Titelthema

Zwischen Berg und Bahn

Im Postwachstumshaus »Can Decreix« geht es nicht nur darum, den individuellen Fußabdruck zu verkleinern, sondern auch die Art des Gehens zu verändern.von Corinna Burkhart, erschienen in Ausgabe #18/2013
Photo

 Can Decreix wurde gegründet, um ein Wirtschaften jenseits des Wachstumszwangs zu leben und zu reflektieren – ein Leben ohne Ausbeutung von Mensch und Natur. »Decreix« ist das katalanische Wort für Postwachstum, englisch »Degrowth«, französisch »Dé­croissance«. »Can« werden in Katalonien Häuser genannt. Das Haus liegt in Cerbère, einem Ort an der Grenze zu Spanien, wo die Pyrenäen ins Mittelmeer stürzen. Aber der Blick von Can Decreix geht nicht aufs offene Meer hinaus, sondern auf einen überdimensionierten Bahnhof. Die guten Zugverbindungen machen ein Leben ohne Automobil dort einfacher, vor allem aber stellt der Anblick dieses Bahnhofs, ein Resultat unserer Wachstumsgesellschaft, täglich den Bezug zur Realität her. Ständig rollen dort unten Autos, Chemikalien und Container voller Bausteine der Konsumgesellschaft zwischen Frankreich und Spanien hin und her.
Mitglieder der spanisch-französischen Organisation »Research & Degrowth« haben Can Decreix im Januar 2012 gegründet. Im Sommer wurde mit Hilfe vieler internationaler Freiwilliger ein Teil des Hauses zurückgebaut, um die zuvor versiegelten Wände atmen zu lassen und damit ein gutes Raumklima zu schaffen. Die Helferinnen und Helfer haben den alten Putz entfernt und zerstampft, um den enthaltenen Sand im neuen Lehmputz wiederzuverwenden. Lehm und Stroh dafür wurden in der direkten Umgebung gesammelt. Wenig neues Material verwenden, wenig Abfall produzieren und wenig nicht-erneuerbare Energie nutzen – das sind Grundsätze für die Arbeit in Can Decreix. Das Wort »wenig« verdeutlicht, dass das Projekt noch am Anfang des Wegs steht, aus dem »Wenig« ein »Kein« zu machen. Es ist nicht einfach, dieses Ziel in einer Wachstumsgesellschaft umzusetzen. Wie lässt sich ohne fossile Energien auskommen, wenn Produkte, Werkzeuge und Materialien, die man nutzt, industriell hergestellt oder transportiert werden? Solche Zusammenhänge verdeutlichen, wie wichtig es ist, das Engagement nicht beim eigenen Projekt enden zu lassen, sondern die Veränderung gesellschaftlicher Strukturen als Ziel zu behalten. Can Decreix möchte bewusst über Grenzen hinausgehen, nicht nur ein kleines Paradies sein. Hier sollen sowohl die Grenzen des Planeten Erde und seiner Ressourcen akzeptiert als auch die strukturellen Grenzen in der Gesellschaft und in unseren Köpfen gezeigt, hinterfragt und geöffnet werden.

Blick über den Tellerrand
Fünf Menschen leben hier dauerhaft, aber sie sind nur selten unter sich, denn Can Decreix ist ein Ort für Treffen wie das der internationalen Initiative »Beyond our Backyards«, das im Herbst 2012 stattfand. Ihr Motto »Jenseits unserer Hinterhöfe« verdeutlicht, dass diesem agrarökologischen Netzwerk an einer Wirksamkeit über das Regionale hinaus gelegen ist, um der politischen Bedeutung von Themen wie Ernährungssouveränität, Permakultur und solidarische Landwirtschaft Gewicht zu verleihen. Beyond our Backyards bringt Menschen aus der landwirtschaftlichen Praxis, aus Gemeinschaften, Universitäten und politischen Bewegungen zusammen. Als Station der Ecotopia Biketour (siehe Seite 58) war Can Decreix Herberge für die Fahrrad-Aktivisten auf dem Weg nach Venedig. Das Haus ist ein offener Ort für Gäste, die mit Arbeits-, Material- oder Wissensspenden zum Projekt beitragen und damit auch zur Entmonetarisierung von Beziehungen. Viele Menschen kommen für eine oder mehrere Wochen hierher. Bald wird es auch offizielle Besuchertage geben.
Als Can-Decreix-Bewohnerin für ein halbes Jahr bin ich immer wieder verblüfft, wie selbstverständlich es sich neben der Norm leben lässt – darüber, dass das sogenannte Notwendige nicht unbedingt notwendig ist. Aus diesem Gefühl heraus entstand im Haus ein Museum für nicht mehr benötigte und fragwürdige Gegenstände, wie ein WC, einen elektrischen Kühlschrank, ein Autokennzeichen, eine Plastiktüte, ein Schild »Privatgrundstück« oder eine Fernsehantenne. Das »Normale« erscheint in solcher Umgebung bald absurd. Nach getaner Gartenarbeit sitzen wir in Can Decreix beim Mittagstisch mit lokalem Gemüse, diskutieren über Degrowth und heben den Blick über den Tellerrand: Unter uns das emsige Treiben des absurden, gigantischen Bahnhofs.

www.degrowth.org/can-decreix
www.agroecol.eu/de/candecreix1

weitere Artikel aus Ausgabe #18

Photo
Globale Perspektivenvon Caroline Claudius

Frag doch deine Mutter!

Das gute Leben bei 0,8 Tonnen CO2-Äquivalenten: Mit radikalen Perspektivwechseln raus aus der Ressourcenübernutzung.

Photo
von Elena Rupp

Milch (Buchbesprechung)

Nur, wo neues Leben entsteht, fließt Milch. Als Nahrung für menschliche Säuglinge, Kälber oder Lämmer ist sie Ausdruck von Fruchtbarkeit und dem Fluss des Lebens – und der Frage nach dem Überleben der Schwächsten. Doch diese Zusammenhänge geraten allzu

Photo
von Grit Fröhlich

Der Urzeit-Code (Buchbesprechung)

Die Vielfalt der Arten auf unserem Planeten schrumpft. Auch die Landwirtschaft reduziert den Anbau zunehmend auf eine Handvoll »Cash Crops«, die von Agrokonzernen so gezüchtet werden, dass sie bei intensivem Einsatz von Chemie hohe Erträge erzielen. Ist es möglich,

Ausgabe #18
Nützlich sein, statt übernutzen!

Cover OYA-Ausgabe 18
Neuigkeiten aus der Redaktion