Über den Versuch, in der »kapitalistischen Kakophonie« des Alltags zum Zuhören und lebendigen Reden zurückzufinden.von Caroline Claudius, erschienen in Ausgabe #17/2012
Der Gewalt in ihrem Kern kann ich nirgendwo anders begegnen als in der Wahrnehmung meiner eigenen Gewalttätigkeit. Nur dort, wo ich einen anderen Menschen meinen Absichten zu unterwerfen versuche, bin ich der Gewalt nahe genug, um sie endgültig begreifen zu können. Ebenso ist die erste und vielleicht einzige Gewalt, die ich verhindern kann, meine eigene – und der Erfolg meiner Versuche der Maßstab für das Ende der Gewalt in der Welt. In mir liegt der Schlüssel zur Auflösung von Gewalt. Das ist eine schmerzhafte Einsicht, aber ohne sie ist jede Friedensarbeit bodenlos. Sprache ist mein persönlich gewaltigstes Instrument – und damit nah, sehr nah am Gewalttätigen. Wenn ich ehrlich bin, nutze ich sie jeden Tag zur Vergewaltigung: an manchen Tagen auf subtilste, an anderen auf grotesk offensichtliche Weise. Ich spreche, um es mir bequem zu machen. Ich sichere mir mit Worten einen größeren Platz in der Welt, als ich bräuchte. Ich fabriziere mit ihnen die Illusion eines unauslöschlichen Ichs. Meine Sprache umschmeichelt, verurteilt, verletzt, vertuscht, verdinglicht, grenzt aus, weil ich es von ihr erwarte. Aber eben weil sie so unendlich machtvoll ist, setze ich auf Sprache als Erneuerin unserer Beziehung zum Leben. Die scheiternden Modelle der Gegenwart, der Kapitalismus, die Wachstumsökonomie, die Kultur der externalisierten Kosten (Virtuelles Wasser, Graue Energie, unbezifferte Ressourcenvernichtung, in Kauf genommene Menschenrechtsverletzungen) basieren auf der Nicht-Beziehung zwischen Menschen. Ich nutze Technik, trage Kleidung, esse Essen, konsumiere Objekte, deren Herstellung Menschen, Tiere und Natur an Orten vergewaltigt hat, die sich meinem Sichtfeld entziehen, die auszublenden mir leicht fällt und systemisch leicht gemacht wird. Ein Mittel hierzu ist eine Sprache, die selber Instrument subtiler, tagtäglicher Kolonialisierungsbewegungen ist – eine Sprache, die mich gerade durch ihre Illusion eines Austauschs wirkungsvoll in meiner Kapsel aus Einsamkeit hält, aus deren emotionalem Vakuum heraus ich verzweifelt konsumiere. Aber ein Wort, das aus mir wächst, kann meinen Panzer aufbrechen. Wenn ich meinen 19 Monate alten Sohn auf der Brust trage, winkt er jedem Menschen zu, dem wir begegnen, und sagt »Hallo«. Es ist ein klares, sprudelndes, die Welt umarmendes, alles ins Warme tauchendes, winziges Wort. Er sagt es – ungeachtet der Körpersprache des Anderen – und vertraut auf die Magie dieses Worts. In den meisten Fällen wird sein Vertrauen nicht enttäuscht. Unbekannte erwachen aus der seltsamen Versteinerung, die das urbane Leben uns trotz unseres unentwegten Treibens auferlegt. Sie winken zurück. Zaghaft meist, seltsam verschämt. Manche erwidern auch, oft ganz leise, sein »Hallo«. Und mein Sohn freut sich. Er gluckst. Er ist einem Menschen begegnet. Ein Mensch hat ihn in seinem Sein bestätigt. Mit einem einzigen Wort. Wenn ich morgens aufstehe und mich wieder hineinwerfe in meine schwierige Beziehung mit der Sprache, dann in der nie versiegenden Hoffnung, wir könnten ein Sprechen finden, dessen Essenz in diesem »Hallo« liegt. Sprache hat sich im Lauf der Evolution als primäres Mittel unserer Welt-Beziehung entwickelt. Schon unser Denken findet in Wörtern statt. Was in die Sprache Einlass findet, dringt bis zum Kern unseres Seins. Deshalb kann es dort