Titelthema

Die perfekte Welt ist nicht erstrebenswert

Johannes Heimrath sprach mit dem Sozialpsychologen Harald Welzer über Gewalt in einer zukünftigen Gesellschaft und über die Notwendigkeit des Innehaltens.von Harald Welzer, erschienen in Ausgabe #17/2012
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© Gregor von Glinski

Harald, du beschreibst in deiner bemerkenswerten Schrift »Mentale Infrastrukturen. Wie das Wachstum in die Welt und in die Seelen kam«, wie die von allen verinnerlichte Idee des Wachstums Menschen dazu bringt, immer zu einer »noch besseren« Zukunft zu streben. Sie stehen damit unter dem Zwang, sich ständig entwickeln zu müssen, statt zufrieden mit sich selbst zu sein. Ich habe viel über das Wort »Entwicklung« und die darin implizierte Gewalt nachgedacht und unternehme seit längerem den Versuch, es nicht mehr zu verwenden, sondern von »Entfaltung« zu sprechen.

Häufig stehen uns nur falsche Begriffe zur Verfügung. Passende Gegenbegriffe zum herrschenden Paradigma zu finden, ist noch eine Menge Arbeit. Mir gefällt es zum Beispiel, anstelle von »Wachstum« das Konzept »Kultivierung« zu setzen.

In der »Kultivierung« liegt nicht nur dieser Blick nach vorne, sondern, so scheint mir, auch ein Breiten- und Tiefenaspekt …

Das Wort »Tiefe« hat bei mir eher eine historische Imprägnierung. Saul Friedländer spricht in der Holocaust-Debatte von »tiefer Erinnerung«. Sie erreicht nicht die kognitive Ebene, sondern ist eine historische Erfahrung, die nicht verbalisierbar ist. Ich verwende den Ausdruck »tiefe Industrialisierung« als Begriff für die Zeit- und Raumerfahrungen dieser Epoche, um bewusstzumachen, wie heftig der Transformationsprozess von der vorindustrialisierten zur heutigen Gesellschaft war. Viele stellen sich ja heute die »große Transformation«, die ansteht, so mickymausmäßig technoid vor. Dabei wird sie viel umfassender sein müssen.

In so einen Tiefenbegriff wirkt also auch das Paradigma der Fortschritts- und Wachstumsgläubigkeit hinein! Wir fragen in dieser Ausgabe von »Oya«, inwiefern wir damit gewaltsame Grundmetaphern fortschreiben, und ich stelle jetzt mal die Hypothese auf, dass Gewalt entfallen könnte, wenn eine Gesellschaft sich weniger dem Höher, Weiter, Schneller, sondern mehr der »Tiefe der Menschlichkeit« verpflichten würde.

Das glaube ich nicht. Gewalt ist in der Menschheitsgeschichte immer eine Option sozialen Handelns gewesen. Ich sehe nicht, dass man mehr tun kann, als ihr eine bestimmte Form zu geben. Wir haben ja ein hohes Sicherheitsniveau durch Gewaltmonopolisierung. Indem nur bestimmte Institutionen berechtigt sind, Gewalt auszuüben, bleiben die zwischenmenschlichen Verhältnisse weitgehend friedlich. Normalerweise hat Gewalt mit der Durchsetzung von Interessen zu tun. Demgegenüber gibt es die reine Affekttat; die kann sich sogar gegen das Interesse des Täters richten.

Mir fällt eine Geschichte ein, die von den Aborigines in Australien erzählt wird. Gibt es zwischen zwei Gruppen einen Interessenkonflikt, treffen sie sich an einem bestimmten Ort und brüllen sich an, bis sie erschöpft sind. Dann gestalten sie Kunstwerke und tauschen sie untereinander aus. Damit ist der Konflikt vorbei. Da gibt es also so etwas wie eine Gewalthandlung und eine Regulierung, aber die ist in einem hohen Maß eine Versöhnungsregulierung.

Daran wird deutlich, dass beide Aspekte – Gewalt und Regulierung – auch dort vorhanden sind. Womöglich ließen sich Regulierungen finden, die Gewalt zum Verschwinden bringen. Jede Gesellschaft kann sich ja kulturell selbst erfinden. Für mich ist nicht eine gewaltlose Gesellschaft das Ziel, sondern eine gewaltregulierte.

Bräuchte es dazu nicht einen »tiefen« Erkenntnisprozess?

An Erkenntnisprozesse glaube ich nicht, sondern an Praxis. Wir lernen durch Praxis.

