Das in Brasilien entstandene Gruppenspiel »Oasis« erobert auch Europa – etwa den Görlitzer Park in Berlin.von Jara von Lüpke, erschienen in Ausgabe #15/2012
Wenn ich Menschen nach ihrem Traum frage, wie sie am liebsten leben würden, gibt es stets die gleiche Reaktion: Alle nehmen zuerst einen tiefen Atemzug – um genug Luft zu haben für die großen Worte. Die Augen blicken kurz nach oben und haben beim Sprechen einen besonderen Fokus, ein Strahlen. Ich frage viele nach ihren Träumen, weil ich diese Reaktion wunderschön finde. Die Menschen werden für einen Moment im Antworten größer, wachsen über sich selbst hinaus. Die Frage nach dem Traum ist Teil des Gruppenspiels »Oasis Game«, das seine Wurzeln in Brasilien hat. Das Spiel ist eine zwei- bis fünftägige Veranstaltung, in der es darum geht, den Traum eines Orts und seiner Menschen zu entdecken und zu verwirklichen. Es möchte Verbindungen in der örtlichen Gemeinschaft stärken und das Gefühl vermitteln, dass unendlich viele Möglichkeiten der Veränderung offenstehen, die wir nur zu ergreifen brauchen.
Ursprünge in Brasilien Auf die Methode bin ich gestoßen, als ich Edgard Gouveia Júnior kennenlernte. Der laut lachende, schwarze Mann mit seinen über zwei Metern Basketballspielergröße wirkte auf mich wie jemand aus einem verwunschenen Wald, aber er reparierte Häuser in brasilianischen Armenvierteln. Für Edgard haben die Slums Sao Paulos jede Menge Zauber und Schönheit in sich – sie seien der perfekte Spielplatz. Als Teil einer Gruppe Studenten wollte er 1999 ein Training für Architekten aufbauen, das von den tatsächlichen Wohnbedürfnissen der Menschen ausgeht. Über die Zeit entstand daraus »die Organisation Instituto Elos« und die einmonatige Ausbildung »Warriors without weapons«, die indigenes Wissen, neue Methoden für Nachbarschaftsbeteiligung, transformative Gruppenprozesse und konkrete Bauarbeit zusammenbringt. Heute bietet das Elos Institut diese Ausbildung nicht mehr Architekten an, sondern richtet sich direkt an junge Menschen mit Unternehmergeist aus aller Welt, die etwas in ihren eigenen Nachbarschaften verändern wollen. Sie werden zu »Kriegern ohne Waffen«, die das Oasis-Spiel in der Welt verbreiten. Unsere heutige Welt ist voller Wüsten, voller Orte und Regionen, in denen das ökologische, soziale oder kulturelle Gleichgewicht auseinandergefallen ist. In all diesen Steppen gibt es jedoch Oasen und Lichtpunkte, Schönheit und Ressourcen, die entdeckt, sichtbar gemacht und dann vergrößert werden können. Jede lebendige Nachbarschaft ist bereits ein Lichtpunkt. Ein Nachbarschafts-Netzwerk ist eine Gemeinschaft, die innerhalb kurzer Zeit ihre Träume vom Miteinander-Leben verwirklichen und ihre eigene Oase entstehen lassen kann.
