Die Sinn-Stiftung initiiert und vernetzt Orte, an denen Menschen jedes Alters ihre Potenziale entdecken und entfalten können. Einer dieser »LebensLernOrte« ist der Aktiv-Hof Schlehdorf bei Kochel am See.von Sylvia Buttler, erschienen in Ausgabe #19/2013
Das Ortsbild von Schlehdorf, einer kleinen Gemeinde im bayerischen Oberland, wird vom altehrwürdigen Kloster der Missions-Dominikanerinnen geprägt. Die Klosteranlage umfasst neben der Kirche und dem Wohnhaus der Schwestern etliche Nebengebäude, darunter einen großen Bauernhof und 60 Hektar Grünland. Heute beherbergt der Hof wieder Schafe, Schweine, Gänse, Hühner, Laufenten, und auf der Weide tummeln sich Islandpferde, Kühe und Esel. »Die Schwestern haben den Hof früher selbst bewirtschaftet, hatten Milchkühe und einen Garten zur Selbstversorgung, aber schon vor Jahren mussten sie das aus Altersgründen zu großen Teilen aufgeben«, berichtet Annette Loy, eine der Aktiven auf dem Hof. Nach einer Übergangszeit, in der die Flächen an einen Bauern verpachtet waren, suchten die Schwestern nach einem neuen Konzept. In Kooperation mit der Sinn-Stiftung entstand der Plan, einen »LebensLernOrt« nach dem Konzept der »Aktiv-Höfe« entstehen zu lassen. Aktiv-Höfe bringen sich im Netzwerk der Sinn-Stiftung als Erfahrungsorte für naturverbundenes, nachhaltiges Lernen durch aktive Beteiligung an realen Arbeitsprozessen ein.
Unterschiedliche Lebensarten, gleiche Werte »Freilich gab es zunächst Zweifel, nicht nur bei den Schwestern, sondern auch bei den Dorfbewohnern«, erinnert sich Christian Rauschenfels, Gründer der Sinn-Stiftung. »Ich weiß noch, wie eine der Klosterschwestern nach der Vorstellung des Konzepts des ›Aktiv-Hofs‹ meinte: ›Das liest sich aber nicht sehr katholisch!‹« Auch der Gemeinderat der 1200 Einwohner zählenden Kommune war skeptisch. Keiner konnte einschätzen, was die Pläne für die Einwohner von Schlehdorf bedeuten und was für Menschen der Hof anziehen würde. Aber zwischen den Schwestern und dem Gründungsteam des Aktiv-Hofs entwickelte sich ein intensiver Austausch, in dem deutlich wurde, dass sie viele Wertvorstellungen teilten. Unabhängig von Konfessionen und ihren verschiedenen Lebensweisen wollen die Beteiligten wertschätzend und achtsam mit der Erde und allen Lebewesen umgehen. Die Klosterschwestern hatten schon vor 20 Jahren ihre Landwirtschaft auf ökologische Arbeitsweise ausgerichtet und ein Naturschutzbiotop angelegt, so dass der Gedanke, auf dem Hof Naturverbundenheit an junge Menschen zu vermitteln, ihren Idealen entsprach. Auch die anfänglichen Zweifel der Einwohnerschaft konnten in den letzen Jahren größtenteils ausgeräumt werden. Heute, drei Jahre nach den ersten Gesprächen, ist der Aktiv-Hof ins Dorfleben integriert. Im Dezember hatte er einen eigenen Stand auf dem Schlehdorfer Weihnachtsmarkt, wo hofeigene Produkte wie Räucherwerk und Öle verkauft wurden. Zu Fasching fand dieses Jahr die traditionelle »Bettelhochzeit« mit gut 1000 Besuchern auf dem Hof statt. Auch der Austausch mit den Schwestern hat sich weiterentwickelt. Schwester Donata, die seit 64 Jahren den Garten gepflegt und Gemüse angebaut hat, ist noch heute für einen Teil des Gartenbaus verantwortlich und gibt viele hilfreiche Tipps an die jungen Leute weiter. »Wenn sie von ihrem Gemüse erzählt, spricht sie eigentlich von der Welt. Es steckt enorm viel Lebensweisheit in ihren Geschichten«, sagt Christian Rauschenfels. »Sie weiß, dass der Grashalm nicht schneller wächst, wenn man daran zieht. Und dass das auch auf Kinder zutrifft.