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Schulden (Buchbesprechung)

von Veronika Bennholdt-Thomsen, erschienen in Ausgabe #17/2012
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Graebers Thema ist die Schuldenmoral, also der moralische Imperativ hinter den Schulden. Ausgelöst wird sein Forschungsinteresse von der gegenwärtigen Finanzkrise und der unerträglichen Last, die die Kreditschulden den kleinen Leuten überall auf der Welt, sowie den Staatshaushalten ganzer Länder aufbürden. Warum also gilt die Moral, dass Schulden zurückgezahlt werden müssen, zumal noch dazu alle wissen, wie ungerecht die Last verteilt ist? Graeber ist ein inzwischen prominenter Mitstreiter von Occupy Wallstreet, ein Anthropologe und Hochschullehrer und als solcher verfolgt er, wie Schulden in verschiedenen Kulturen, zu unterschiedlichen Zeiten und auf unterschiedlichen Kontinenten gehandhabt werden und zwar seit 5000 Jahren.

Im Folgenden versuche ich einen möglichst prägnanten Einblick in das Werk von über 400 Seiten zu geben. Das ist nicht einfach, denn Graeber geht nicht analytisch vor, nimmt den/die Leser-in nicht an die Hand, keine Metasprache, keine Thesen. So erläutert er an keiner Stelle explizit, wie eigentlich Schuld als moralische Kategorie und Schulden zusammenhängen. Selbst Anthropologin, würde ich von Graeber gerne wissen, inwiefern Schuld als kollektiv geteiltes moralisches Gefühl mit einem monotheistischen Weltbild einhergeht oder eben nicht. Kennen Gesellschaften ohne die Idee einer Schuld gegenüber einem höheren Wesen auch keine Geldschulden, ja, womöglich kein Geld? Was heißt Schuldenmoral, was bedeutet Geld in den verschiedenen Kontexten? Irgendwie steht zu diesen Fragen etwas, nein, sogar Einiges in Graebers Buch, die Leserin kann zu Antworten kommen, aber eben nur irgendwie. Graeber erzählt Geschichte in Form von Geschichten. Welche Erkenntnis sie transportieren sollen, erschließt sich nur mühselig. Womöglich liegt es daran, dass er nicht vorhat, Visionen, Lösungen oder konkrete Vorschläge, wie es anders gehen könnte, zu unterbreiten, was mir durchaus sympathisch ist. Der Büchermarkt ist bereits übervoll von klugen Ideen für eine Alternative, geschrieben von Leuten, die es besser wissen. Dennoch täte eine klarere theoretische Sprache dem Buch gut. Nicht zuletzt um meine Kritik nachvollziehbar zu machen, werde ich im Folgenden zentrale Aspekte möglichst durch Zitate wiedergeben. 

Graebers Leitmotiv: Die „moralische Verwirrung“
„Wirft man einen Blick auf die Geschichte der Schulden, ist der erste Eindruck der von tiefer moralischer Verwirrung. Das erste Indiz dafür ist die Feststellung, dass die Mehrheit der Menschen überall gleichzeitig die Auffassung vertritt, 1. es sei ein moralisches Gebot, geliehenes Geld zurückzuzahlen, und 2. das regelmäßige Verleihen von Geld sei verwerflich (S. 15).“ 

Im antiken Griechenland sind Ehre und Schuld anfangs nicht voneinander zu trennen.  „Die Welt der homerischen Epen wird von heroischen Kriegern bevölkert, …[Sie] strebten nach Ehre, die in Form von Gefolgsleuten und Reichtümern materielle Gestalt annahmen. … in dieser Welt empfand niemand einen Widerspruch zwischen den beiden Begriffen [>>Ehre<< und >>Preis<<]“  (195). Das ändert sich, als die kommerziellen Märkte aufkamen. „Als sich im 5. Jahrhundert endgültig der Vorhang über Griechenland hebt, beobachten wir, dass sich alle mit dem Geld beschäftigen“ (196). Die damals entstandene Verwirrung „gilt auch heute noch: In Griechenland steht das Wort ‚timé‘ für Ehre, die traditionell als der wichtigste Wert in der griechischen Gesellschaft betrachtet wird. Ehre wird in Griechenland häufig als Großzügigkeit verstanden und als vollkommene Gleichgültigkeit gegenüber Kosten und Zahlen. Doch zugleich bedeutet dieses Wort auch ‚Preis‘, wie etwa im Sinn des Preises für ein Pfund Tomaten. … Das Eigenartige der Krise [etymol. Kreuzung, Weggabelung] des Ehrbegriffs besteht darin, dass sie anscheinend nie gelöst wurde. Ist Ehre die Bereitschaft, die Geldschulden, die man angehäuft hat, zu begleichen? Oder bezeichnet sie die Tatsache, dass man Geldschulden für nicht so wichtig hält? Anscheinend bedeutet sie beides zugleich“ (S. 185).

