Wie Wohnen Sinn stiftet
Dass Wohnen mehr sein kann, als nur ein Dach über dem Kopf zu haben, leben uns die »WohnSinnigen« in Darmstadt vor. Alt und Jung, Arm und Reich, Migranten und Behinderte – offenbar eine kreative Mischung!
Unsere Kultur macht es Menschen sehr schwer, ein eigenes freies Selbst zu entwickeln, weil sie das innere Erleben abwertet und Äußerlichkeiten, wie Besitz und Status, zum Maßstab des persönlichen Selbstwerts erhebt. Gleichzeitig sind in dieser Kultur Gewalt, Dominanzstreben und Rivalität als »positive« menschliche Qualitäten verankert. Zugespitzt könnte man sagen: Wer im Konkurrenzkampf um Status und Besitz gewinnt, darf sich als stark und bedeutungsvoll erleben. Die »Verlierer« jedoch, die sich – aus welchen Gründen auch immer – keinen Anteil sichern können, werden als unbedeutend und weniger wert angesehen. Menschen, die kein starkes Inneres haben und deren Selbstgefühl deshalb von solchen hierarchischen Zuschreibungen abhängig ist, brauchen sowohl Feindbilder als auch mächtige Identifikationsfiguren, um Selbsthass und Minderwertigkeitsgefühle zu betäuben, die aufgrund ihrer Sozialisation in ihnen lauern und die wiedererweckt werden, wenn sie Demütigungen und gesellschaftliche Abwertung erfahren.
Alle Menschen, die Gewalt und Krieg suchen oder sich zum Mitmachen verleiten lassen, sind abgeschnitten von den Möglichkeiten eines Selbsts, das auf eigenem inneren Erleben und dem Mitgefühl mit anderen basiert. Sie brauchen Helden, mit denen sie sich identifizieren können, oder sie müssen sich selbst zum Helden machen, indem sie andere verletzen und töten.
Wenn Menschen weder aus ihrem Inneren noch durch äußere Gratifikationen ein Gefühl von Bedeutung entwickeln können, lassen sie sich leicht zu Werkzeugen von Psychopathen machen, deren ganzes Streben auf Tod und Vernichtung ausgerichtet ist. Bei solchen »Führern« handelt es sich selbst um Menschen, denen man in ihrer Kindheit tiefe Verletzungen und Abwertungen zugefügt hat. Anzeichen für solche Erfahrungen lassen sich in der Biographie Hitlers wie auch in den frühen Lebensgeschichten von George W. Bush und Osama bin Laden feststellen. Solchen Menschen geht es immer darum, sich selbst als grandios und unbesiegbar und andere als minderwertig und vernichtenswürdig zu erleben. Macht zu inszenieren, ist deshalb ihr ganzer Lebenszweck. Die Größenphantasien, die sie dabei hervorbringen, ziehen andere an, die ihnen beitreten, um ihr eigenes inneres Vakuum zu füllen. Dieselbe Kultur, die das Innere des Menschen vernachlässigt, braucht Feindbilder, um sich zu erhalten und ihren Mitgliedern ein sinnerfülltes Selbstbild zu ermöglichen.
In Krisenzeiten wächst die Gewaltbereitschaft. Dies ist die Stunde für politische Führer, die – unter dem Vorwand, für die Gesellschaft nur das Beste zu wollen – die Erlaubnis erteilen, Hass und Verachtung gegen soziale Gruppen zu richten, die angeblich für die Missstände verantwortlich sind. So werden Ausländer diskriminiert, Arbeitslose als »faul« beschimpft und selbst Kranke und Alte zum gesellschaftlichen Problem degradiert. Auf diesem Weg lassen sich Menschen für Kriege mobilisieren. Es müssen nur glaubwürdig ein Feindbild und die Ideologie einer »gerechten Sache« aufgebaut werden. Durch die Hingabe an die abstrakte Idee, eine reine und erhabene Mission zu erfüllen, werden die Grenzen des Ichs aufgeweicht: Der Mensch fühlt sich größer und zugleich hingebungsvoll, weil er sich bereiterklärt, einer Idee zu dienen, die größer als sein Selbst ist.
Das Bindeglied, das Menschen dazu veranlasst, machtbesessenen Führern und ihren Ideologien zu folgen, ist eine allgemeine Gehorsamkeitsbereitschaft, zu der wir alle erzogen wurden. Wir fühlen uns wohl, wenn wir einem starken Menschen folgen. Das gibt uns nicht nur Halt und Orientierung. Die Identifikation mit Macht und Stärke vermittelt ein Gefühl von Bedeutung und Sinnhaftigkeit. So kommt es immer wieder zu der paradoxen Situation, dass ausgerechnet Benachteiligte politische Führer wählen, die nur Verachtung für sie übrig haben.
