegung vereint durch Praxis und Lebensgefühl mehr, als sie durch die Ideologien ihrer jeweiligen offiziellen politischen Hintergründe trennt.
Sie schafft es nicht, eine gemeinsame politische Theorie zu entwickeln. Viele ihrer Pioniere kehren nicht aus den Schützengräben des Ersten Weltkriegs heim. Und so ist kaum jemand in ihr wach genug, als die Nazipropaganda beginnt, zuerst an Gemeinsamkeiten bei Inhalten und Lebensgefühl anzuknüpfen und schließlich wichtige Kernimpulse zu plündern und sie als attraktive Versatzstücke in ihre eigene, bis dato eher unattraktive Ideologie einzubauen.
Hier müssen wir kurz an die Trennung von Wissenschaft und Esoterik zu jener Zeit anknüpfen. Während sich die Wissenschaft im 19. Jahrhundert materialistisch und utilitaristisch verengte, entfernten sich parallel einige esoterische Richtungen aus den Gefilden erfahrungsbezogener Wirklichkeit und entwickelten zum Teil recht bizarre Konstrukte. Der Nationalsozialismus und seine Vorläufer konnten an beiden Fehlentwicklungen anknüpfen. Zum einen war in der »Ariosophie« eine esoterische Schule entstanden, deren Rassismus hervorragend zur Diskriminierung der Juden geeignet war. Zum anderen konnte sich der Nationalsozialismus die Hilfe der »neutralen«, materialistischen Wissenschaft für die Waffenentwicklung und das Völkermordprogramm unschwer erkaufen.
Bei allen richtigen Hinweisen, dass es sehr wohl einige (aber selbstverständlich nicht alle!) esoterische Schulen gab, die dem Nationalsozialismus zugearbeitet haben, fehlt der historischen Korrektheit halber (nicht grundsätzlich, aber meistens eben in genau diesem Zusammenhang) der Hinweis auf die zur gleichen Zeit und aus derselben Ursache resultierende Tendenz zur »Gewissenlosigkeit« in den Wissenschaften, die das Potenzial der Erfüllungshilfe für die utilitaristischen Dimensionen des Faschismus in sich trägt.
Die Lebensreformbewegung jedenfalls hatte nicht die geistige Kraft und Klarheit, sich rechtzeitig und deutlich von den Nazis abzugrenzen. So konnten einige ihrer besten Impulse so pervers verdreht werden, dass ihre Vitalität nicht nur von der Naziideologie erfolgreich ausgesaugt, sondern auch bis heute dieser zugeschrieben und daher für den politischen Diskurs dauerhaft »verbrannt« wurden. Begriffe wie Lebensraum, Gemeinschaft, Heimat, der Wille, etwas gemeinsam zu gestalten, ein eigener Weg zum Sozialismus, Zinskritik und vieles mehr sind von den Nazis missbraucht und damit beschädigt und diskriminiert worden. Dieser Missbrauch wird heute weiter missbraucht, um jede Fundamentalkritik des modernen Kapitalismus im Keim zu ersticken, nach dem Motto: »Wer so grundlegend anfängt, unser System in Frage zu stellen, wie es die Lebensreformbewegung tat, der kann ja nur Vorbote eines neuen Rechtsradikalismus sein!«

Aufklärung tut not
Gerade die moderne Demokratiereformbewegung kann diesen doppelten Missbrauch eigentlich nicht mehr auf sich beruhen lassen. Ihr allein wird die Auflösung dieses doppelten Schleiers allerdings kaum gelingen. Sie wird sich verbünden müssen mit anderen Kräften, die gleichermaßen dazu beitragen können, das große Werk der Aufklärung weiterzubewegen. Mit der Alternativ­bewegung der 60er und 70er Jahre entstand ein erstes Anknüpfen an die positiven lebensreformerischen Impulse, und heute, befreit von den verschiedenen Ideologiegebäuden jener Zeit, ist es vielleicht endlich möglich, dies fortzuführen und an die emanzipativen und zugleich ­integrierenden Impulse aus der Aufklärung und der frühen Romantik anzuknüpfen.
Dazu gehört auch eine Neubewertung der Beziehung zwischen Wissenschaft und Spiritualität. »Die Entwicklung von Toleranz und Religionsfreiheit im europäischen Denken ist esoterisch grundiert, ebenso wie die Ausbildung eines universalen Menscheitsbegriffs mit der Möglichkeit der Formulierung von Menschenrechten – das genaue Gegenteil also dessen, was im Nationalsozialismus beherrschend wurde«, erklärt Monika Neugebauer-Wölk. Was muss zusammenfinden, damit eine Kultur ein selbstbestimmtes, freies Denken unterstützt? Es war der Beginn der Aufklärung und der Beginn der Frühromantik, die eine Ahnung davon in die Welt brachten. Stehen wir heute womöglich erneut am Beginn eines solchen Impulses?
Die anfangs erwähnten Gruppen, Netzwerke und Basisbewegungen haben schon begonnen, über die jeweiligen Tellerränder hin­auszuschauen. Auf zahllosen Treffen und Konferenzen werden bereits die alten Paradigmen gesprengt und ganzheitliches Denken und Handeln wiederentdeckt. Und es würde sich sehr hilfreich auf diese Praxis auswirken, wenn auch im akademischen Bereich ein Bewusstseinsprozess stattfände, der sich aus den Verkrustungen des 19. Jahrhunderts und der damit verbundenen Liason mit
der Macht emanzipieren würde. 


Weiterführende Literatur
• Jochen Kirchhoff: Nietzsche, Hitler und die Deutschen. Edition Dionysos, 1990 

• Ulrich Linse (Hrsg): Zurück, o Mensch, zu Mutter Erde. dtv, 1983 
• Monika Neugebauer-Wölk: Esoterik und Neuzeit. Überlegungen zur Tiefenstruktur reli­giösen Denkens im Nationalsozialismus. www.zeitenblicke.de/2006/1/Neugebauerwoelk 
• Rüdiger Sünner: Schwarze Sonne. Die Macht der Mythen und ihr Missbrauch in Nationalsozialismus und rechter Esoterik. Drachen Verlag, 2009

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