Woher aber kommen die Ideen, wie eine positive Praxis aussehen könnte? Und wie kriegt man eine rasende Gesellschaft ohne Gewalt zum Innehalten?

Idealistisch geantwortet, könnte ich sagen, wir haben hierzulande ja das Privileg, frei und demokratisch handeln und für Inhalte werben zu können. Oder, in der Philosophie unserer Stiftung »Futurzwei«: Wir könnten uns auch Praktiken des Innehaltens vorstellen und uns selbst verlangsamen.

Ich kann mir keine Mehrheit vorstellen, die auf politischem Weg den rasenden Wahnsinn zum Innehalten führt. Du schon?

Wir spinnen jetzt mal: Warum ließe sich nicht das Innehalten so attraktiv machen, dass es bald für eine Mehrheit erstrebenswerter erscheint als das Weitermachen wie bisher? Muße und Nichtstun kommen da ins Spiel. Natürlich nicht endlos, das Innehalten ist ein begrenzter Zeitraum. Wenn ich persönlich spazieren gehe oder Fahrrad fahre oder morgens im Bett liege und Kaffee trinke, sind das Zeiten des Innehaltens, in denen ich viel mehr interessante Ideen habe als während des restlichen Tages.
In einem Innehalten in größerem Maßstab könnte die Gesellschaft vielleicht erkennen, wie absurd das heutige System ist, das so tut, als sei es ein Perpetuum mobile, das keine Energiezufuhr von außen braucht. In all dem liegt kein Sinn, die Tiefenstruktur der Hyperkonsumgesellschaft kennt keine Zwecke außer sich selbst. Das iPhone muss gekauft werden, damit das iPhone gekauft wird. Die wenigen Unternehmen, die in ihrer Bilanzierung die externen Kosten einbeziehen – wie etwa Puma –, zeigen, dass sie ohne die Externalisierung der Umweltkosten viel weniger Gewinn machen würden. Das Wirtschaftswachstum basiert ausschließlich auf Naturzerstörung.

Ich kenne viele Menschen, die versuchen, aus dem Hamsterrad der Wachstumsbeschleunigung auszusteigen und das Innehalten als Dauerzustand zu realisieren. Die Frage aber bleibt, wieviel das bewirkt. Einige Aussteiger aus den 70er Jahren gingen zur RAF. Sie haben gemordet, weil sie wirksam sein wollten, aber sie haben nur zur heutigen Verhärtung beigetragen.

An welcher Stelle Gewalt berechtigt und notwendig wird, ist schwierig zu beurteilen. Gewalt ist in einer Demokratie nicht zu rechtfertigen, in einem Willkürstaat kann sie ein legitimes Mittel sein.

Bis hin zum Töten?

Das ist immer Teil von Gewalt. Gewalt als soziale Praktik entwickelt Eigenlogiken, die man nicht kontrollieren kann. Jede Vorstellung davon, einen gerechten Krieg zu führen, ist illusionär, weil das die Eigenlogik des Kriegs in Frage stellt.
Gewalt kann auch ein Orientierungsmittel sein. Sie ist ja nicht destruktiv, das wäre ein Irrtum, denn sie erfüllt den Zweck, »Wir« und »Sie« zu unterscheiden und sich abzugrenzen. Das hört sich zynisch an, aber aus sozialpsychologischer Sicht ist Gewalt ein Phänomen, das ich nicht moralisch betrachte. Es gibt Dinge, die lassen sich nicht gewaltlos lösen. Ich bin gar kein Apologet des gewaltlosen Widerstands. Durch die Kriegsdienstverweigererprüfung bin ich durchgefallen. »Herr Welzer ist von seiner ganzen Persönlichkeit her nicht als Pazifist einzuschätzen«, hieß es in der Begründung. In meiner wissenschaftlichen Arbeit habe ich mich viel mit Genoziden und Massengewaltprozessen beschäftigt. Auschwitz ist mit Waffengewalt von der Roten Armee befreit worden. Auch den Völkermord von Ruanda hätte man verhindern können, aber wohl nur mit Gewalt.

Zu dieser Auffassung neige ich auch, dennoch rumort es in mir: Wenn das so ist und wir bestimmte »Maschinen« – Kriegsgerät – brauchen, um Gewalt einzudämmen, und wenn wir zu deren Herstellung wiederum die heutige Industrie benötigen, die auf struktureller Gewalt basiert, dann werden wir die Gewalt so nicht los.

Es bräuchte eine transnationale Organisation, die allen Warlords Einhalt gebietet. Mit einem herrschaftsfreien Diskurs wirst du gegen Despoten nichts ausrichten.