Kriege können verhindert werden, und ich glaube, es ist einfacher, als wir denken. Denn viele von uns haben noch Träume, die mit unserer Sehnsucht nach menschlicher Verbundenheit zu tun haben. Diese Träume, die tief aus unserem Inneren kommen, können uns eine Hilfe sein, denn sie tragen dazu bei, die Wahrheit zu erkennen, und stärken den Mut, unser Mitgefühl zum Maßstab unseres Handelns zu machen. Denn darum geht es: an dem Glauben an das Gute im Menschen festzuhalten. Die amerikanischen Indianer brachten ihren Kindern bei, dass alles, was wir anderen antun, auf uns zurückfällt. »Paradoxerweise kann man sich nicht selbst helfen, wenn man nicht auch seinen Mitmenschen helfen kann«, schreibt der Dalai Lama. »Es ist die Pflege von Liebe und Mitgefühl, unsere Fähigkeit, in das Leiden eines anderen einzutreten, um es zu teilen, die Grundlage für das weitere Überleben unserer Spezies ist.«
Verbundenheit verhindert Gewalt
Wenn wir begreifen, dass wir alle miteinander verbunden und voneinander abhängig sind, werden wir Gewalt unmöglich machen. Es sind unsere Gemeinsamkeiten, die uns der Liebe und nicht dem Krieg entgegenführen. Die Gefahr besteht jedoch, dass uns propagandistische Tricks davon abhalten, diese Gemeinsamkeiten zu sehen. Als George W. Bush auf einen Krieg gegen den Terror pochte, statt dessen Hintergründe anzugehen, lenkte er von wahren Problemen ab und gab uralten Ängsten, die aus unserer Kindheit stammen, Gestalt. David King, wissenschaftlicher Chefberater der britischen Regierung, schrieb 2004, das größte Problem, mit dem sich die Welt konfrontieren müsse, seien die Klimaveränderungen, die eine ernstere Bedrohung darstellten als der Terrorismus.
So werden wir von der Wirklichkeit ferngehalten. Das Weltbild, das man uns vorspielt, wird dauernd neu umgeordnet. Wir sind so gewöhnt an die ständigen Veränderungen, dass wir sie als ganz normal erleben. So bemerken wir nicht mehr, was man uns antut und dass die größte Militärmaschine der Weltgeschichte mit ihrer tödlichen Technik an die Rhetorik einer Christlichkeit gekettet ist, die genauso fundamentalistisch ist wie der Islamismus der terroristischen Gegenspieler. Und beide Seiten kämpfen im Namen des »Guten gegen das Böse« und für eine »Befreiung von der Angst«.
Wenn es uns nicht gelingt, an der menschlichen Fähigkeit des Mitgefühls festzuhalten, wird uns der Irrsinn der Fundamentalisten – egal welcher Couleur – einholen und zerstören. Es bleibt uns keine andere Wahl, als uns auf unser Herz und Mitgefühl zu besinnen. Nur so werden wir die Urängste, die uns zu zerstören drohen, bändigen.
Nach meinen Vorträgen werde ich häufig gefragt, was wir denn tun können, um unser Herz zu öffnen und unser Mitgefühl zu stärken. Die Zuhörer erwarten Ratschläge, Anweisungen, Regeln. Ich antworte dann immer, dass mitfühlende Tendenzen, die wir ja alle in uns tragen, gefördert werden, wenn wir unser Erleben mit anderen Menschen teilen. Wir selbst erfahren dadurch eine Stärkung, und anderen wird der Mut gegeben, sich auf ihre empathischen Wahrnehmungen von Leid und Schmerz zu verlassen.
Andererseits müssen wir uns darüber im klaren sein, dass Fragen nach dem »Was tun?« die Fesseln widerspiegeln, die unsere Kultur unserem Denken und Fühlen anlegt. Wir lernen schon früh, nicht selbst zu denken, sondern nach Regeln zu suchen, die uns zu dem führen, was wir zu finden hoffen. Tragisch ist dabei, dass wir uns, ohne ein Bewusstsein davon zu haben, auf vorprogrammierte Denkschemata verlassen, die eigene Denkprozesse verhindern. In unserer Zeit werden wir häufig dazu aufgefordert, kreativ zu sein. Die unausgesprochene Vorschrift, die wir verinnerlicht haben, weist uns jedoch an, dem Eigenen und Originären, das aus uns selbst spricht, nicht zu trauen. So bleibt uns das Eigene fremd.
Wir brauchen deshalb den Dialog mit Menschen, die Güte, Aufrichtigkeit und Uneigennützigkeit besitzen und offen dafür sind, das Eigene zu erkennen und zu fördern. Es müssen Menschen sein, deren Werte sich nicht an Macht, Erfolg und Geld orientieren und die deshalb zu einer Geisteshaltung fähig sind, die einen inneren Frieden herbeiführt. Es sind Menschen, die keine Angst vor dem Anderssein haben und frei sind von Anpassungsdrang. Nur so lässt sich zum Eigenen finden, das auf Mitgefühl basiert. Nur so wird man das eigene Selbst entdecken und nicht mehr nach Dogmen suchen, um sich selbst zu definieren. In diesem Zusammenhang sollten wir uns vor Augen halten, dass die Blockierungen, die uns den Weg zum Eigenen versperren, schon in den Strukturen unserer Sprache versteckt sein können. Die Sprache selbst kann einer Selbstentdeckung im Weg stehen, indem sie durch ihre Abstraktionen das emotionale Empfinden verdeckt und verhindert.
