Der Musiker Heinz Ratz gibt Flüchtlingen eine Bühne.von Elena Rupp, erschienen in Ausgabe #17/2012
Kino Babylon, Berlin. Im großen Saal ist eine Bühne aufgebaut. Fünf Musiker sitzen dort im weißen Scheinwerferlicht. Im Publikum herrscht erwartungsvolle Stille. Ein junger Mann in schwarzer Hose und Trainingsjacke steigt lässig zur Bühne hinauf. Er nimmt das Mikrofon aus der Halterung, es rauscht kurz: »Jo.« Er nestelt an den Kabeln, rückt die Halterung zurecht, räuspert sich. »Okay, Leute, mein Name ist MC Nuri. Ich hab zehn Jahre lang in einem Asylheim gewohnt. Die Zeit war sehr schlimm, und darüber habe ich einen Song geschrieben.« »Wenn du gefangen bist«, rappt er los. »Wenn du gefangen bist, in diesem Asylantenheim, wünschst du dir nur eins – ein freier Mensch zu sein …« Der 20-Jährige stammt aus Dagestan und lebt in Deutschland, seit er neun ist. An diesem Abend steht er mit dem Liedermacher Heinz Ratz und seiner Band Strom & Wasser auf der Bühne, ebenso wie drei weitere Gastmusiker aus Gambia, Afghanistan und von der Elfenbeinküste, die in Aslybewerberheimen wohnen. In ihrer Heimat haben sie als Musiker hohes Ansehen genossen, hier aber kaum Gelegenheit, ihr Talent zu pflegen. 2011 ist Heinz Ratz mit dem Fahrrad 5500 Kilometer quer durch die Bundesrepublik gestrampelt, um für eine menschlichere Flüchtlingspolitik einzutreten. In 60 Städten hat er Konzerte gegeben und Spenden für die besuchten Lager gesammelt. Was er erfahren musste, hat ihn zutiefst erschüttert: Verschimmelte Duschen, winzige Räume, keine ordentliche medizinische Versorgung, dazu die Bevormundung durch Behörden sowie die ständige Angst, von der Polizei abgeholt und in den nächsten Flieger gesetzt zu werden. Um doch etwas Hoffnungsfrohes zu schaffen, suchte er nach Musikern unter den Flüchtlingen und lud sie ein, zusammen eine CD aufzunehmen. Dass sie immer wieder auf der Bühne stehen können, grenzt an ein organisatorisches Kunststück. Für jede Reise muss Heinz Ratz Genehmigungen beantragen, denn Flüchtlinge dürfen sich nur in ihren Landkreisen bewegen. »Hier ist es schlimmer als im Knast, denn du weißt nicht, wann du frei bist«, rappt Nuri.
Musik für die Freiheit Kurz vor dem Konzert läuft der Soundcheck. Die Tontechniker fahren Scheinwerfer rauf und runter, Nuri testet das Mikrofon, rappt ein paar Takte: »Wenn du gefangen bist, in diesem Asylantenheim …« Hosain streunt mit seiner Kamera durch die Sitzreihen. Das Projekt bedeutet ihm viel, er möchte einen Film darüber drehen. Der 18-Jährige ist Afghane, hat sein Land aber nie gesehen, sondern wuchs im Iran auf. Auch er macht Rap- und Hip-Hop-Musik, die dort verpönt ist. Das sei nichts für Moslems, sagt sein Vater. Das sei nur was für Europäer, sagen die Leute im Iran. Hosain lässt sich in einen Kinosessel fallen und breitet die Ellbogen auf den Armlehnen aus. Alle dächten gleich an Gangsta-Rap, ereifert er sich. »Aber ich möchte lebendige Musik machen. In Afghanistan leben so viele Völker: Paschtunen, Tadschiken, Hasaras … Alle kämpfen gegeneinander – wer Schiit ist, wer Sunnit ist, wer Moslem ist, wer kein Moslem ist. Ich möchte meinen Landsleuten sagen: Wir sind alle Brüder!« Im Iran machte er im Untergrund Musik – bis die Angst vor der Polizei zu groß wurde. Mit 15 Jahren floh er in die Türkei, zusammen mit 40 Menschen in einem Schlauchboot. Als die Küstenwache sie auffischte, waren die meisten bereits tot. »Viele Kinder sind gestorben. Ich kann nicht schwimmen, so musste ich einfach mit ansehen, wie sie davontrieben.« Nach sechs Monaten in der Türkei und anderthalb Jahren in Griechenland landete er mit 17 Jahren in Deutschland. Das Schlimmste sei, immer Rechenschaft ablegen zu müssen, sagt er. »In der Behörde fragten sie: ›Wie alt bist du?‹ ›17‹, antwortete ich. Sie sagten: ›Du kannst uns alles erzählen, wir müssen das überprüfen, du musst zum Arzt.‹ Dort sollte ich meinen Pullover ausziehen.« Hosain zuckt gleichgültig mit den Schultern, ahmt die Geste nach. »Darauf folgten Hemd und Hose.« Der Junge mimt einen fragenden Blick, er genießt es offensichtlich, die Szene für uns nachzuspielen. »Und schließlich hieß es auch noch: ›Zieh deine Shorts aus!‹« In gespielter Verblüffung zieht er die Augenbrauen hoch. »›Meine Shorts!? Sorry – nur für meine Freundin!‹ Aber sie sagten: ›Du musst!