Im Mittelalter, dem „Zeitalter der Transzendenz“ ist die Moral der Schulden der zentrale Diskurs, und die „moralische Verwirrung“ besonders manifest. „Die Kirche lehnte verzinste Darlehen ab, aber sie äußerte sich kaum zu den feudalen Abhängigkeitsbeziehungen, in denen sich der reiche Mann in Wohltätigkeit übte und der arme Bittsteller seine Dankbarkeit auf andere Art zeigte. … Viele Kirchenväter waren der Ansicht, man könne nicht gleichzeitig ein Händler und ein Christ sein. Im frühen Mittelalter war dies keine drängende Frage – vor allem weil ein Großteil des Handels in den Händen von Ausländern lag. Die begrifflichen Schwierigkeiten hingegen wurden nie gelöst: Was bedeutete es, dass man nur >>Ausländern<< [Juden] Geld leihen konnte? War das einfach Zinswucher? Oder war auch der Handel gleichbedeutend mit Krieg?“ (S. 302).

Im gesamten Mittelalter von Osten (Asien) bis Westen (Europa) ist die Frage der Moral der Schulden ein zentrales Thema, wobei die Antworten nicht nur verwirrend vieldeutig ausfielen, sondern auch  kulturell vielfältig. „Unweigerlich verwandelten sich Debatten über Reichtum und Märkte in Streitgespräche über Schulden und Moral, und Streitgespräche über Schulden und Moral entwickelten sich zu Kontroversen über den Platz des Menschen im Universum. Unterschiedliche Lösungen kristallisierten sich heraus: Europa und Indien kehrten zur Hierarchie zurück. Die Gesellschaft wurde in eine Ständeordnung … eingeteilt. Schulden zwischen Angehörigen verschiedener Hierarchieebenen galten als Bedrohung, weil sie eine mögliche Gleichheit implizierten…. In China hingegen wurde das Prinzip der Verschuldung zum herrschenden Prinzip des Universums: karmische Schulden, Milchschulden, Schuldenvereinbarungen zwischen himmlischen Mächten. … In der islamischen Welt hingegen, wo die Theologen der Ansicht waren, Gott schaffe das Universum in jedem Augenblick neu, wurde die Dynamik des Marktes als eine Manifestation des göttlichen Willens betrachtet“(319).

Moralische Verwirrung und moralischer Zwang im Kapitalismus
Unter der Überschrift „Was ist also der Kapitalismus?“ trifft die Leserin auf die moderne Form der moralischen Verwirrung. „Wenn wir den Beginn der Entwicklung im Jahr 1700 ansetzen, stoßen wir in der Entstehungszeit des modernen Kapitalismus auf einen gigantischen Finanzapparat von Kredit und Schulden, der in der Praxis dazu dient, aus fast allen Menschen, die mit ihm in Berührung kommen, mehr und mehr Arbeitskraft herauszupumpen und damit eine endlos anwachsende Menge materieller Güter zu produzieren. Das tut er nicht nur mittels des moralischen Zwangs, sondern vor allem indem er den moralischen Zwang einsetzt, um die Körperschaft zu mobilisieren“ (363-364).
Mit „moralischem Zwang“ ist hier das auch sonst von Graeber als allgemein anthropologisch angesehene Phänomen gemeint, dass Menschen Verbindlichkeiten miteinander  eingehen, seien sie materieller oder immaterieller Art (Spielschulden, Heiratsversprechen, Gelübde) und dass die moralische Verpflichtung sie einzulösen, einerseits zwar der Kitt der Gesellschaft ist, andererseits anhand der Schulden zum Zwang wird. Schuldknechtschaft scheint es überall, zu allen Zeiten und in allen Kulturen in der einen oder anderen Form gegeben zu haben. Zur Entstehungszeit des modernen Kapitalismus sind es die altbekannten Formen von Sklaverei und der Zwangsarbeit, um damit Schulden abzuarbeiten, die mit der Vorherrschaft des Geldsystems, die Gestalt der steuerlichen Tributpflicht einerseits und der Jagd nach Plünderungsgewinnen (auch das Auswirkung des moralischen Zwangs!) anderseits annahmen. Auf dieser Basis der Ausbeutung durch Schuldknechtschaft entstehen Körperschaften, wie die Aktiengesellschaften der Ostindien- und Westindien-Kompanien, die Vorläufer der heutigen globalen Konzerne.

