Gemeinschaftlich wohnen in einem Mehrgenerationenhaus.von Christa Olbrich, erschienen in Ausgabe #17/2012
Der Blick von meinem Balkon im zweiten Stock in den Innenhof ist im Sommer eine Sinnenfreude. Die Sträucher und Bäume, vor neun Jahren – kurz nach dem Einzug in das Haus »WohnSinn 1« – gepflanzt, stehen nun in voller Schönheit da. Vom Garten schweift der Blick nach gegenüber, wo die Laubengänge der Nachbarn mit ihren diversen Dekorationen ein idyllisches Bild bieten. Nach links, wo die U‑Form des Ensembles offen ist, schaue ich hinüber zu »WohnSinn 2«, zu den Nachbarn, die fünf Jahre nach uns mit der Planung eines ähnlichen Wohnprojekts begonnen haben. Erste Ideen für ein Leben in einer Gemeinschaft mit Wahlverwandten in meinen späten Lebensjahren hatte ich lange vor meinem 50. Geburtstag. Nachdem ich jahrelang mit zwei heranwachsenden Kindern im Beton eines anonymen Hochhauses gelebt hatte, wünschte ich mir eine natürlichere und auch erschwingliche Wohnsituation im Alter. Im Jahr 1994, da war ich 58, geschah es, dass ich von einer Darmstädter Gruppe erfuhr, die sich mit gemeinschaftlichem, ökologischem Wohnen beschäftigte. Die Intentionen ihres geplanten Projekts schienen für mich genau richtig: ein ökologisches Passivhaus, das keine Heizung benötigen würde, so dass die Wohnkosten niedrig gehalten werden könnten; ebenso Regenwassernutzung, Dachbegrünung, Car-Sharing etc.; und nicht zuletzt die soziale Ausrichtung: Mehrgenerationenhaus, Mischung aus Eigentumswohnungen, öffentlich geförderten Wohnungen und frei vermieteten Wohnungen – Jung und Alt, Reich und Arm würden unter einem Dach leben, außerdem sollten Menschen mit Behinderungen sowie mit Migrationshintergrund zur Hausgemeinschaft gehören. Ein großer Schritt in Richtung gemeinsamer Zukunft war dann die Gründung einer Bau- und Wohngenossenschaft im Frühjahr 1998, der zu Beginn 17 Genossinnen und Genossen angehörten. Da im Ortsteil Kranichstein ein Baugebiet ausgewiesen war, das von der Stadt, die unser Projekt die meiste Zeit wohlwollend begleitete, als gemeinschaftsfördernd und ökologisch konzipiert war, bewarben wir uns um einen Bauplatz. Nun nahmen die gemeinsamen Planungen in der sich stetig vergrößernden Gruppe konkretere Formen an. Dennoch sollten noch weitere fünf Jahre ins Land gehen, bis mit dem Bau des Hauses begonnen werden konnte. Viele Hürden mussten in oft zähen Verhandlungen mit Ämtern und Politikern genommen werden. Von einigen Vorstellungen von ökologischem Bauen und Wohnen mussten wir aufgrund gesetzlicher Bestimmungen Abschied nehmen. Auch das Finanzierungskonzept der knapp 40 geplanten Wohnungen brauchte einige Zeit zur Reife. Langsam erfüllten sich die Vorgaben, die wir uns gesetzt hatten, um eine gute Mischung der Bewohnergruppe zu erreichen. Wir sind jetzt etwa 80 Bewohnerinnen und Bewohner von 5 bis 78 Jahren, zu einem Drittel Singles, einem Drittel Paare und einem Drittel Familien mit Kindern, auch Pflegekindern aus schwierigen Herkunftsfamilien.
Kreative Gemeinschaft Die Stimmung wurde enthusiastisch, je näher wir dem Baubeginn kamen. Motivierend war, dass wir nicht nur die eigene Wohnung mitplanen konnten, sondern auch die Gemeinschaftsräume: einen großen Multifunktionsraum mit Küche und Wintergarten, eine Werkstatt, zwei Gästezimmer und ein Gästeappartement, Kinderraum, Jugendraum, Waschraum, Büro, Dachterrasse sowie den Raum für ein später zu installierendes Pflegebad und eine Sauna. Nachdem der Baubeginn mehrfach verschoben wurde, war es im Herbst 2002 endlich so weit: Unser Haus war im Bau. Bezugsfertig wurden die Wohnungen ab Sommer 2003. Für die Nutzung des Multifunktionsraums waren schon im Vorfeld viele Aktivitäten angedacht worden. Hier sah ich selbst die Möglichkeit, mit meinen diversen Kenntnissen und Interessen mein Älterwerden lebendig zu gestalten. Da ich seit vielen Jahren Nachhilfe in Englisch und Deutsch gegeben hatte, gründete ich einen Englisch-Konversationskreis für meine Schüler und alle Interessierten aus Haus und Nachbarschaft. Dieser Kreis trifft sich nach sieben Jahren immer noch. Ich rief auch einen Kanon-Singkreis ins Leben, der aber leider irgendwann am Zeitmangel der wenigen Teilnehmer scheiterte. Eine Meditationsgruppe traf sich sieben Jahre lang sonntags in meinem Wohnzimmer. Ab und zu hatte ich auch Gelegenheit zum Märchenerzählen und spielte eine Zeitlang im Blockflötenquartett mit. Eine Mitbewohnerin gründete einen Chor. Es wurden Vorträge angeboten und Konzerte sowie Filmabende veranstaltet. Es gibt ein wöchentliches Café und jede zweite Woche Kneipe. Einmal im Monat ist Sonntagsfrühstück und in unregelmäßigen Abständen »Erzählcafé«, bei dem Nachbarn aus ihrem Leben erzählen. Die Liste der Aktivitäten ließe sich fortsetzen. Inzwischen hat auch »WohnSinn 2« ein reichhaltiges Angebot an Veranstaltungen in ihrem Gemeinschaftsraum. Dort findet Yoga-Unterricht statt, eine Gruppe übt Gewaltfreie Kommunikation, es gibt Frauentanz, Trommeln, Literatur- und Spieleabende. Der Fantasie sind bei den »WohnSinnigen« kaum Grenzen gesetzt. Unsere vielfältigen Ideen bei den ersten Planungen haben sich mehr als verwirklicht, und dafür bin ich dankbar.
