Sinn erlesen in einer Welt, in der alles mit allem verbunden ist.
von Matthias Fersterer, erschienen in Ausgabe #11/2011
Die erste bewusste Lüge meines noch jungen Lebens habe ich am ersten Schultag begangen: Als die Klassenlehrerin fragte, wer denn morgen gerne wiederkäme, hob ich wie alle anderen die Hand. Das war glatt gelogen. Die Betonung hatte auf »gerne« gelegen. Ich aber erfuhr die Schule vom ersten Tag an als milde Krankheit.
Trost spendeten mir die Nachmittage im Wald, den ich als nährenden Sch0ß empfand, und die Bücher – vielleicht gerade weil die Buchstaben bei mir nicht so wollten, wie sie sollten. Dass ich dann begann, zu lesen, was mir zwischen die Finger kam, erscheint mir rückblickend als Selbstmedikation gegen das, was besorgte Pädagogen als Rechtschreibschwäche diagnostizierten. Ich las, um zu lernen, wie man schreibt, und um einen Weg zu finden, auszudrücken, was ich fühlte. Ich las um mein Leben. In gewisser Weise ist das noch heute so. Die Bücher trösteten mich, leisteten mir Gesellschaft, schenkten mir Antworten und halfen mir, in eine Form und auf den Punkt zu bringen, was ich als vage Ahnung in mir trug. Bald war mir klar: Lesen ist kein einseitiger Vorgang. Wie sonst wäre zu erklären gewesen, dass mir die Figuren in den Büchern so seltsam vertraut waren und ich viele Gedanken und Gefühle darin als meine eigenen erkannte? Und wenn ich mich durch die Bücher erkannte, vielleicht erkannten sich dann auch die Bücher und deren Autoren durch mich, ihren Leser? »Was haben wir seit Anbeginn erfahren, / als dass sich eins im anderen erkennt?«, schrieb Rainer Maria Rilke. Heute würde man das als Reziprozität bezeichnen, aber das Prinzip ist das gleiche: Erkennen heißt, erkannt werden. Ich stellte mir vor, wie von jeder Leserin und jedem Leser, die jemals in ein bestimmtes Buchs eingetaucht waren, ein Band hin zu einer unsichtbaren Mitte laufe, die zusammen ein Netz ergäben, das wieder eingewoben ins große Netz der Sprache wäre. Von Feldtheorien wusste ich damals noch nichts. Aber ich wusste: Lesen verbindet mit der Welt. Später bewegte ich mich durch Buchläden und Bibliotheken wie ein Trüffelschwein durchs Gehölz: Überall witterte ich Verheißungen verborgener Schätze. Wie ein trockener Schwamm sog ich Bücher auf, die Gutes, Wahres, Schönes versprachen – und spie wieder aus, was sich als zu lau, zu konfektioniert, zu schal erwies. Nach und nach lernte ich, Kraut und Rüben von Edelgewächsen zu unterscheiden, und habe seither nie aufgehört, Bücher zu suchen, die, wie Kafka schrieb, »eine Axt für das gefrorene Meer in uns sind«. Irgendwann erkannte ich, viele der Autoren, die mich besonders in den Bann ziehen, betreiben eine Art heimatloser Heimatdichtung – Heimat nicht als regionale Provenienz, sondern als große Heimat des Lebens verstanden. Dazu zählen Schriftsteller wie der schwedische Nobelpreisträger Tomas Tranströmer oder der australische Lyriker Les Murray. In einem seiner tiefgründigen Gedichte schreibt Murray über das Material, aus dem er seine Werke formt, die menschliche Sprache: »Alles außer der Sprache / kennt den Sinn der Existenz. / Planeten, Bäume, Flüsse, Zeit / kennen weiter nichts. Sie offenbaren ihn / in jedem Augenblick als das Universum.« Jemand, der meisterlich versteht, die Sprache zu dehnen und sich an den Rändern des Unsagbaren einem Sinn entgegenzuhangeln ist Peter Handke: Etwa wenn er die Geräusche der »flugsurrenden Goldkäfer« und das prasselnde »Aufknistern der einander berührenden Flügel zweier Libellen im Flug« beschreibt oder für die »kleinwinzigen, weißen, zerbrechlichen Ährenblüten des Wegerich« die Wortneuschöpfung »zartsam« kreiert. Mit anderen Mitteln, aber nicht weniger intensiv, beschreibt der Hesse Andreas Maier die Wunder der Natur, etwa eine zum Flug anhebende Ente, die wirkt, »wie wenn ein Mensch plötzlich für Sekunden Flügel ausbreitete, abhöbe und sich zum Engel verwandelte …« Nach und nach begann ich, selbst nach Worten zu suchen, um das sirrende Spiel des Windes auf dem herbstlich gefärbten Laub der Pappel vor meinem Fenster zu beschreiben oder die unerhörte Majestät der Stare, die über meinen Kopf hinwegfliegen und, in Formationen zwischen Chaos und Ordnung oszillierend, sich dem Horizont entgegenschrauben, oder den Löwenzahn, dessen Blätter durch Herbizidverseuchung siech und fahl geworden sind, und der doch seine Samen in alle Winde verschenkt, ohne zu fragen, »warum«.
Literarische Heimatfinder • Peter Handke: Gestern unterwegs. Jung und Jung 2005 • Andreas Maier: Bullau. Suhrkamp 2006 • Les Murray: Übersetzungen aus der Natur. Edition Rugerup 2007 • Tomas Tranströmer: Sämtliche Gedichte. Hanser 1997