Aber die Waffen einer solchen Organisation setzen doch genau den heutigen Hightech-Apparat voraus, der gewaltsam die letzten Ressourcen der Erde verschlingt.

Da bin ich mir nicht sicher. Die Erfolgsbedingungen der neuen Kriege zeigen, dass die Mittel extrem simpel sind, um gegen die hypergerüsteten Hightech-Armeen dieses Planeten vorzugehen. Das Wesen des Guerilla-Kampfs besteht ja gerade darin, dass eine soziale Intelligenz stärker sein kann als hochgerüsteter Technikeinsatz.
Ich denke übrigens nicht, dass eine nachhaltige Moderne ohne Industrieproduktion auskommen wird.

Eine Aufgabe des Innehaltens könnte also darin bestehen, dass wir uns eine Industrie vorstellen, die nur das »Nötige« herstellt. Ich habe angefangen, über eine kleinräumigere Gesellschaft nachzudenken. Dabei sehe ich keine abgeschlossenen Inseln, sondern Halbinseln, die aufeinander bezogen bleiben und herausfinden, wieviel lokale und überregionale Produktion sinnvoll ist. Vielleicht könnte es kooperative, verständnisvolle Austauschprozesse unter diesen kleinräumigeren Einheiten geben, die Gewalt auf einfache Weise regulieren. Damit meine ich keine rosige Welt ohne Konflikte, sondern eine andere Konflikt-Kultur.

Die perfekte Welt halte ich auch gar nicht für erstrebenswert. Weil alle Menschen verschieden und entwicklungsoffen sind, ist die Entstehung von Konflikten unausweichlich. Sich einen idealen Menschen vorzustellen, ist gefährlich, wie uns die Geschichte gezeigt hat. Menschen schaffen sich Räume, in denen sie existieren, und das kann besser oder schlechter funktionieren – je gewaltloser, umso besser. »Ich will nicht geschlagen haben«, um es mal im Futur II zu sagen.
Wir kommen an das große Thema, wie eine nachhaltige Zukunft aussehen könnte. Ich denke, sie wird viele Merkmale der Gegenwartsgesellschaft tragen. Wir werden bestimmte zivilisatorische Errungenschaften beibehalten, wenn wir nicht in diktatorische oder beliebige Verhältnisse kommen wollen. Meine Utopie sind weniger kleinräumige Gruppen, denn in Zukunft haben wir es mit Städten von 40 Millionen Einwohnern zu tun. Ohne Megastrukturen wird es nicht gehen. Die Frage ist daher vor allem, wie sich solche Strukturen zivilisieren lassen. Im Moment arbeitet die Gesellschaft in Richtung einer Dezivilisierung.

Darüber haben wir in der letzten Ausgabe mit dem Generalsekretär des nachhaltigen Städte-Netzwerks ICLEI, Konrad Otto-Zimmermann, gesprochen. Er sagte, die Hauptfrage sei, wie diese Städte produktiver werden, damit sie ihre Einwohner ernähren.

Es ist spannend, was Städteplaner aus den Selbstorganisations-Strukturen von Slums lernen. Langsam fangen sie an, sich dafür zu interessieren. Aber eine nachhaltige Zukunft wird nicht ohne Fremdversorgung auskommen, ein 40-Millionen-Aggregat lässt sich nicht autark machen. Und alle möchten nach wie vor, dass Notfallmedizin verfügbar ist. Ich stelle mir da eine Kombinatorik vor, die wir noch nicht wirklich kennen. Sie wird gewisse Dinge bewahren, die dieser Kapitalismus geschaffen hat. Es gilt, sinnvolle Fremdversorgung und Industriestrukturen zu sortieren in das, was – bei Licht betrachtet – überflüssig ist, und das, was sich zu erhalten lohnt.

Wir werden sehen, was das sein wird und ob und wie wir es fertiggebracht haben werden. Hab Dank für deine Zeit und das gemeinsame Nachdenken. 

 

Harald Welzer (54), Soziologe, Sozialpsychologe und Autor. Er ist Direktor der Stiftung Futurzwei zur Förderung alternativer Lebensstile und Wirtschaftsformen. www.futurzwei.org

Harald Welzers Erkenntnisse zu Gewalt
• Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben. Fischer, 2011 

• Klimakriege: Wofür im 21. Jahrhundert getötet wird. ­Fischer, 2008 
• Täter: Wie aus ganz normalen Menschen ­Massenmörder werden. Fischer, 2005

 

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