auch nahezu unbemerkt Werke der Zerstörung anrichten, die wir anschließend ebenso unbewusst nach außen transportieren. Dieser Prozess wird bereits in die kindliche Sprachaneignung eingebettet, zu einem Zeitpunkt, an dem parallel Ich-Wahrnehmung und Urvertrauen gebildet werden. Schon im Kindesalter greifen die Sprachbilder des Kampfs und Zwangs unserer Alltagssprache in unser Innerstes ein: müssen, siegen, verlieren, sich geschlagen geben, die Waffen strecken, außer Gefecht setzen, unschlagbar sein, Stellung beziehen, strategisch vorgehen, etwas bombenfest machen … Mit jedem dieser Begriffe zementiere ich die Vorstellung, dass das Leben ein Kampf ist. Noch fataler aber sind die Momente, in denen ich direkte Gewalt durch ein aktives Sprechen ausübe. Indem ich etwa meine Worte so verletzend wähle, dass sie mein Gegenüber zum Verstummen bringen, und damit dem Wort selbst seine ureigenste Eigenschaft rauben: zum Dialog zu führen. Oder indem ich zwischen mir und meinem Gegenüber ein Ungleichgewicht herbeirede, ihn herabwürdige. Damit vergewaltige ich die würdevollste Eigenschaft des Gesprächs, nämlich seine Fähigkeit, zwischen Gleichen geführt zu werden, zugunsten meiner Selbstbestätigung. Glaubt mir, ich tue das jeden Tag viele, viele Male. Meine Gewalttätigkeit durch Sprache betrachte ich schon eine Weile. Wir ringen miteinander. Im Lauf dieser Zeit habe ich vier Schritte gefunden, mit denen ich glaube, meine Sprache neu beleben zu können. Ob sie ein allgemeingültiger Weg sind? Ich weiß es nicht. Was ich weiß, ist: Wenn wir der Sprache ihre schönste und friedvollste Rolle zurückgeben, nämlich die authentische Verständigung zwischen mir und meinen Mit-Lebewesen über ein gutes Leben, wird viel Gewalt entfallen. Das ist ein nie endender Prozess, so organisch und anspruchsvoll wie mein Leben selbst.
Sprache von Gewalt befreien Ich kann mich von meinen gewalttätigen Sprachbildern befreien, sobald ich mich für sie sensibilisiert habe. Dann stelle ich fest: Eine gewaltbefreite Sprache bringt mein organisches Ich zum Ausdruck, statt Diener eines sozialen Status quo zu sein. Gleichzeitig gewinnt mein Sprechen an Genauigkeit und Schönheit. Dennoch bleibe ich dabei Teil eines Sprachkosmos, der die schiere Präsenz von Worten zu einer Lärmproduktion nutzt, die Anderes, Wichtiges übertönen soll. Das unentwegte, medial potenzierte Sprachkonzert des Konsumismus erlaubt es mir, meine Ohren vor dem wirklich Geschehenden zu verschließen. Ich lasse es zu, dass Sprache der Vergewaltigung und Abfüllung meiner Sinne dient, die so gegenüber Unausgesprochenem und Unaussprechbarem abstumpfen. Hinter meiner intellektualisierten Kritik an diesem mich konstant umspülenden Wortfetzenfluss versteckt, bade ich fröhlich die Füße in seiner Brandung. Statt eine weitere Brutstätte gewaltvollen Schweigens zu sein, möchte ich stark genug werden, das Gewalttätige anzusprechen – gegen den weichgespülten, durchgestylten Wortstrom unserer Medienkultur. Der Weg dorthin lässt mich tief in das internalisierte Regelwerk eintauchen, von dem ich mir täglich verbieten lasse, über bestimmte Dinge zu sprechen: die Essenzen des Lebendigen und damit nicht monetär Erfassbaren, den Tod, die Qualen, die unser aller externalisierte Kosten auslösen. Zu einer mutigen Sprache, die Gewalt thematisiert und sich nicht zum Verstummen bringen lässt, gehört ein empathisches Ohr, das durch das weiße Rauschen der postmodernen Kolonisierung auf das, was wirklich gesagt wird, hindurchhören kann.