« Es lohnt sich also, den alten Schwestern – deren Durchschnittsalter 75 Jahre ist – genau zuzuhören. Von Grund auf renoviert, präsentiert sich der direkt am See gelegene »Sommerstall«. Wie bei einer Alm zogen früher einige Schwestern mit dem Vieh den Sommer über auf die weitläufigen Weideflächen am Karpfsee. Heute ist dort ein Teil des Aktiv-Hofs, unter anderem der Islandpferdehof »Blauer Reiter« (in Anlehnung an das nahe Franz-Marc-Museum) untergebracht, wo Alma Drumbl und Bernhard Vogelgsang heilpädagogisches Reiten, Ausritte und Ferienlager mit ihren freundlichen Isländern anbieten. Pferdebegeisterte Mädchen aus dem Dorf lieben es, bei der Pflege der Tiere mitzuhelfen. Demnächst sollen die Bereiche therapeutisches Reiten und Coaching mit Pferden ausgebaut werden. Die liebevoll renovierten Aufenthaltsräume und Stallungen vermitteln sofort, dass dieser Hof mehr ist als ein normaler Reiterhof. »Hier kann jeder mitmachen und seine Ideen einbringen«, meint Adelheid Tlach-Eickhoff, Pädagogin und eine der Gründerinnen, über das Projekt. »Dorfbewohner kommen zu uns, die bei den anfallenden Arbeiten mithelfen, und Arbeit gibt es reichlich«, lacht sie. »Der Hof zieht auch Menschen an, die dort ein Handwerk oder ein sonstiges Projekt realisieren wollen. Wer der Genossenschaft beitritt, ist herzlich eingeladen, seine eigenen Ideen zu verwirklichen.« Platz gibt es jedenfalls genug; etliche Gebäude warten noch darauf, aus ihrem Dornröschenschlaf erweckt zu werden. Eine Herberge, unterschiedliche Werkstätten und ein Café werden Schritt für Schritt zusammen mit Jugendlichen ausgebaut. Überall wird gewerkelt und gebaut, es finden regelmäßig »Working-Partys« statt. Herzstück des Hofs ist die nach Naturland-Kriterien biozertifizierte Landwirtschaft, die auf die Erhaltung bedrohter Nutztierrassen setzt. Neben Murnau-Werdenfelser Rindern, der traditionellen Rasse der Region, werden Bergschafe gezüchtet.
Schulalltag selbst gestalten Sehr lebendig wird es, wenn Schulklassen den Aktiv-Hof bevölkern, der sich unter anderem als »Schule auf dem Land« versteht. Regelmäßig kommen zwei Gruppen der 7. und 8. Klasse einer Münchener Montessorischule mit ihrem Lehrer hierher. Für die Schüler bedeutet das zehn Wochen im Jahr Lernen und Leben auf dem Aktiv-Hof statt Unterricht im Klassenraum. In Kleingruppen und unter Anleitung eines Erwachsenen arbeiten sie in Schreinerei, Stall, Gemüsegarten und Küche. Die Gruppe »Schöner Wohnen« gestaltet derzeit die Herberge, wobei sich die Ideen der Jugendlichen leider des öfteren den gesetzlichen Bau- und Brandschutzvorschriften unterordnen müssen. Die Kommoden und Regale, die die Flure wohnlicher machen sollten, wurden wieder weggeräumt. Aber dennoch lassen sich die Jugendlichen nicht entmutigen, aus dem alten Zweckbau ein gemütliches Gästehaus zu machen.
»Wir wünschen uns, dass eine Gruppe Kinder für längere Zeit auf dem Hof leben kann und ihnen diese Zeit als Schulzeit angerechnet wird«, meint Adelheid Tlach-Eickhoff. »So viele Kinder fallen aus dem Rahmen Schule und erhalten keinen für sie stimmigen Lernraum. Mit Medikamenten, Druck, Therapie und Umschulung kommen sie vom ›Regen in die Traufe‹, nicht selten folgt noch ein Aufenthalt in der Psychiatrie. Dabei bewirken günstige Rahmenbedingungen oft Wunder – Kinder blühen auf einem Bauernhof auf! Eine Gruppe von Kindern könnte als Pilotprojekt ihre schulpflichtige Zeit komplett auf dem Hof verbringen,« wünscht sich die ehemalige Schulleiterin und Pädagogin in Jugendhilfeprojekten. Langfristig wäre es ihr größter Wunsch, dass durch die positiven Erfahrungen mit der »Schule auf dem Land« auch Veränderungen im Schulalltag ermöglicht werden. Weg von der Theorie, hin zu praktisch erlebbaren und begreifbaren Lerninhalten. Gerade eine Schule müsste doch ein wahrer Lebenslernort sein! Auf dem Aktiv-Hof Schlehdorf geht es auch den Erwachsenen darum, stetig weiter zu lernen, voneinander und von den Jugendlichen. Hier wird nicht vorgemacht, sondern mitgemacht und gemeinsam gestaltet. Morgens treffen sich zunächst die Erwachsenen zu einer kurzen Morgenrunde, später kommen Schülerinnen und Schüler dazu. Nach einer Rückschau auf den vergangenen Tag wecken alle mit einem Aufwärmspiel ihre Lebensgeister. Dann teilen sich die Gruppen nach ihren Interessen und Aufgaben auf. Die einen kochen, andere machen sich auf den Weg zum Schafstall. Dort füttern sie die Tiere, misten den Stall aus und reparieren eine Abtrennung. »Die meisten Schüler fühlen sich hier sehr wohl«, erklärt Saro Ratter, der Landwirt. »Natürlich fragen manche, wo sie denn hier shoppen können. Wir hatten schon Jugendliche hier, die zwar alles mitgemacht haben, aber deutlich sagten, dass sie die Stadt und den Trubel dort vermissen. Das ist auch in Ordnung, nicht jeder mag das Landleben.