Scheinbar geht es ab nun nur noch um die ökonomische Vernunft, tatsächlich aber durchdringen sich rechnerisches Kalkül und Moral (Ehre, Schuld, Gerechtigkeit, Gleichheit) unentwirrbar. „Männer wie Smith und Bentham waren Idealisten, ja Utopisten. … die letzten Jahrhunderte haben gezeigt, dass utopische Visionen einen gewissen Reiz ausüben können. Das gilt für die Vision von Adam Smith ebenso wie für die Gegenentwürfe. … Viele Annahmen der Ökonomen – darunter die meisten, die ich in diesem Buch kritisiere – wurden von den Führern der historischen Arbeiterbewegung begeistert begrüßt und haben unsere Vorstellungen von den möglichen Alternativen zum Kapitalismus geprägt“ (371, 372, 373). Letzteres eben auch Auswirkung der „moralischen Verwirrung“.

Im letzten Kapitel geht es unter der Überschrift: „1971 – Der Anfang von etwas, das noch nicht bestimmt werden kann“ um die moralische Verwirrung im Heute. Im jenem Jahr kündigt Richard Nixon an, dass der internationale  Goldstandard der Leitwährung Dollar aufgegeben wird, der US-Dollar international also nicht mehr in Gold umgetauscht werden kann. „Die neue Ordnung … [wird] … als Neoliberalismus bezeichnet. Ideologisch bedeutet das, dass nicht nur der Markt, sondern der Kapitalismus an sich … zum Organisationsprinzip für fast das ganze Leben werden. Jeder Mensch muss sich heute als kleine Kapitalgesellschaft betrachten, deren Leben von der Beziehung zwischen Investor und Manager bestimmt wird, zwischen dem mathematisch denkenden Bankier, der kühl seine Ertragschancen berechnet, und dem verschuldeten Krieger,  der jedes persönliche Ehrgefühl verloren hat und zu einer skrupellosen Ertragsmaschine herabgesunken ist. In dieser Welt kann das ‚Begleichen der Schulden‘ gleichbedeutend mit Sittlichkeit werden, und sei es nur, weil so viele Leute ihre Schulden nicht zurückzahlen. So ist es in den Vereinigten Staaten in vielen Geschäftsbeziehungen mittlerweile üblich, … angesichts von Schulden untätig [zu] bleiben … Mit anderen Worten, das Prinzip der Ehre hat auf dem Markt fast jede Gültigkeit verloren. Dies könnte der Grund sein, warum die Schulden eine religiöse Qualität erhalten.  Genau genommen könnte man von einer zweigeteilten Theologie sprechen: einer für die Gläubiger und einer für die Schuldner. … Es ist im Sinn der Bibel, nationalen Wohlstand zu erzeugen, indem man Geld erzeugt und den Reichen gibt. … Wer keine Möglichkeit hat, einfach Geld zu erzeugen, bekommt eine andere theologische Botschaft zu hören. ... Auf dieser Seite ist die Risikobereitschaft keineswegs Ausdruck der göttlichen Gnade. Für die Armen gelten stets andere Regeln. … persönliche Schulden seien letzten Endes auf maßlose Eigensucht zurückzuführen … Um sich zu läutern, muss sich der Sünder auf asketische Selbstverleugnung besinnen. Dabei wird die Tatsache unter den Teppich gekehrt, dass heutzutage jeder verschuldet ist … Man muss sich verschulden, um ein Leben führen zu können, das nicht auf das bloße Überleben beschränkt ist“ (395-398).

