Die Gemeinschaft Damanhur spielt, um zu überleben.von Capra Carruba, erschienen in Ausgabe #15/2012
Wir haben monatelang vorbereitet, wie wir die Schlacht im Wald angehen werden: Gespräche bei Kerzenschein bis in die Nacht, Orientierungsspaziergänge im Dunkeln. Spielen wie früher, wunderbar! Wir legen Rollen fest, wer was übernimmt. Alle interpretieren das anstehende Ereignis auf ihre Weise, und so sind wir längst mitten im Sog des Spiels. Auch unsere Gruppendynamik verstärkt sich. Ob man den gewählten Funktionsträgern vertrauen kann? Einige von uns hegen Zweifel. Dann gibt es Gespräche mit den Schiedsrichtern über die Regeln. In den Wald darf nur mitgenommen werden, was vorher auf einer Liste aufgeführt und eingereicht wurde. Keine Handys sind erlaubt. Mehrere Unparteiische werden im Wald mit Trillerpfeifen unterwegs sein; ihr Signal bedeutet Stopp für alle. Ziel ist es, die Fahne der Gegenseite zu erobern. Und dann die erste große Panne: Irgendjemand lässt den wichtigsten Zettel mit unseren geheimen Strategien liegen. Prompt wird er von der anderen Seite gefunden. Wir »Milchbubis« – so der Name unserer Gruppe – geben in dieser ersten Phase kein besonders überzeugendes Bild ab. Und doch bauscht sich die Stimmung auf: »Denen werden wir beweisen, wozu wir fähig sind!« Wem wollen wir es zeigen? Den »Tattergreisen«! Denn in dieser Schlacht treten die neuen Mitglieder der letzten acht Jahre gegen das Establishment der Gemeinschaft an. Und so trägt diese Schlacht den Titel »Milchbubis gegen Tattergreise«.
Milchbubis gegen Tattergreise Es ist in der Geschichte Damanhurs nicht die erste Schlacht zwischen den Generationen, die mit Spritzpistolen im Wald ausgetragen wird. Da kommen die Neuen mit ihrem Gestaltungswillen und wollen alles Mögliche anders machen, und die Alten sind gefordert, sich in Frage stellen zu lassen. Die Schlacht mobilisiert schlummernde Energien und konzentriert sie an einem Wochenende. Sämtliche Emotionen werden in einer starken gemeinsamen Erfahrung katalysiert. Die Teilnahme an einer Schlacht lehrt in zwei Tagen mehr, als in jahrelangem Gemeinschaftsleben vermittelt werden kann. Die Charaktere der Menschen werden sichtbar, die Kräfteverhältnisse, was funktioniert und was nicht … Dieses Mal kommen wir schon am Freitagabend zu unserem Camp, doch es ist nicht fertig. Der, der es vorbereiten sollte, hat es nicht geschafft, hat aber auch nicht um Hilfe gebeten. Es fängt an zu regnen, die Stimmung sinkt. Die Tattergreise schicken großzügig ein paar Paletten, damit die Milchbubis nicht im Matsch stehen müssen. Manche fangen an zu stänkern, andere lachen oder versuchen, die Situation zu verbessern, manche sind zerknirscht und würden am liebsten abbrechen. Die Tattergreise sind besser organisiert: Sie haben eines der Holzforts im Wald gewählt. Es gibt dort heiße Suppe, einen Traktor mit Generator. So zeigt sich deutlich, wie die geistigen (und materiellen) Ressourcen verteilt sind. Während wir Milchbubis uns über die Frage zerstritten haben, wer bestimmen darf, hatten die Tattergreise keinen Zweifel, wer von ihnen am besten wofür geeignet ist. Wer jetzt noch denkt, hier ginge es um ein Geländespielchen im Wald, hat nicht die Abordnung von Tattergreisen gesehen, die sich bei Morgengrauen im Nebel mit konzentriertem Ingrimm auf den Gesichtern an das feindliche Lager heranpirscht. Wir sprechen von Mittfünfzigern, die mit einer Ernsthaftigkeit und Intensität spielen, bei der viele von uns Jungen nicht mithalten können. Die »Schlacht« ist kein Labor und kein Planspiel. Wer nass ist, friert wirklich, wer sich im Wald verlaufen hat, weiß wirklich nicht, wo er ist, wer aus Trotz lieber ausgestiegen ist, statt einer Regel zu folgen, hat viel über sich gelernt. Wir Milchbubis gehen am ersten Tag unter und fordern Revanche. Auch die verlieren wir. In den nächsten Wochen sprechen alle von den vielen Ereignissen eines denkwürdigen Wochenendes. In der Geschichte Damanhurs ist die Schlacht im Wald nur eine Variante des sogenannten Spiels des Lebens. In fast 40 Jahren gab es nicht eine Spieldynamik, die der anderen glich. Auch das ist Teil des Spiels: dass es sich selbst immer wieder neu erfindet. Das Spiel ist eine kollektive Strategie der Veränderung und somit eine tragende Säule Damanhurs. Die für die Gemeinschaft überlebenswichtige innere Dynamik wird zur spielerischen »Institution«, um Bewegung und Erneuerung gegen Verhärtungen, Gewohnheiten und Verkrustungen zu setzen. Das »Spiel des Lebens« ist der Motor, der die Erneuerung der Gemeinschaft aus sich selbst heraus antreibt. Dafür braucht es starke gemeinsame Erlebnisse, in denen sich die Gemeinschaft wieder neu gründet, die eigenen Werte neu erringt oder ganz neue Werte integriert. So haben die Dynamiken des Spiels schon mehrfach grundlegende Öffnungen bewirkt. 