Gewaltfrei kommunizieren Unser Sprechen kann Konflikte entstehen lassen oder Räume des Verstehens öffnen. Wahrscheinlich hat kein anderer Denker diese Möglichkeit mit mehr Intensität praktisch umzusetzen versucht als Marshall B. Rosenberg mit seinem Konzept der Gewaltfreien Kommunikation. Sie baut auf die Auflösung gewaltaufgeladener Situationen und gewalttätiger Mechanismen in unseren Dialogen durch urteilsfreie Empathie. Gewaltfreie Kommunikation erlaubt es mir, hinter der vom Anderen und mir selbst ausgehenden Gewalt unsere wahren Bedürfnisse zu erkennen. Diese Strategie basiert auf einer Annahme der humanistischen Psychologie, die in jedem individuellen Gewaltakt den sich aufbäumenden Ausdruck eines nicht erfüllten Bedürfnisses sieht, das zu lange ungehört oder unterdrückt blieb. Die der Praxis der Gewaltfreien Kommunikation zugrundeliegenden vier Schritte, die Sprechende – und idealerweise auch Zuhörende – bewusst durchlaufen, erschienen mir bei meinem ersten Kontakt mit Rosenbergs Ansatz ein wenig abstrakt. Ich hatte das Gefühl, als nehme die Methode einem Dialog durch dieses Regelwerk seine Natürlichkeit. Aber ich habe die erstaunliche persönliche Erfahrung gemacht, dass diese Methode in der Lage ist, jede Konfliktsituation in einen Gesprächsraum zu verwandeln, in dem sich die Beteiligten aufgehoben und verstanden fühlen: weil sie sich beobachten und anschließend ihre Gefühle und Bedürfnisse ausdrücken, ohne zu urteilen. Weil sie einander um etwas bitten, statt voneinander zu fordern. Es gibt erstaunliche Beispiele dafür, dass gewalterfüllte Spannungszentren, die schon jenseits des Vorstellbaren verkrustet erschienen (wie etwa der israelisch-palästinensische »Dialog«) entschärft werden konnten.
Friedvoll sprechen Friedvolles Sprechen beginnt, wenn ich den Mut gefunden habe, die Bedürfnisse meines Gegenübers als gleichberechtigt mit meinen eigenen zu betrachten. Es entsteht für mich aus dem Gefühl, dass es nichts gibt, was du mir nehmen könntest, da ich alles bereits bin. Dieser Gedanke aus dem (Zen-)Buddhismus ist für mich die radikalste Antithese zum Kolonialismus, diesem ewigen Ausstrecken nach Noch-Mehr, das ja gleichzeitig auch eine verstörende Aussage über das eigene Selbstwertgefühl macht. Wenn ich aus dem Gefühl der eigenen Vollkommenheit heraus spreche, wird meine Sprache kein Instrument der Aneignung, Kontrolle und Instrumentalisierung sein, sondern immer nur das friedvolle Ansprechen des ebenso vollkommenen Anderen im gemeinsamen Bemühen um eine ihren Frieden findende Welt. Wie der Zen-Buddhismus Paradoxien als Auslöser mentaler Klärungsprozesse zelebriert, so scheint mir die Wurzel des friedvollen Sprechens die Stille zu sein. Bewusst gemeinsam zu schweigen, ist die Teilnahme an einem Akt der Friedensstiftung. Nicht das bloße Verstummen, sondern das von Leben überströmende Schweigen öffnet meinem Gegenüber den Raum, um aus sich heraus zu sprechen. Nach dem Schweigen wiegen die Worte schwerer, und der Umgang mit ihnen wird von selbst behutsamer.
