Titelthema

Wir machen’s zusammen!

Was bedeutet kollaborative Demokratie? Ein kleines Dorf macht es vor.
von den Oberndorfern, erschienen in Ausgabe #22/2013
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Wir leben in einer Zeit, in der weltweit Bewegungen geboren werden, die um Teilhabe und gesellschaftliche Mitgestaltung ringen. Der Zufall bringt mancherorts genügend Menschen zusammen, die mit einer Idee vom Miteinander, von Wandel und Zukunft schwanger gehen. Die Lust an schöpferischer Veränderung ist eine der wichtigsten menschlichen Antriebskräfte. Sie mündet manchmal in einen rauschartigen Zustand, der aber in der Regel nicht von langer Dauer ist. Oft endet er in der schmerzhaft-tristen Erkenntnis immer wieder neuer Grenzen.

Da gibt es den unbequemen Alten, der ständig seine Bedenken anbringt, obwohl man sich doch schon längst einig zu sein schien. Da wirft sich ein anderer wie ein Kamikazeflieger für seine Idee in die Bresche, koste es was es wolle, und versteht nicht, wieso sich andere überfahren fühlen. Da führt ein Missverständnis, ein falsches Wort, eine unbedachte Mail zu endlosen Diskussionen und Zerwürfnissen, obwohl doch alle nur das Beste wollen. Was aber ist das Beste – etwa für ein Dorf, für seine Bewohner, für die Zukunft?
Das wollten wir herausfinden, als sich im Jahr 2010 eine Gruppe von rund 30 Leuten zusammenfand, um den Dorferneuerungsprozess in Oberndorf anzustoßen. Unser Bürgermeister hatte das Institut für partizipatives Gestalten (IPG) ausgewählt – vermutlich ohne recht zu wissen, auf was wir uns da einlassen würden.

Die Dorfwerkstatt
Am Anfang stand eine Bestandsaufnahme: Was haben wir? Ein Dorf in Niedersachsen, wunderschön an der Oste gelegen, mit rund 1500 Einwohnern und einer bisher noch recht guten Infrastruktur mit Schule, Kindergarten, Arzt, Zahnarzt, Dorfladen, Bäcker, Asia-Shop, Bankfiliale, zahlreichen Vereinen – und leerer Haushaltskasse. Wie sieht unser Ortskern aus, wie die Bevölkerungsstruktur, was läuft in den Gewerben und in der Landwirtschaft? Wie steht es um die Verbindungen der einzelnen Aktiven untereinander, zwischen Politik und Bevölkerung? Was wollen wir? Alles wurde unter die Lupe genommen, jeder Stein wurde umgewendet.
Das IPG bemerkte bald, dass Oberndorf ein besonderer Ort ist. Sogar von Seiten der Ämter kommt Unterstützung für unkonventionelles Vorgehen. Die gemeinsame Arbeit ließ typische Kommunikations­formen der Dorferneuerung, wie Abstim­mungen, Podien mit Honoratioren, Frontalveranstaltungen oder klassische Arbeitskreis- und Gremienarbeit beiseite. Stattdessen planten alle gemeinsam in der »Dorfwerkstatt«. Eine längere Phase, in der Ideen gesammelt wurden, endete im Sommer 2011 mit einer zweitägigen Dorfwerkstatt. Danach ging es erst richtig los.
Immer wieder war deutlich geworden: Viele kreative Vorschläge scheitern am gleichen Problem: Das Startkapital fehlt! So kam es zur Gründung einer Genossenschaft mit dem Ziel, über solide Projekte Geld zu verdienen und einen Teil der Überschüsse für die Dorfentwicklung zu verwenden. Wir entschieden uns Ende 2011, in Photovoltaik auf gemeindeeigenen Dächern zu investieren. Unsere Vision ist, perspektivisch so viel Energie zu erzeugen, wie der Ort verbraucht. Unsere Gründungsversammlung im folgenden Januar wollte mit Anteilen im Einzelwert von 100 Euro das erforderliche Eigenkapital von 15 000 Euro für eine erste Anlage einwerben. Dabei erlebten wir eine Überraschung: Die Versammlung hatte solchen Zulauf, dass wir erst verspätet beginnen konnten, und am Ende des Abends standen 70 000 Euro für Investitionen zur Verfügung. Ein toller Vertrauensvorschuss!
In weniger als acht Wochen konnten wir drei Gemeindedächer anmieten und drei PV-Anlagen bei unseren lokalen Handwerksbetrieben einkaufen. Ende Februar und Anfang März 2012 nahmen wir sie feierlich in Betrieb. Das erste Jahr erwirtschaftete die Genossenschaft eine Dividende in Höhe von 2,5 Prozent und konnte eine Spende an unsere privat finanzierte Grundschule in Höhe von 2000 Euro ausreichen.