1983 war die Gemeinschaft erst wenige Jahre alt. In einem »Krieg der Künste« haben damals verschiedene Gruppen eine starke Identität über Kostüme, Namen und Mythen gebildet und sind gegeneinander über gemeinsame Kunstwerke angetreten. Sie haben das Gelände gestaltet und sind so bis heute sichtbar. In der jungen Gemeinschaft Damanhur gab es vor jener Zeit kaum Kunst. Der »Krieg der Künste« hat den wesentlichen Anstoß für den bis heute großen Stellenwert von Kunst gegeben. Zerstörerische Dynamiken spielend transformieren Eine andere tiefgreifende Erfahrung ist als »Heißes Öl« in die Geschichte eingegangen. Eine kleine Gruppe lebt ein Jahr lang ausschließlich von Lebensmitteln und Produkten, die selbst hergestellt wurden. Im Anschluss steigen andere Mitglieder abwechselnd für ein paar Tage in dieses Experiment von totaler Autarkie ein. Es entstehen bleibende Impulse für die Landwirtschaft, Werkstätten für Kleider und Schuhe, eine damanhurianische Mode und eine tiefe Orientierung am Ziel einer umfassenden Selbstversorgung. »Schlacht« oder »Krieg« sind starke Begriffe, die Aggression, Gewalt und Zerstörung suggerieren. Die zerstörerische Energie von Konflikten existiert überall in der Welt. Auch in Damanhur gibt es Konkurrenz, Konflikte zwischen Generationen, Tendenzen einer Hackordnung. Die Herausforderung für eine Gemeinschaft liegt darin, diese Aspekte zu verwandeln und die in ihnen enthaltene Energie in konstruktive Wege zu kanalisieren. Es gilt, dieser oft unbewussten Eigendynamik Strategien der bewussten Veränderung und des Wandels entgegenzustellen, die auf individueller und kollektiver Ebene greifen. Die Orientierung an individuellen und kollektiven Entwicklungsprozessen basiert in Damanhur nicht nur auf Spiel, sondern auch auf drei weiteren Säulen. Historisch gesehen, begann Damanhur 1975 als spiritueller Weg mit einer starken Motivation zur individuellen Entwicklung. Diese erste Säule ermöglicht es bis heute, im Konfliktfall zugunsten eines geteilten Ideals zu entscheiden, auch wenn der eigene Stolz getroffen ist. Die zweite Säule ist die Gemeinschaft. Ihre Aufgabe ist es, effiziente Strukturen für Entscheidungsprozesse, Arbeitsteilung und Zusammenleben zu finden. Das »Spiel des Lebens« entstand als dritte Säule einige Jahre nach der Gemeinschaftsgründung, als sich die ersten Verkrustungen und Gewohnheiten verdichteten. Die vierte Säule besteht in einem individuellen, selbstbestimmten Transformationsprozess, der persönliche Veränderungen im Bewusstsein um die eigenen Grenzen und Talente realisiert. Im Alltag spielen alle vier Säulen zusammen. Wir wählen ein bis zwei Personen, die jeweils eine von ihnen verkörpern. So gibt es zwei Menschen, die das Spiel als Institution vertreten und Dynamiken oder Interventionen auf verschiedenen Ebenen vorschlagen. Vertrauen zu schenken an Personen, die für einen gewissen Zeitraum die Führung in einem Bereich übernehmen, und sie aus Prinzip in ihrer Rolle anzuerkennen, gehört für uns zu den Spielregeln, die Gemeinschaft gelingen lassen. Es bedeutet, dass ich in meinem Gemeinschaftsleben unterschiedliche Rollen spiele. Manchmal führe ich, manchmal vertraue ich anderen – sogar wenn ich anderer Meinung bin. Es ist eine persönliche Entscheidung, am »Spiel des Lebens« teilzunehmen. Dabei geht es nicht nur um die Entscheidung, an übergreifenden Aktivitäten mitzuwirken, sondern auch um ein Selbstverständnis, dass ich auf dem Spielbrett meines Lebens mein Steinchen selbst setze, wie ich es möchte – und nicht, wie andere es für mich vorgesehen haben. So ist das »Spiel des Lebens« viel mehr als eine Säule: Es ist der Geist, nichts für selbstverständlich zu nehmen und aus Prinzip zu experimentieren. Auch in diesem Sinn ist das Spiel ein zentraler Teil der damanhurianischen Kultur. »Und das Schönste am Milchbubi-Sein«, fasste eine neue Damanhurianerin ihre Erfahrung zusammen »ist, dass du in der nächsten Schlacht ein Tattergreis bist«.
Capra Carruba (44) ist der Gemeinschaftsname der Autorin (bürgerlich Christine Schneider). Er bedeutet Ziege-Johannisbrotbaum. Capra lebt seit 2001 in Damanhur und interessiert sich insbesondere für Wissen, das Transformation ermöglicht und Gemeinschaft gelingen lässt.