Dieter Halbach erzählt Geschichten von Narren und Magiern des Alltags.von Dieter Halbach, erschienen in Ausgabe #11/2011
An einem frühen Morgen in der U-Bahn wurde ich Zeuge einer merkwürdigen Begegnung, eines ungleichen Kampfs. Dazu muss man wissen, dass ich zu dieser Zeit ein glühender Anhänger der Gewaltfreiheit war. Ich las Gandhi und das Daodejing und studierte unter anderem die sanfte Kampfkunst des Aikido. In meinem Kopf liefen endlose Filme, wie ich der Gewalt als edler, gewaltfreier Ritter begegnen könnte. Und an diesem Morgen schien sich mir endlich die erwünschte Gelegenheit zu bieten. Ein Mann mit Glatze und Springerstiefeln torkelte in das Abteil und suchte Streit. Zwei Jugendliche mit ihren Skatebords schienen ihm genau die richtigen Opfer. Schon nach wenigen Minuten begann die Situation zu eskalieren. Das war der Zeitpunkt für mich, zu handeln. Ich stellte mich dem Betrunkenen in den Weg und nahm meine Aikido-Haltung ein. Der Mann sah mich mit irren Augen an: »Ey, du bekiffte Zecke …« Und schon wollte er sich auf mich stürzen. In diesem Moment schrie jemand gellend »He!«. Es war ein seltsam freudiger, beschwingter Klang – als ob du einen lange vermissten Freund wiedergefunden hättest. Wir wandten uns jäh zur Seite. Dort saß eine ältere Dame, sehr klein und doch sehr aufrecht in ihrem altmodischen Kostüm. Auf ihrem Kopf ein kleines Hütchen. Ihre Augen blitzten wach und beinahe belustigt aus ihrem faltigen Gesicht. »Komm her«, winkte sie dem Betrunkenen. Der Mann stellte sich vor die kleine Dame und brüllte herum. Die strahlte ihn an. »Was hast du getrunken?« »Schnaps habe ich getrunken … aber das geht dich nichts an!« »Oh, das ist wunderbar!« freute sich die Frau. »Ich liebe Schnaps ebenfalls. Ich komme aus Italien, weißt du, und da gibt es den besten Grappa der Welt. Mein Mann und ich, wir nehmen uns am Abend oft ein Gläschen und setzen uns raus auf unsere Holzbank. Hast du auch vorhin mit deiner Frau zusammen etwas Gutes getrunken?«“ »Nein«, antwortete der Mann. »Ich hab keine Frau.« Er schwankte und begann leise zu schluchzen. »Meine Freundin ist mir weggelaufen, das ist total schrecklich …« Die Dame rutschte ein wenig zur Seite. »Oh weh, komm setz dich her und erzähle mir von ihr.« Beim Aussteigen sah ich gerade noch, wie der Betrunkene mit seinem mächtigen Körper auf den Sitz neben ihr gesunken war und sein Kopf auf ihrer Schulter lag. Auf dem Bahnsteig und wieder bei mir angekommen, tat mein Bewusstsein einen Sprung: Ich hatte soeben ein Lehrstück in Aikido und gewaltfreier Aktion in Vollendung gesehen.
*
Ich sitze im Zug und döse vor mich hin. Die Stimme einer Frau, die vor mir sitzt, dringt durch meine Müdigkeit. Ihr Gerede irritiert mich, es passt nicht hierher. Ein wenig wacher werdend, verstehe ich, dass sie in ihr Handy spricht. Mit dem Schlafen ist es ohnehin vorbei, eine Mutter mit zwei »schwererziehbaren« Kindern entert das Großraumabteil. Unbeirrt verfolgt sie ihre Erziehungsversuche, und ich frage mich, ob es nicht an der Zeit sei, die völlige Sinnlosigkeit solcher Methoden einzugestehen, nachdem sie nun schon seit hundert Jahren scheitern. Die Mutter schaut mich gequält an, sucht mein Einverständnis in die Hoffnungslosigkeit ihrer Lage. Erst jetzt fällt mein Blick auf einen Mann mir schräg gegenüber. Er hat eine komische Mütze auf. Mit eigenartig traurigen und zugleich wissend lächelnden Augen beobachtet er aufmerksam die Szene. Die Kinder sitzen (falls man das so bezeichnen kann) ihm gegenüber. Er holt eine kleine Schreibtafel hervor, wie wir sie früher zum Spielen hatten, und schreibt seinen Namen auf. Dann fordert er die Kinder auf, ihren Namen zu sagen. Die Kinder wollen wissen, warum er nicht spricht. Er schreibt: »Ich bin stumm.« Die Kinder wollen wissen, ob er gut hören kann. Er nickt eifrig. Bald sitzen die Kinder neben ihm, der Junge auf seinem Schoß. Es ist Frieden eingekehrt im Abteil. Nur die Frau mit dem Handy schnattert weiter. Der stumme Mann macht sie nach und schnattert ebenfalls lautlos in seine Hände. Die Kinder lachen und erzählen ihm Witze. Die Mutter seufzt und lächelt mit einem kleinen Kopfschütteln. Ich lehne mich zurück und sehe, wie ein Glanz den Mann und die ganze Szene umgibt. Als ich aussteigen muss, lüftet er seine Narrenkappe und verbeugt sich leicht vor mir. So also sehen Magier aus – man sieht sie beinahe nicht, vor lauter Alltag.