Der Mythos vom Tauschhandel
Unter dieser Überschrift des zweiten Kapitels läutet Graeber eine Diskussion ein, die ihn als weiteres, wichtiges Motiv das ganze Buch hindurch immer wieder beschäftigen wird.
„Tatsächlich können wir mit gutem Grund vermuten, der Tausch sei gar kein sonderlich altes Phänomen, sondern habe sich erst in modernen Zeiten verbreitet“ (43). … „Wir fingen nicht mit Tauschhandel an, entdeckten dann das Geld und entwickelten schließlich Kreditsysteme. Was wir heute virtuelles Geld nennen, war zuerst da. Die Münzen kamen viel später, und ihr Gebrauch verbreitete sich sehr unterschiedlich; sie ersetzten Kreditsysteme nie ganz. Der Tauschhandel war offenbar in erster Linie eine Art zufälliges Nebenprodukt der Verwendung von Münzen und Papiergeld: Historisch betrachtet fand Tauschhandel anscheinend immer dann statt, wenn Menschen, die Transaktionen mit Geld gewöhnt waren, aus dem einen oder anderen Grund keinen Zugang zu geldlichen Zahlungsmitteln hatten.“ (47)

Durch sämtliche Kapitel hindurch betont Graeber: erst war der Kredit, dann kam das Geld und dann der Tauschhandel. Warum ist ihm das so wichtig? Weil er damit gegen den überwältigenden Mainstream der etablierten wirtschaftswissenschaftlichen Beiträge antreten kann. Dem Mythos der Ökonom-innen, dass jegliche arbeitsteilige Gesellschaft ohne Tauschhandel gar nicht funktionieren könne, ergo Markt und Geld gesellschaftlich notwendig im Zentrum aller ökonomischen Überlegungen zu stehen haben – womit der sich selbst regulierende freie Markt und die Geldmengentheorie fast schon naturgesetzlich legitimiert scheinen -, diesem Mythos kann der Anthropologe empirisch fundiert entgegentreten. Nicht zuletzt dadurch kann er seine Aussagen als ökonomisch relevant reklamieren, relevanter als das, was die Anhänger des Mythos von sich geben. Occupy Wallstreet lässt schön grüßen!

Welche Bedeutung aber hat Graebers Beleg bezüglich Tauschhandel und Geld heute für die Suche nach einem anderen Weg? Was meint er mit der Aussage “Was wir heute virtuelles Geld nennen, war zuerst da.“? Ich versuche ihm zu folgen: Virtuelles Geld ist Kredit. Kredit ist ein Versprechen, das später eingelöst wird. Diese Sorte von Kredit war zuerst da und ist Bestandteil der menschlichen Verbindungen schlechthin. Darin spielt Geld (denn Münzen und Scheine = Geld? V.B-Th) mitnichten von vornherein eine Rolle. Kredite sind Versprechen, im Gegensatz zum purem rechnerischen Kalkül, das das Geld (in der Hand) mit sich bringt. Fazit: virtuelles Geld ist Kredit und darin liegt eine Chance für unsere Gesellschaft, die Fixierung auf das geldrechnerische Kalkül aufzulösen. Wirklich sicher bin ich mir allerdings nicht, dass Graeber diese Schlussfolgerung auch meint.