Selbstverwaltung In den Jahren seit Beginn der Planung und auch seit dem Bezug hat sich manches gewandelt. Da die gesamte Verwaltung ebenso wie alle anfallenden Arbeiten zur Erhaltung des Projekts von der Gemeinschaft übernommen werden, aber nicht alle Menschen gleichermaßen einsatzfähig sind, gab und gibt es vielerlei Problemthemen, die bearbeitet werden wollen. Im monatlichen Plenum wird versucht, bestmögliche Zufriedenheit herzustellen. Vorstand, Aufsichtsrat, Bewohnerrat und viele AGs tragen dann zusammen, was zur Diskussion ansteht und demokratisch gelöst werden möchte. Die »AG Gemeinsinn«, der ich angehöre, bemüht sich zur Zeit, der hier und da entstandenen Gemeinschaftsmüdigkeit beizukommen, indem sie sich in Workshops zu aktuellen Konzepten schlaumacht und versucht, diese umzusetzen. Beispielsweise wurde ein Sonderplenum einberufen, bei dem in Kleingruppen spielerisch die Meinungen der großen und kleinen Bewohner ermittelt wurden, woraus nun Lösungen für Unstimmigkeiten entwickelt werden.
Sicher versorgt, zufrieden und aktiv im Alter Durch mehrere Erkrankungen und vier Krankenhausaufenthalte kam ich im letzten Jahr an die Grenzen meiner Fähigkeit zur Selbstversorgung. Hier war die Nachbarschaft in der Tat überlebensnotwendig, obwohl natürlich auch meine Kinder ihren Beitrag leisteten, indem sie so oft wie möglich bei mir waren. Über einige Wochen bekochten und unterstützten mich damals Nachbarinnen nach besten Möglichkeiten. Für Einkaufsdienste gibt es extra eine Liste von Mitbewohnern, und das klappte fast immer reibungslos. Viele Mitbewohner engagierten sich auch in der Vergangenheit schon für bedürftige Nachbarn, wie wir es von Beginn an vorgesehen hatten. Wenn jemand jedoch längerfristig Pflege benötigt, so kann das die Nachbarschaft nicht leisten. Hier braucht es Unterstützung von außen, auch nach Krankenhausaufenthalten, wenn die Pflegekasse noch nicht greift, und für Bewohner, die sich professionelle Pflege nicht leisten können. Deswegen startete die Gemeinschaft – angeregt vom Bielefelder Modell (siehe Link unten) – vor ein paar Jahren die Initiative »Älter werden in WohnSinn«. Inzwischen hat die Stadt sich für unser Projekt interessiert und es auf das ganze Viertel ausgeweitet. Mit großer Freude erfüllt mich ein Projekt, das nun im zweiten Jahr auf erstaunliche Erfolge blicken kann: die Transition-Initiative Kranichstein. Als im Frühjahr 2011 der erste Vortrag zu den kommunalen Transition-Initiativen, die weltweit entstehen, in unserem Haus gehalten wurde, war ich mit Begeisterung dabei. Inzwischen hat sich die Gruppe vergrößert, und die Teilnehmer kommen aus verschiedenen Teilen Darmstadts und der Region. Das Grünflächenamt stellte der Initiative ein Grundstück zur Verfügung, auf dem seit über einem Jahr nach den Grundsätzen von Permakultur gegärtnert und auch gefeiert wird. Teilnehmer der Initiative gründeten mit einigen meiner Mitbewohner eine Energiegenossenschaft, die Photovoltaik-Anlagen auf Dächer bringen will. Eine weitere Untergruppe organisierte ein Projekt »Solidarische Landwirtschaft« mit zwei teilnehmenden Höfen, wo man gegen Mitarbeit oder Zahlung Gemüse bekommen kann. Ich bin froh, dass ich diese Entwicklung der Transition-Town-Bewegung miterleben darf und, ohne mich groß engagieren zu müssen, einfach bei den Treffen dabei sein und Ideen einbringen kann. Es fühlt sich gut an, mit 76 Jahren inmitten von guten Bekannten und Freundinnen zu leben. Wenn ich mich von meinem Balkon aus umschaue, so blicke ich auf all die Dinge, die in viel Arbeit gemeinschaftlich erschaffen wurden, von Menschen, die ich seit vielen Jahren schätze. Das gibt mir ein Gefühl von Geborgenheit und Sinnhaftigkeit, wofür ich im Alter sehr dankbar bin!
Christa Olbrich (76) hat zwei erwachsene Kinder und ein Enkelkind. Sie war unter anderem als MTA, Gesundheitsberaterin, Fremdsprachensekretärin und Musikpädagogin tätig. Sie erzählt Märchen, gibt Nachhilfe-Unterricht und Astro-Gesundheitsberatungen (www.clematis-net.de).