Der Ethnologe und Linguist Edward Sapir wies darauf hin, dass es die Funktion der Sprache nicht sei, Erleben zu kommunizieren, sondern zu bestimmen, wie dieses Erleben zu sein habe. Sein Schüler Benjamin Whorf bezeichnete Sprache als ein Gefäß, in dem das Denken zur Form gegossen wird. Was wir Denken nennen, ist folglich nicht Ausdruck eines eigenständigen Denkprozesses, sondern spiegelt diese Gussform wider. Den Fragenden möchte ich also den Rat geben, auf die Fallen zu achten, die unser Denken selbst in sich birgt. Eine Kultur, die auf Macht, Besitz und Herrschaft basiert und Gefühle wie Leid und Schmerz verleugnet, bringt auch eine Sprache hervor, die das Erleben blockiert und den Prozess der Selbstentdeckung durch festgelegtes Denken behindert.
Ortega y Gasset deutet auf etwas Ähnliches hin, wenn er schreibt, die Substanz eines Menschen mache das Gefühl des Risikos – nicht der Sicherheit – aus. Sicherheit, wie wir sie kennen, basiert auf einem Konkurrenzkampf um Macht und Besitz. Damit verbunden ist immer die Überlegenheit des Einen und die Unterlegenheit des Anderen – ein Prinzip, das für fast jeden in unserer Kultur zum ständigen Alptraum wird. Denn wer heute noch Sieger ist, kann schon morgen scheitern und als »Loser« gebrandmarkt sein.
Die Angst, zu versagen, ist ständig präsent. Sie prägt unsere nächtlichen Träume, sie macht uns körperlich und seelisch krank, und sie lässt uns hassen, denn im Wettstreit um Macht und Besitz ist der Andere immer ein gefürchteter Gegner. Sein Erfolg ist unser Misserfolg, so wie unser Erfolg sein Versagen bedeutet. Unsere Kultur lehrt uns, vom Versagen zu träumen, sagte Jules Henry. In uns lauert die permanente Furcht vor Unzulänglichkeit und Verwundbarkeit. Diese Gefühle müssen verneint werden, denn um in unserer Kultur akzeptiert zu werden, muss man sich immer stark und sicher zeigen. Auf diese Weise verwandelt sich – wie Kierkegaard andeutet – unser Wesen in ein Mensch-Sein, das vollkommen im Bann eines Bedürfnisses nach Anerkennung steht. Dieses Bedürfnis jedoch macht uns abhängig von denen, die uns groß und mächtig erscheinen. Das Endresultat ist ein fiktives Selbst, das auf Dominanz und Besitz aufbaut, aber von Unzufriedenheit, Begierde und Hass erfüllt ist.
Dies in uns selbst zu bekämpfen, führt zu eigener Lebendigkeit und zur Verwirklichung unserer Menschlichkeit.
Leicht bearbeiteter Auszug aus: »Ich will eine Welt ohne Kriege«. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags Klett Cotta.
Prof. Dr. Arno Gruen (89) wurde als Sohn jüdischer Eltern in Berlin geboren. 1936 floh die Familie vor dem um sich greifenden Nationalsozialismus und emigrierte über Polen und Dänemark in die USA. In New York studierte Arno Gruen Psychologie, eröffnete 1958 eine psychoanalytische Praxis und promovierte 1961 bei dem österreichisch-amerikanischen Psychologen Theodor Reik. In seiner Arbeit – unter anderem mit Gewaltverbrechern und Mördern im südenglischen psychiatrischen Gefängnis Broadmoor – erkannte Gruen, dass jede Form menschlicher Destruktivität aus der Kindheit herrührt. Er widerlegte somit Freuds Annahme, dass der Hang zur Zerstörung dem Menschen angeboren sei. Vielmehr wurzelt die Gewalt Gruen zufolge in Selbsthass und Selbstbetrug, die entstehen, wenn die eigene Selbständigkeit aufgegeben wird, um die »Liebe« jener zu gewinnen, die Macht über einen ausüben. Diese »Nicht-Identität« ist nach ihm die Wurzel von Gewalt und Unterdrückung, während Empathie und Mitgefühl die Basis menschlichen Zusammenlebens sind. Gruens Forderung, jeder Mensch möge sein eigenes Selbst gestalten und leben, um »nicht als Original geboren zu werden und als Kopie zu sterben«, ist somit höchst politisch. 2001 erhielt er für sein Buch »Der Fremde in uns« den Geschwister-Scholl-Preis.
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