Geld und Gewalt
Graeber betont den Unterschied und die geschichtliche Reihenfolge von Kredit, Geld und Tauschhandel ferner deshalb, weil für ihn damit nachweisbar ist, dass Kreditsysteme – manchmal von ihm, selbst für archaische Epochen, „virtuelles Geld“ genannt – im  Vergleich zum geprägten Bargeld weniger Gewalt mit sich bringen. Gewalt ist dabei ganz konkret gemeint, als Sklaverei und Krieg. Graeber glaubt, ein historisches Muster herausgefunden zu haben, dass die mobile Sklaverei, also der Sklavenhandel (denn es gibt bekanntlich Sklaven in vielen Gesellschaftsformen, aber eben auch ohne den Handel mit Sklaven) mit dem Metallgeld einhergeht, bzw. dass die Sklaverei wieder verschwindet, wenn das Münzgeld an Bedeutung verliert, wie etwa nach dem Niedergang des römischen Reiches. „Zudem war der Niedergang der antiken Sklaverei nicht auf Europa begrenzt. Bemerkenswerterweise vollzog sich ungefähr zur selben Zeit – in den Jahren um 600 n. Chr. – fast dieselbe Entwicklung auch in Indien und China, wo im Laufe von Jahrhunderten die mobile Sklaverei im Gefolge von Unruhen und politischen Wirren weitgehend verschwand“ und zwar ebenfalls zusammen mit dem Schwinden des Metallgeldes. (224)

Nun folgt eine der wenigen, wenn nicht sogar die einzige Textstelle, in der der Autor deutlich macht, inwiefern seine Methodologie und sein breiter historischer Ansatz zu einer alternativen Vision beitragen können. „Dies weist darauf hin, dass einmalige historische Augenblicke, in denen bedeutsame Veränderungen möglich werden, einem bestimmten zyklischen Muster folgen, das über große geographische Räume wesentlich enger geknüpft ist, als wir uns vorstellen können. Die Vergangenheit ist durch eine Abfolge gewisser Muster bestimmt, aber erst wenn wir diese Muster erkennen, erahnen wir die historischen Chancen, die unsere Gegenwart bereithält“ (224).  „Während Kreditsysteme in Zeiten relativen Friedens vorherrschend sind oder auch in sozialen Netzen, die aus Vertrauensbeziehungen bestehen, … werden sie in Phasen, die durch langjährige kriegerische Auseinandersetzungen und Plünderungen gekennzeichnet sind, durch Edelmetalle abgelöst.“ Denn „Gold- und Silbermünzen unterscheiden sich durch ein herausragendes Merkmal von Kreditvereinbarungen: Sie können geraubt werden“. Und schließlich bezogen auf Heute und die Lehre aus der Geschichte: „Das Tauschmodell der Ökonomen mag absurd erscheinen, bezieht man es auf Transaktionen zwischen Nachbarn in einer kleinen agrarischen Gemeinschaft, wird aber plötzlich höchst sinnvoll bei Geschäften zwischen dem Bewohner einer solchen Gemeinschaft und einem vorübergehenden Söldner“ (225-226). 

David Graebers Anthropologie
Graebers Ansatz ist im klassischen Sinn „anthropo-logisch“, d.h. es werden Aussagen über die menschliche Spezies und ihre Vergesellschaftung schlechthin gemacht. Geschichte ist aus dieser Perspektive die Veränderung des Menschen als „humanides Wesen oder, was dasselbe meint, als Kulturwesen“  durch die Zeiten und Kontinente hindurch. So sind auch die vollmundigen „5000 Jahre“ zu verstehen. Die Vorgehensweise hat gewisse Vorteile, aber auch sehr viele Nachteile.

Vorteil ist, dass die romantische Glorifizierung früherer Zeiten und/ oder indigener Gesellschaften vermieden, ja decouvriert wird. Genauso wird auch die Kehrseite, dass früher alles primitiv, schlechter und gewalttätiger gewesen sei, vermieden und decouvriert. Vom Evolutionismus bleibt eine grob chronologische Periodisierung der Menschheitsgeschichte der letzten 5000 Jahre, die dankenswerter Weise aber nichts von evolutionärer Höherentwicklung an sich hat. Ferner ist sie strikt nicht-eurozentrisch. Das Mittelalter beginnt bei Graeber 600 n. Chr. und endet 1450, wie wir es gewohnt sind. Aber „Die charakteristischen mittelalterlichen Einrichtungen und Vorstellungen gelangten … spät nach Europa …400 Jahre“ später als sie sich in Indien und China, sowie dem von Graeber anti-eurozentrisch genannten „Nahen Westen“, von Kairo bis Konstantinopel, manifestierten. Entsprechend beginnt er die Untersuchungen zum Mittelalter mit Indien, gefolgt vom „nahen Westen“ und endet mit dem „Fernen Westen“ (Europa) (265 ff).