‹ Minutenlang haben sie mich angestarrt. Weißt du, wie sich das anfühlt? Nach zwei Jahren Flucht endlich in Deutschland, eine lange Reise hinter mir – und dann so ein Willkommensgruß!?« Nuri, mit dem Soundcheck fertig, setzt sich zu uns. Auch er kennt ähnliche Erfahrungen: »Viele sagen: ›Freut euch doch, dass ihr hier seid!‹ Aber wie Flüchtlinge behandelt werden, ist überhaupt nicht menschlich. Ich habe mir gedacht, die Welt muss doch erfahren, wie es in den Lagern ist! Deshalb hab ich angefangen, Musik zu machen.« Auf das Konzert freut er sich. »Heute ist mein Glückstag irgendwie. Der beste Tag meines Lebens.« Nach zehn Jahren haben seine Eltern endlich eine Arbeitserlaubnis bekommen. »Ausgerechnet an meinem Geburtstag!« Er reckt die Hände nach oben, als wolle er dem Himmel danken. Fast alle ausländischen Musiker, die mit Heinz Ratz spielen, sind von Abschiebung bedroht. Viele wissen nicht einmal, ob sie beim nächsten Konzert dabei sein können. Nach ihren Geschichten fragt Ratz die Musiker nie. »Sie werden ohnehin ständig auf ihren Flüchtlingsstatus reduziert.« Nuri leidet manchmal darunter. »Manche wissen erst einmal überhaupt nicht, was für einem Menschen sie gegenüberstehen. Aber wenn sie dann den Status als Flüchtling sehen, reden sie gleich anders mit einem. Das ist ein bisschen so wie« – Nuri sucht nach Worten – »ausgegrenzt werden«. Er spricht trocken, schnörkellos, ohne Wut, ohne Aggression. Dass andere ihm zuhören und ihn als Menschen sehen, das wünscht er sich.
Flammen revolutionären Denkens Heinz Ratz, der als Kind in Saudi Arabien, Jordanien und verschiedenen Ländern Südamerikas gelebt hat, kennt viele Facetten von Gewalt, Elend und Armut. Auf der Bühne singt der Querdenker von Lieblosigkeit und stellt auf humorvoll-schräge Art gesellschaftliche Missstände an den Pranger, »die ohne Musik viel zu hart wären«. Seine Musik will aber nicht verharmlosen, sondern vermitteln. Bald säuselt er mit seiner Band in Jesuitenchor-Manier seinen Spott auf Paulchen und Peter, die »Leisetreter« – »Es ist alles gar so hoffnungslo-ho-hooos!« –, bald röhrt er mit rauchiger Stimme ins Mikrofon: »Wer eisern durch alle Ärsche kriecht, muss sich nicht wundern, wenn er nach Scheiße riecht.« Mit seiner Musik möchte der 44-Jährige »auf eine punkig-anarchistische, fröhliche Art kleine Flammen revolutionären Denkens« in die Gesellschaft bringen. Die Radtour – auch »Tour der 1000 Brücken« – war die dritte Etappe seines »Moralischen Triathlons«: Bereits 2008 begab er sich aus Protest gegen die Situation Obdachloser auf einen 956 Kilometer langen »Lauf gegen die Kälte«. 2009 schwamm er 890 Kilometer durch deutsche Flüsse, um auf die Umweltzerstörung aufmerksam zu machen. Auch auf diesen Touren gab er Konzerte und sammelte Spenden für Wohnungslose und Artenschutzprojekte. »Ich möchte Mitgefühl und Verständnis für Menschen und Situationen wecken, die davon meines Erachtens nicht genug bekommen. Das ist die politische Aufgabe, die ich für mich sehe.« Ende Oktober haben die Grünen Heinz Ratz für sein Flüchtlingsprojekt die Integrationsmedaille der Bundesregierung verliehen. Als anarchistischer Liedermacher, der die hiesige Flüchtlingspolitik anprangert, überlegte er zunächst, ob er die Auszeichnung annehmen solle. Es sei ja gerade die Regierung, die dafür sorge, dass es den Menschen so schlecht geht. Doch er hofft, »dass der Staat nicht so heuchlerisch sein wird, ein solches Projekt auszuzeichnen und dann die Musiker abzuschieben«. Auf www.1000bruecken.de gibt es eine Petition, die das Bleiberecht für die Musiker fordert. Alles, was sie äußern, kann vor Gericht gegen sie verwendet werden. Auf der Bühne hört man daher kein Wort über ihre Geschichten, kein Wort über ihre Lieder – nur ihre Musik. Was sie singen, versteht bloß, wer ihrer Sprachen mächtig ist. Doch einer unter ihnen wird sein Publikum heute Abend selbst begrüßen, zum ersten Mal, seit er mit der Band unterwegs ist. Er ist 20 Jahre alt, stammt aus Dagestan und lebt in Deutschland, seit er neun ist … Die Kraft seiner Stimme lässt die Verzweiflung erahnen, die er durchlebt hat. »Dankeschön«, sagt er am Ende seines Songs. Trocken, schnörkellos. »Heute ist der beste Tag meines Lebens. Dankeschön.«
Elena Rupp (29) ist Kulturwissenschaftlerin und Journalistin. Als Musikerin gibt sie Unterricht in Querflöte.