In einem amerikanischen Vorort In Sacramento, Kalifornien, gehen wir in einer kleinen Gruppe durch die Nachbarschaft, den Blick auf die Schönheit und Schätze gerichtet, die auch in heruntergekommenen amerikanischen Vororten zu finden sind. Kinder an der Straßenecke sind in ein Spiel vertieft und sprechen miteinander eine Mischung aus Spanisch und Englisch. Ein Haufen ungenutztes Holz lehnt an einer Hauswand. Durch die Fenster des Drive-In-Restaurants zählen wir über zehn Clowns. Es ist wie ein Zirkus dekoriert. Davor erzählt uns ein alter Obdachloser mit strahlenden Augen und rauher Stimme die Geschichte des Viertels und vom Goldrausch, als wäre er dabeigewesen. Ein junges Graffiti-Künstler-Kollektiv hat uns in die Nachbarschaft eingeladen und seine Räume zur Verfügung gestellt. In diesen bunten vier Wänden treffen wir uns im Kreis und teilen Erfahrungen, wie schnell ein offener, wertschätzender Blick Verbindungen aufbauen kann. Ein Gefühl von Zusammengehörigkeit und Vertrauen entsteht unter uns, während wir miteinander tanzen und lachend kooperative Spiele spielen, bei denen jeder ein Gewinner ist. Während wir durch das Viertel streifen, nimmt die Nachbarschaft auch uns wahr. Manche wundern sich bestimmt, wer denn diese seltsamen Fremden sind, die alles mit einem Lächeln im Gesicht anstarren. Es entstehen Gespräche – an Hausecken, über Zäune hinweg, manchmal an Küchentischen. Verbindungen wachsen, wenn wir die versteckte Schönheit bewundern, und so beginnen wir, nach den Träumen zu fragen: »Was ist das Potenzial dieser Nachbarschaft?«. Und »Wie willst du leben?« Große Träume kommen zum Vorschein. Weit größer als das Traumauto und das Traumhaus sind kollektive Träume, die gemeinsam mit anderen ersonnen sind. Begonnen haben wir mit fünfzehn Spielern, aber bald ist der Raum des Jugendkollektivs mit an die 50 Menschen gefüllt, die mit Zahnstochern, Kieselsteinen, Knete und Papier den Miniaturplan eines Gemeinschaftsgartens entwerfen. Andere wollen endlich anpacken und beginnen, erneut durch die Nachbarschaft zu streifen und Ressourcen und Material zu identifizieren – frei nach dem Motto: »Wir wollen nicht dein Geld, sondern dein Bestes«. Wenn spürbar ist, dass Träume verwirklicht werden, will jeder mithelfen. Anwohner graben ihre eigenen Blumen aus und grasen ab, was an Fülle in ihren Vorgärten wächst. Alles Material wird kostenlos gespendet. Es hat einen Zauber, einfach anzufangen und den ersten Pinselstrich an die Wand zu setzen oder den ersten Busch einzupflanzen. Spielen ist ansteckend: Sobald begonnen wird, kommen immer mehr Menschen herbei. Wir erinnern uns gegenseitig daran, stets in Begegnung zu treten, denn jeder Fremde kommt mit einem besonderen Talent hinzu, einer neuen Rolle, die für das Spiel dringend gebraucht wird. Ein Tag bleibt uns noch für unser Spiel: Wir malen, pflanzen, bauen Bänke. Umwerfend schön, umsonst und unglaublich schnell soll die Veränderung in Sacramento sein. Selbstverständlich stoßen wir auch auf Herausforderungen – viel Licht zieht auch Dunkles an. Veränderungsprozesse können furchteinflößend sein, gerade wenn sie schnell vor sich gehen. Der Besitzer des Grundststücks, auf dem der Garten ursprünglich entstehen sollte, scheucht uns weg. Zu chaotisch und unüberblickbar ist es ihm geworden. Denn wenn er fragt, wer hier verantwortlich ist, schnellen gleich dreißig Finger in die Luft. Ein wichtiger Lernschritt: Wir müssen besser kommunizieren und Verbindungen sorgsam pflegen, gerade im Rausch des kreativen Entstehenlassens. Dennoch, nun heißt es weitermachen und in die eigene innere Flamme blasen. Während ein Teil der Gruppe Versöhnungsgespräche führt, schlagen andere Nachbarn neue Grundstücke vor. Die Fröhlichkeit und Leichtigkeit, die für dieses ernste Spiel so wichtig ist, kommt zurück. Für den Garten mit vielen Blumen und Gemüse, der jetzt innerhalb weniger