Dass Graeber zyklisch wiederkehrende Muster in den letzten 5000 Jahren erkennt und herausarbeitet, so eben auch viele Züge unserer Zeit in früheren Epochen, ist hilfreich, denn es löst die Einzigartigkeit unserer Epoche auf. Damit wird auch das Gefühl der Ohnmacht gegenüber den scheinbar einzigartigen Problemen unserer Zeit aufgelöst. 

Die Nachteile: Unklare Begriffe, ja sogar Worte. Bei aller anti-evolutionistischer, anthropologisch strukturalistischer Ahistorizität ist und bleibt Graeber genauso ein Kind unserer Zeit, wie wir Leser-innen auch, und er steht in einer vorgegebenen Begriffstradition, die ich grob als US-amerikanisch umreißen möchte. Es hilft also nichts, Worte mehr oder minder unerklärt zu benutzen. Die Leser-innen, wie der Autor selbst (!), gehen damit zeitlich und örtlich vorverständlich gebunden um. „Geld“, „Tausch“, „Kredit“, „Schuld und Schulden“ gebraucht Graeber durchgängig für jedwede Epoche, sodass die Leserin über lange Seiten hinweg die spezifische Bedeutung in einer gegebenen Zeit und Weltregion herausfiltern muss. Nun gut, dies scheint zu Graebers Erkenntnis- und Vermittlungsmethode zu gehören: Seht her, wir funktionieren im Prinzip genauso wie die Menschen im Altertum oder im Mittelalter. Ja und? fragt die Rezensentin, was soll das uns Heutigen sagen? Kurzum, ich bleibe bei meiner Meinung: wir alle kommen um metatheoretische Erklärungen und explizite Begriffsklärungen nicht herum, erst recht nicht, wenn wir uns jenseits der eingetretenen Pfade des herrschenden Diskurses verständigen wollen.

So aber landen Graebers Aussagen irgendwo in der Beliebigkeit. Wozu die Tatsache, dass die Leserin Abschnitt für Abschnitt um das richtige Verständnis ringen muss, erheblich beiträgt. Ich möchte nicht missverstanden werden: Dass es für Graeber nicht um gut oder schlecht, oder gar böse geht, erfreut meinen selbständigen, kritischen Geist. Dass er jeglichen „wir-wissen-wo-es-langgeht“- Avantgardeanspruch der linken oder marxistischen Theorie beiseitelässt, ebenso wie das Besserwissertum von Entwicklungstheorie und -politik, ist großartig. So aber, wie Graeber vorgeht, müssen die Leser-innen sich durch – zugegebenermaßen viele spannende, wenn auch literarisch nicht besonders brillante - Geschichten lesen, um beim Änderungsvorschlag „Schuldenerlass“ zu landen.

„In diesem Buch habe ich weitgehend vermieden, konkrete Vorschläge zu machen. Aber abschließend möchte ich eine Anregung geben. Ich habe den Eindruck, ein Ablassjahr nach biblischem Vorbild ist überfällig, für Staatsschulden wie für Konsumschulden. Ein genereller Schuldenerlass wäre nicht nur heilsam, weil er menschliches Leid lindern könnte. Er riefe uns auch in Erinnerung, dass Geld nichts Geheimnisvoll –Unvergleichliches ist und dass das Begleichen von Schulden nicht das Wesen der Sittlichkeit ausmacht. All diese Vorstellungen sind menschliche Erfindungen, und in einer richtigen Demokratie hätten alle Menschen die Möglichkeit, ihre Gesellschaft anders zu organisieren.“ (410)

Jenseits von Schuld und Schuldenerlass
Schuldenerlass ist vermutlich die einzige Maßnahme, die das gegenwärtige Weltwirtschaftssystem vor dem völligen Zusammenbruch bewahren kann. Aber wollen wir das? Ja, und nochmals ja! Aber doch nur so, dass es hinterher nicht wieder genauso weitergehen kann wie bisher. Und was soll hier „richtige Demokratie“ heißen, etwa echte Repräsentativität? Aber, die Gesellschaft, wir alle, jede und jeder Einzelne, müssen- es bleibt uns nichts anderes übrig! – lernen, die Welt jenseits von Schulden, Geld und Kredit zu denken. Und zwar jetzt. Und zwar tätig hier und heute.