*
Ich besuche eine wichtige Konferenz mit lauter wichtigen Leuten. Es geht um das Wichtigste überhaupt, um die Zukunft dieser Erde. Als Journalist werde ich davon berichten. Ist diese Welt noch zu retten? Welche Maßnahmen müssen ergriffen werden? Die Gespräche ziehen die immer gleichen Kreise. So ist die Welt sicher nicht zu retten. Mir läuft ein Schauder über den Rücken. Doch auch die wichtigsten Konferenzen haben Pausen. Man geht in den Speisesaal und lässt sich bedienen. Die feinsten Gerichte werden aufgefahren, während die wichtigen Menschen weiter debattieren, um die Formulierungen der Verträge feilschen. Zwischendurch erkundigen sie sich nach dem Befinden der Ehefrau und überlegen, wie sie ihre Position in diesem Spiel verbessern können. Mit der Zeit fällt mir ein Kellner auf, der den wichtigen Leuten mit freundlich-stoischer Miene jeden Wunsch von den Lippen abliest. Schon bevor sie es selbst wissen, so scheint es mir, bringt er ihnen genau die Speisen und das Getränk, das sie gerade brauchen. Gerade beobachtet er zwei verfeindete Parteien. Ihre Diskussion wird lauter. Der Blick des Kellners ruht auf den Gesichtern der Streithähne – ein warmer, stiller Blick. Niemand aus der heftig gestikulierenden Runde nimmt ihn wahr. Doch ihre Stimmen werden leiser. Mein Blick schweift ab zu seinen Kollegen. Sie vollführen im Hintergrund einen stillen Tanz, und als wären sie durch unsichtbare Fäden mit dem warmen Lächeln meines Kellners verbunden, erfüllen sie den Raum mit Schönheit. Die Atmosphäre im Saal beginnt zu schmelzen, es liegt Heiterkeit in der Luft. Die Verträge scheinen so gut wie unterzeichnet. Vielleicht kann diese Konferenz, kurz vor dem Scheitern, doch noch den Durchbruch bringen. Die wichtigen Menschen sind zufrieden. Sie werden in die Geschichte eingehen. Ich bleibe, bis alle gegangen sind. Der Kellner räumt die Reste vom Tisch. Er legt eine neue Tischdecke auf, bis alles wieder so sauber und unberührt aussieht wie vorher. Dann geht er nach Hause. Nicht einmal seine Frau wird jemals erfahren, was er an diesem und vielen anderen Tagen im Konferenzzentrum vollbracht hat. Für die Rettung der Welt.
*
Vierzehn Jahre ist es jetzt her, mein letzter Flug: Auf in die Kanaren, zur Sonne, mit frisch geborenem Baby. Auf der Rückfahrt bin ich alleine, meine Partnerin fliegt mit unserem Kind weiter zu ihren Eltern. Es ist Winter, und Berlin liegt mir schwer auf der Seele. Mein Rucksack flog versehentlich weiter nach München, und so stehe ich an der Bushaltestelle der BVG, der Berliner Verkehrbetriebe, eher sommerlich gekleidet und elendig frierend. Als ein Bus mir seine Türen öffnet, schallen mir lautes Lachen und eine seltsame Ansage entgegen: »Hereinspaziert die Herrschaften und natürlich besonders die Damen, herzlich willkommen bei der Stadtrundfahrt der BVG. Ich heiße Karl Sommer und bin ihr Fahrer, genießen sie Ihren Urlaub mit mir in Berlin. Sie zahlen den normalen Tarif, und ich fahre Sie durch Berlin zu dem Ort ihrer Wahl.« Ein paar Schritte in den Bus hinein, und ich sehe das zur Stimme gehörige Narrengesicht, standesgemäß unter einer Narrenkappe aus den seligen Frühzeiten der BVG. Meine Stadtrundfahrt beginnt. »Wer bisher noch nicht genügend merkwürdige Tiere gesehen hat, jetzt bitte aussteigen! Nächste Station Zoologischer Garten, hier befinden sich Kamele, Elefanten … Die hohen Tiere sind allerdings immer noch in Bonn untergebracht.« Jede seiner Ansagen wird von viel Gelächter und Zurufen erwidert. Der Bus mutiert zu einer fröhlichen Karnevalsveranstaltung. Urlaub in Berlin – eine unerwartete Zugabe. Als ich aussteige, wünschen mir – wohl ob meiner luftigen Sommerkleidung – einige Mitreisende einen schönen Urlaub und viel Sonnenschein. Und tatsächlich: Ich steige aus, es schneit, und mir ist warm.