Stunden hinter einer Garage entsteht, gibt es immer noch keinen festen Plan. Es gibt auch keinen Vorarbeiter, alles ist im Entstehen begriffen, und Fehler gehören dazu. Jemand baut eine Mauer halb auf, ein anderer baut sie wieder ab, um sie woanders aufzubauen. Ja, es gibt Architekten in der Gruppe und Permakultur-Profis, sogar eine Landschaftsgärtnerin, die um die Ecke wohnt. Aber anstatt auf Expertentum zu vertrauen, gibt jeder, was er kann. Wir sind alle Müllsammler, Maler, Schaufler und Mauerleger. Manche Momente erinnern mich daran, was mir manchmal passiert, wenn ich mein Zimmer aufräume: Plötzlich ist mehr Chaos als zuvor. Doch genau daraus entsteht neue Schönheit. Abends brennen Kerzen und Laternen zwischen den Beeten, eine lokale Band taucht plötzlich aus dem Nichts auf, und Essen wird aus den Häusern herbeigetragen. Veränderung zu feiern, ist einer der wichtigsten Schritte des Spiels. Ebenso zentral ist die Reflexion: »Wie ähnlich unsere Träume doch sind! Was wäre, wenn wir spielerisch leicht die ganze Welt verändern könnten? Und was, wenn alles, was wir dafür brauchen, schon da ist?«
Das Oasis Game kommt nach Europa Das Oasis Game kann auf ganz unterschiedliche Weisen gespielt werden. Die Erfahrungen aus verschiedenen Spielen, an denen ich teilgenommen habe, lassen sich meistens auf zwei grundlegende Träume zurückleiten: Sehnsucht nach Schönheit und Sehnsucht nach Gemeinschaft. In einem Vorort des mexikanischen Oaxaca de Juárez bauen anarchistische Aktivisten gemeinsam mit älteren Hausfrauen einen Altar aus Palmblättern für die Jungfrau von Guadalupe, die als »indigene Maria Mexikos« für die nationale Identität steht. In Shivaji Nagar, Indien, singt eine bunt gemischte Gruppe von Kindern und Jugendlichen, während sie auf dem Dorfplatz Müll aufsammeln. Sie schaffen Raum für eine Sitzbank aus Lehm, die sie bauen wollen. In Portland, Oregon, trifft sich das Viertel, um eine Straßenkreuzung in ein riesiges Gemälde zu verwandeln und so einen Dorfplatz zwischen den Hausblöcken zu erschaffen. Studenten in Brasilien senden Twitter-Nachrichten durch das Land, um Baumaterial für Santa Caterina zu organisieren, eine Gegend, die kürzlich überflutet wurde. In Schweden rennen Teilnehmer einer Konferenz durch den Raum und umarmen um die Wette möglichst viele Menschen. An der Oberfläche sind diese Szenen sehr verschieden und in unterschiedliche kulturelle Kontexte eingebunden. Dennoch verbindet sie etwas: Überall übernehmen Menschen selbst Verantwortung für ihren Lebensraum. Oasis Games haben sich rund um die Welt verbreitet. Doch wie kommt ein Spiel, das in Brasilien mit seiner bunten Wildheit und Chaosliebe leicht von der Hand geht, im rationalen Nordeuropa an? Es braucht Zeit, um sich an die Sprache des Spiels, das so stark aufs Fühlen ausgerichtet ist, zu gewöhnen. Gesellschaftlich sind wir in Deutschland überstrukturiert und »unterspielt«. Regeln und Gesetze, wem die Straßenecke gehört und wer über sie entscheidet, behindern das Spiel. »Die Gemeindeverwaltung wird sich darum kümmern, schließlich zahle ich Steuern«, denken wir oft. Die Bedeutung der Kommunal- und Stadtverwaltung hierzulande hat aber auch Vorteile: Durch Freundschaften und Verbindungen, die zu den »verantwortlichen« Behörden in der Spielvorbereitung geknüpft werden, ist es möglich, die Begeisterung über spielerische Wege des Wandels selbst in die Welt der Verwaltung zu tragen. Spielerische Prozesse haben so das Potenzial für eine gesellschaftsgestaltende Langzeitwirkung auf neuen Ebenen. An zwei Sommerwochenenden im August und September 2012 wird das Oasis Game auch in Berlin stattfinden. Der Traum des Görlitzer Parks will entdeckt und umgesetzt werden. Das derzeitige fünfköpfige Vorbereitungsteam des Spiels bringt unterschiedliche Aspekte ein: Rahel Schweikert und Andreas Teuchert wohnen in der Nähe des Parks und sind