Vermutlich ist David Graeber derselben Meinung, sonst wäre er nicht bei ‚Occupy Wallstreet‘, oder? Vielleicht aber doch nicht, denn für Graeber sind Schuld(en), Geld und Kredit Bestandteil menschlicher Gesellschaft schlechthin, freilich jeweils kulturell, räumlich, zeitlich, historisch anders ausgebildet. Sollen wir uns also auf den Lern – und Forschungsweg machen, wie Schulden anders gehandhabt und anders gestaltet werden können?

Nein! Der Meinung bin ich nicht! Auch dann nicht, wenn sie einen anderen Sinn bekämen, was vermutlich Graebers Ansatz entspricht. Das ist von meiner Seite kein Streit um Worte oder Begriffsklauberei. Vielmehr bin ich davon überzeugt, dass wir – wir, die Menschen heutzutage rund um den Globus – uns einen neuen zivilisatorischen Ansatz erarbeiten müssen. Einen, der die Menschheit als einen Bestandteil des lebendigen Organismus Erde begreift und darin hat Schuld nichts zu suchen. Von solch einem Ansatz scheint Graeber weit entfernt.

Oder vielleicht doch nicht ganz so weit? Auf einigen Seiten in Kapitel 7 stößt er die Tür in eine andere Erkenntniswelt einen Spalt weit auf. Unter dem Titel „Ehre und Entwürdigung. Oder über die Grundlegung unserer gegenwärtigen Zivilisation“ geht Graeber darauf ein, dass und wie Frauen in der gegenwärtigen, patriarchalen Zivilisation zu Objekten männlicher Ehre werden. Schon für Sumer lässt sich vom zweiten Jahrtausend an nachzeichnen, wie Frauen versächlicht zu einem Ding werden, nämlich zu Tauschobjekten, wie Vieh oder Korn. Sie werden ihrer Würde als Menschen und gesellschaftliche Subjekte beraubt, um die Ehre des Mannes zu vergrößern. Frauen werden zu Sklavinnen oder Ehefrauen, die zur Tilgung männlicher Ehrenschulden gehandelt werden. Die Sklavin als „Ehrpreis“ und der Brautpreis sind nicht weit voneinander entfernt. Auf alle Fälle sind Frauen, die aus ihren sozialen Zusammenhängen herausgerissen zu Objekten werden, der Kern des Geldes. Im frühmittelalterlichen Irland wird dies besonders deutlich, dadurch dass die zentrale Geld- oder Preiseinheit „cumal“ lautet, Sklavenmädchen. Jeder freie Mann hatte seinen „Ehrpreis“, der in „cumal“ ausgedrückt wurde (179-184).

Die unterworfene Stellung der Frau, die mit einer von Gewalt geprägten Wirtschaftsweise einhergeht, sieht Graeber als „ein allgemeines, überall auf der Welt anzutreffendes Muster“ (187).  Aber was heißt das? Wohin führt diese Erkenntnis bei unserer heutigen Suche nach Wegen aus der zerstörerischen Macht der Schulden und aus einer Wirtschaftskultur, die die Menschen zu „Plünderern herabwürdigt“? Eigentlich legt der Autor hier mit seinem Bemühen, die hohe Bedeutung von Schulden und die Moral der Schulden in unserer Zivilisation zu begreifen, entscheidende Grundlagen, für eine Antwort. Denn die Herrschaft und die Kontrolle über die Frau ist in der Tat der Schlüssel um zu verstehen, warum dem Geld- und Warensystem geradezu totalitäre Macht zugeschrieben wird: Geld wird mit Existenz gleichgesetzt. Ohne Geld kann man nicht leben, lautet das Credo. Oder wie Graeber es ausdrückt: „Man muss sich verschulden, um ein Leben führen zu können, das nicht auf das bloße Überleben beschränkt ist“ (398). Eigentlich, nach dem, wie er uns Schulden anthropologisch zu verstehen gibt, müsste Graeber den Zusatz, … ein Leben führen, das nicht auf das bloße Leben beschränkt ist, weglassen. Schließlich fließt für ihn in das heutige Verständnis von Geldschulden jenes, eben nicht nur archaische, patriarchale Verständnis von „das Leben schulden“ mit ein. Zu Recht, deshalb: Man muss sich verschulden, um ein Leben führen zu können. Punkt.