Regeln oder Leitfäden?
Solche Erfolge schüren das Feuer im Pio­niergeist. Damit es nicht erlischt, bedarf es gewisser Strukturen. Unsere Regeln sind sehr einfach:
1. Augenhöhe: Im Umgang miteinander gibt es keine Hierarchien; allen Personen gelten Achtung und Respekt im selben Maß.
2. Transparenz: Alles, was im Dorf geschieht und von öffentlichem Belang ist, muss vorher kundgetan werden.
3. Selbstermächtigung: Wenn ich will, dass sich etwas ändert, muss ich mich selbst dafür einsetzen, anstatt auf andere, vermeintlich Verantwortliche zu warten.
4. Reflexion: Rückbesinnung auf gemeinsame Ziele, gemeinsames kritisches Hinterfragen sowohl kommender als auch bereits stattgefundener Aktionen.
Manche Oberndorfer Projekte wirken anfangs ganz klein. Eine der ersten Ideen war die Anpflanzung einer Streuobstwiese mit alten Obstsorten, wo gemeinsam gearbeitet, gelernt und gefeiert werden kann. Inzwischen haben die ersten Bäume bereits zum zweiten Mal geblüht und zum Teil schon kleine Früchte getragen. An alten Sorten wachsen dort unter anderen Hadelner Sommerprinz, Weißer Winterglockenapfel, Finkenwerder Herbstprinz, Rotfranch, James Grieve. Es gibt auch eine Schattenmorelle, eine Emma-Leppermann-Pflaume, eine Typ-Gokels-Mirabelle und Johannisbeeren. Durch das monatliche Dorfforum entwickelt sich das Projekt stetig weiter und veranschaulicht damit, dass eine zuerst unscheinbare Idee eine ungeahnte Eigendynamik entwickeln kann.
Inzwischen treffen sich an einem festen Tag in jedem Monat alle an der Dorfentwicklung Interessierten zum »Forum«. Hier können größere Projekte angestoßen werden, wie die erfolgreiche Rettung der Dorfgaststätte. Wenn eine Idee keine Mitstreiter findet, ist sie vermutlich noch nicht reif. Machmal differieren die Ansichten zu bestimmten Problemen auch so sehr, dass einzelne Projekte zu zerbrechen drohen. In einer eigenen Dorfwerkstatt zum Thema »Kommunikation« haben wir Anfang des Jahres Vorschläge für eine Erweiterung unserer Regeln entworfen. Sie sollen Konfliktsituationen vorbeugen. Offenbar fällt es leichter, über Leitlinien zu diskutieren als über Regeln. Also gaben wir dem Kind einen anderen Namen. In unseren Leitlinien ist zum Beispiel festgehalten, dass es immer zu Beginn eine Rederunde gibt, damit jeder gehört wird. Sie stellen auch klar, dass das Forum ein Ort des freien Meinungsaustauschs ist, kein Abstimmungsgremium. Die Vertretung des Forums nach außen übernehmen Sprecherinnen und Sprecher, die zum jeweiligen Anlass bestimmt werden.

Zusammen feiern
Ganz gewiss gehört auch das Ringen um Umgangsformen zum gemeinsamen Lernprozess, der eben nicht vorweggenommen werden kann. Es ist das alte Paradox, dass Offenheit Verlässlichkeit braucht, und die wiederum braucht Regeln. Es kommt darauf an, wie wir sie formulieren und gemeinsam anwenden. Vor allem aber kommt es darauf an, gemeinsam Spaß zu haben.
Letzten November hat der Förderverein der Kiebitzschule Oberndorf mit vielen freiwilligen Helfern einen Biomeiler zur Wärmeerzeugung neben der Schule errichtet. Der drei Meter hohe Haufen aus Holzschnitzeln hat einen Durchmesser von 6,5 Metern – gut 130 Kubikmeter Häckselgut wurden gebraucht. Da halfen alle Erwachsenen zusammen. Die Kinder konnten auf den Häckselbergen toben, ließen sich die Funktionsweise des Meilers erklären und haben begeistert mitgemacht, wo es möglich war. Mit dem aufgewärmten Wasser wird ein Heizkörper betrieben. Zusätzlich wurde ein sogenanntes Würstchenrohr installiert. In dem drei Meter langen Rohr kann man nun Würstchen erwärmen. Sie werden in einem Bratenschlauch hineingesteckt, und nach drei bis vier Stunden sind sie fertig. Groß und Klein waren fasziniert und haben zusammen gefeiert, ganz nach dem Motto unserer ersten Dorfwerkstatt: Wir Oberndorfer machen’s zusammen!•


Die Oberndorfer schreiben sogar zusammen
Dieser Artikel ist ein Gemeinschaftswerk von Barbara Schubert, Inga Wocker, Oliver Eisen und Hans Heinrich Katt.
Noch mehr über die Oberndorfer Projekte lesen?
www.die-oberndorfer.de

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