« Besonders Jungen in der Pubertät tut es gut, sich auf dem Hof nicht dem Schulleben unterordnen zu müssen. Ihr Lehrer meint: »Im Klassenzimmer müssen gerade die Jungs täglich um ihren Platz in der Gruppe kämpfen. Man sieht ihnen regelrecht an, wie anstrengend das ist. Hier auf dem Hof ist das nicht so ausgeprägt, so sind sie nicht so angespannt.« Nicht alle Schüler trauen sich zu, während ihrer Woche auf dem Aktiv-Hof zu übernachten. Irgendwann entscheiden sie sich aber meist doch dazu, und sei es wegen einer Party, die sie nicht verpassen wollen. Zum Wohnen hat das Team eine Etage der Herberge renoviert. Überall sind hier Arbeiten der Schüler zu sehen, Gedichte und Gebasteltes verschönern die Gemeinschaftsräume. Dort wird auch gekocht, gegessen und gefeiert, zum Beispiel ein spontanes Faschingsfest, das die Schüler sich gewünscht haben. Natürlich werden alle Hofbewohner eingeladen. Nach dem ersten Halbjahr in der 8. Klasse ist trotz allem Schluss mit dem Projekt; jetzt konzentriert sich alles auf die Abschlussarbeit und den »Quali« in der 9. Klasse. »Es ist schon intensiver und anstrengender, mit den Schülern eine Woche in Schlehdorf zu sein«, meint der Lehrer. »Ich kann eben abends auch nicht nach Hause fahren, sondern bin weiter mit ihnen zusammen, auch mit ihren Problemen und Sorgen. Aber ich mache mit, weil ich sehe, wie das die Jugendlichen bereichert.« Das Konzept, nach dem sich Schulen Partner-Orte suchen, in denen Gemeinschaft, Naturverbundenheit und selbstbestimmtes Lernen erfahrbar werden, versucht die Sinn-Stiftung über Gespräche mit Kommunen, Höfen und Schulen weiter zu verbreiten. Dass der Aktiv-Hof nicht im Vakuum existiert, merken Besucher auch beim Thema »Mädchenrealschule« sofort. Die ebenfalls auf dem Klostergelände beheimatete Schule St. Immaculata sollte nach 58 Jahren geschlossen werden, so hatte es die Erzdiözese München und Freising beschlossen. Die Schülerinnen und ihre Eltern wehrten sich vehement und erhielten Unterstützung aus der Gemeinde und vom Aktiv-Hof. Der Förderverein hatte in einem offenen Brief an Kardinal Marx um Aufschub gebeten, die Schülerinnen und die Dorfbewohner organisierten Mahnwachen und Konzerte. 18 000 Unterschriften wurden gesammelt – und zeigten Wirkung. Der Mut der Schwestern, sich öffentlich von der Erzdiözese zu distanzieren und sich eine eigene Meinung zu bilden, macht vielleicht den Kern dessen aus, was sie mit den Akteuren des Aktiv-Hofs Schlehdorf verbindet.
Schöne Aussichten Die Pläne für die Zukunft des Aktiv-Hofs sind vielfältig: Die Genossenschaft ReWiG Schlehdorf bildet eine geeignete Organisationsform für die Ansiedelung vieler kleiner Unternehmungen. Denkbar ist für die Mitglieder der Bau einer Käserei oder der Betrieb eines Hofladens mit Café. So ziehen nach und nach Interessierte auf das Gelände oder ins Dorf, um hier ihre Ideen zu verwirklichen. Ein Dauergast denkt darüber nach, wie er und seine Esel in dem Projekt aktiv werden können: Eselwanderungen um den See wären eine Idee. Eine Ölmühle wurde angeschafft und wartet schon auf die Renovierung eines geeigneten Raums, um die Produktion aufzunehmen. In Zukunft sollen auch Kunst und Kunsthandwerk ihren Platz finden. Ach ja, und dann leben ab August auch wieder junge Menschen von »project peace« (siehe Kasten links) auf dem Hof … Wird Schlehdorf in Zukunft ein klassischer Seminarbetrieb? Nein, das ist gerade nicht das Ziel, erklären die Akteure vor Ort. Hier wird vielmehr damit experimentiert, wie Bildung ein unmittelbarer Bestandteil des Alltäglichen werden kann, wie Menschen aller Altersstufen auf Augenhöhe miteinander ein gutes Leben gestalten und dabei lernen: sei es als Mitwirkende für eine Woche, ein Jahr oder ein ganzes Leben – wie Schwester Donata in ihrem Garten. •
Sylvia Buttler (43), Landwirtin, Autorin und Naturpädagogin, züchtet auf ihrem Bauernhof im Bayerischen Wald bedrohte Haustierrassen. www.am-schimmelbach.de