Lebendig reden Dieser Schritt ist für mich der schwerste. Das liegt an meiner früh gekappten Beziehung zur Natur, eine folgenreiche und katastrophale Abtrennung, in der Sprache eine absolut essenzielle Rolle als Verursacher wie als Ergebnis gespielt hat. Ich selbst bin ein Kind der Stadt; das ist meine persönliche Un-Natürlichkeit. Aber auch die Sprache selbst ist Opfer einer Ent-Naturierung, einer kontinuierlichen und konsequenten Abkoppelung vom Natürlichen. Durch ihr Einfrieren in der Schrift, durch die Formalisierung des Alphabets, durch die schleichende Zerstörung der oralen Traditionen, durch die Herauslösung des Sprechens aus dem Akt des Laute-von-sich-Gebens, die das Tierreich und die Geräusche der Natur nachahmen, ist meine Sprache zur größten Barriere zwischen mir und der Wirklichkeit des Lebens geworden. Vielleicht müsste ich der Sprache ganz entsagen, um den ungezähmten, sinnlichen Teil meines Selbsts wieder zugänglich zu machen. Andererseits spüre ich immer wieder, dass es gelingen kann, eine kreative Sprache zu kultivieren, die das Prozesshafte allen Seins abbildet. Wenn das gelingt, berühre ich oft mein Gegenüber, weil ich plötzlich spüre, wie sich meine Gestik und Mimik von den Fesseln der Scham befreien. In diesen Gesprächen geht es um etwas Angewandtes, das Wirklichkeit werden möchte. Das letzte lebendige Reden habe ich vor ein paar Tagen in unserem Gemeinschaftsgarten »o’pflanzt is!« erlebt, als es um die Neuansiedelung von Bienenstöcken ging und der Imker den Ort suchte, an dem sich die Bienen am wohlsten fühlen würden. Er beschrieb ihre Gewohnheiten, die Art, wie sie sich ihre Ausflugschneise suchen, wie sie einander von ihren Blütenfunden berichten, wie sie träger werden im Winter, und während er sprach, hatte ich das deutliche Gefühl, dass seine Worte wie ein Bienenschwarm wurden, der in mich eindrang, in meinen neuronalen Bahnen tanzte und ein Verstehen dafür entfachte, warum und wo wir den Schwärmen ihr neues Zuhause geben sollten. Es war ein grandios-fröhlicher, jubilierender Moment, an dem wir beide durch unseren Austausch an einem weit über uns hinausweisenden Ereignis der Natur teilhatten. Kann meine Sprache so lebendig werden wie die meines Kindes? Kann ich aufhören, meinem Kind Gewalt anzutun, indem ich ihm Sprache als von außen kommendes Welt-Überwältigungsinstrument aufzwinge? Spracherwerb kann zwei Richtungen annehmen: von außen nach innen – und von innen nach außen. Im ersteren Fall zwinge ich das Kind auf die vermeintlich liebevollste Weise, sich die Sprache der Erwachsenen überzustreifen, um in deren Spiel zu überleben. Im zweiten Fall lasse ich das Kind aus seinem inneren Bedürfnis heraus in neugierigen Kontakt mit allem Sein treten und eigene Worte für diese Beziehung finden. Ich beobachte die Poesie, mit der mein Kind aus Lauten zärtliche Gewänder für die Welt webt. Es begreift die Natur in ihrer unerschöpflichen Ansammlung von Wundern als Geschenk und begleitet die Entfaltung dieses Wunderwerks mit seiner ganz eigenen Komposition aus Gurgeln und Krähen, Juchzen und Brummen. Mein Sohn redet mit der Natur in einer lebendigen Sprache, genau, wie er sie zu sich sprechen hört. Wenn ich es zulasse, ist das Leben selbst Sprachausbilder meines Kindes und seine Sprache eine sinnliche Feier der Vielfalt des Seins. Statt meinem Sohn Stoff aus meiner Welt anzubieten, um daraus ihre Verkleidungen in seiner Größe nachzuschneidern, übe ich mich nun jeden Tag darin, ihn Lehrmeister meines lebendigen Redens sein zu lassen.
Caroline Claudius (40) studierte Philosophie. Sie engagiert sich für eine Umsetzung des guten Lebens, wachstumslosen Wohlstand und eine bewahrte Natur, letzteres praktisch im Gemeinschaftsgarten »o’pflanzt is!«.