bei den Kiezwandlern, der Transition-Town-Initiative Friedrichshain-Kreuzberg, engagiert. Die beiden haben im März für knapp zwei Jahre die Koordination der Bürgerbeteiligung im Görlitzer Park übernommen. Eva Ressel, die sich seit langem mit Ansätzen gemeinsamen Gestaltens und Dialogprozessen auseinandersetzt, hält den Kontakt zu Menschen in Deutschland, die mit dem Spielablauf vertraut sind und das Spiel begleiten werden. Unterstützt wird die Gruppe außerdem von Mitarbeitern des Landschaftsplanungsbüros gruppeF, die in der Umsetzung notwendige Absprachen mit der Verwaltung treffen werden. Das Oasis-Spiel im Görlitzer Park ist nur einer der ersten Schritte einer spannenden Reise zu bürgerschaftlicher Beteiligung an Planungsprozessen und Engagement für den Park. Es ist auch eine Reise ins Unbekannte: »Nur mit ungewöhnlichen Mitteln kann man auch zu ungewöhnlichen Lösungen kommen, die der Park unserer Meinung nach braucht«, meint Eva Ressel. »Unsere Motivation ist, etwas für den Ort zu tun, an dem wir leben, und auszuprobieren, wozu uns das Spiel hier in Berlin verhelfen kann.« Das Spiel setzt bei der Schönheit des Parks an, statt die Problemlage und vorhandenen Konflikte des »Görli« zu fokussieren. Das befremdet gelegentlich ältere und vor allem politisierte Menschen, die fehlende Ernsthaftigkeit befürchten: »Ist das alles ›nur‹ ein Spiel?«. So wird an der Sprache gefeilt, denn es ist wichtig, dass die brasilianische Euphorie in der Sprachlichkeit der Spielanleitung nicht vorrangig zu trennenden Gedankengängen bei den Spielern führt, sondern hilft, Gemeinsamkeiten zu identifizieren.
Eine Bewegung der Spielenden Anstelle des negativen Begriffs »Spaß-Generation« macht der Begriff »Gamification« seit einigen Jahren die Runde. Das Wort beschreibt eine Bewegung hin zum Spielerischen und das Anwenden typischen »Spiel-Denkens« auf alltägliche Situationen. Wenn die Dinge lustig sind, werden sie vermehrt genutzt. Ein Mülleimer in einem schwedischen Park wurde an einem Tag mit fast doppelt so viel Unrat gefüllt als alle anderen Abfallkübel in unmittelbarer Umgebung: Ein eingebauter Bewegungsmelder mit einem kleinen Wiedergabegerät sorgte dafür, dass der Mülleimer bei jedem Stück, das man hineinwarf, ein Geräusch von sich gab, das so klang, als ob der Müll mindestens 30 Meter tief fallen und dann laut aufprallen würde. Faszinierte Spaziergänger suchten begeistert nach weiterem Müll, um die Erfahrung zu wiederholen, und säuberten so den Park. Mir persönlich ist die Entscheidung für verspielte Erfahrungen in meinem eigenen Leben wichtig. So wird aus dem Alltag ein Jahrmarkt der Möglichkeiten. Das Setzen von herausfordernden, aber dennoch klar definierten persönlichen Zielen und das Feiern meiner Erfolge lösen ungeahnte Kräfte in mir aus. Gerade in der komplexen Arbeit, die positiven Wandel in die Welt bringen will, verfällt man leicht ins Abhaken von To-Do-Listen, in kompetitive Gruppenprozesse oder in Diskussionen, wer Recht hat. Dagegen wirkt das Spiel wie Medizin. »Wie im Leben, so im Spiel«, hörte ich oft während des Oasis Games. Schon Plato wusste: »Beim Spiel kann man einen Menschen in einer Stunde besser kennenlernen als im Gespräch in einem Jahr.« Wir können viele weitere Spiele gemeinsam erfinden, um sowohl die Welt um uns herum als auch die eigene innere Welt zu verwandeln. Gemeinschaft und Vision sind überall vorhanden. Wir müssen nicht aufs Land ziehen, um Gemeinschaften zu gründen, denn auch in der Stadt, im Viertel und im Häuserblock haben wir schon eine Gemeinschaft, die neu entdeckt werden kann. Alles, was es dafür braucht, ist ein wenig spielerische Leichtigkeit, ein offenes Ohr und eine Frage – und neue Möglichkeiten werden wahr.
Jara von Lüpke (22) studiert soziales Unternehmertum und Prozess-Design bei den Kaospiloten in Dänemark. Sie schreibt gerne Geschichten, die Mut machen.