Ohne Schuld!
Herrschaft und Kontrolle über die Frau sind das Wesen des Geldes und finden darin zugleich ihre symbolhaft geronnene Form. Denn Herrschaft über die Frau bedeutet Kontrolle über das Leben auszuüben, indem diejenigen, die das Leben hervorbringen, unterworfen werden. In vielen Beispielen zeigt Graeber, dass durch die patriarchalen Zeiten hindurch Macht über das Leben anderer dadurch ausgeübt wird, dass sie getötet werden können, ihnen aber das Leben „geschenkt“ wird. Nicht die Mutter schenkt das Leben, sondern der Herr, der Kriegsherr, der Herr der Sklav-innen.

Wenn diese patriarchale Grundlegung des Geldes ernst genommen wird, dann lässt sich  auch das Dilemma auflösen, das bereits in Graebers Ansatz enthalten ist, nämlich dass Schuld und Schulden vorgeblich eine anthropologische Konstante sind. Graeber sieht die Verpflichtung der Menschen aufeinander, d.h. die Verbindlichkeit hinsichtlich der gegenseitigen Versprechungen als etwas an, das sie einander schulden, sodass es anthropologisch nicht verwunderlich ist, dass sich daraus die Schulden entwickeln. Oder anders ausgedrückt, Schulden, wie wir sie heutzutage kennen, wurzeln für Graeber in den Verbindlichkeiten, die notwendig sind, damit eine menschliche Gemeinschaft überhaupt als solche funktionieren kann. Nur mit letzterem hat er recht.

Wenn jedoch gesellschaftlich-kulturell gewusst wird, dass das Leben einen Wert aus sich hat und nicht patriarchalisch geglaubt wird, dass der Wert des Lebens darin besteht, dass der Mensch nicht getötet wird, dann gibt es keine Verpflichtung, die einzulösen Menschen einander moralisch schulden würden. Die Kinder werden aus der Mutter geboren, sie schenkt ihnen das Leben, sie schulden es ihr nicht. Unter solchen kulturellen Bedingungen bedarf es keiner Versprechen und keiner moralischen Verpflichtung die Lebensschuld einlösen zu müssen, sondern geben und empfangen sind Teil des Flusses des Lebens, ohne jegliche Verpflichtung. So wie uns das Leben gegeben wurde, so sind die Menschen durch das Kontinuum von geben, empfangen und weitergeben miteinander verbunden. Das sind die Prinzipien einer Ökonomie des Gebens oder ‚gift economy‘ (Genevieve Vaughan). Geben ist der Kitt der Gesellschaft, nicht die moralische Verpflichtung oder Schuld.

Das Wissen, ja, der Wunsch bedingungslos zu geben, ist in unserer heutigen Gesellschaft intuitiv da, mindestens so wie die verpflichtende Moral, Schulden müsse man zurückzahlen. Dieses Wissen gilt es ins Bewusstsein des Mainstreams zu heben. Die Kultur der Gabe ist mitnichten unwiederbringlich verloren. Friedrich Engels’ Umbruch „vom Matriarchat ins Patriarchat“ als „weltgeschichtliche Niederlage des weiblichen Geschlechts“, und zwar ein für allemal vor mehr als 5000 Jahren, ist ein patriarchaler Mythos. Gerade die Anthropologie (oder Ethnologie), Graebers Disziplin, berichtet von Gesellschaften, in denen die Gabe und vor allem das bedingungslose mütterliche Geben die Struktur der Gemeinschaft prägen, und zwar auch in postkolonialer Zeit, sogar noch bis heute. Auch die Kulturen, von deren Geschichte(n) Graeber erzählt, enthalten jene lebens-werten Elemente, die uns viel sagen können für den Aufbruch in eine neue Zivilisation ohne Schuld.

Vielleicht aber handelt Graebers nächstes Buch genau davon. Sein Archiv dafür dürfte groß genug sein und sein aktuelles Buch endet in dieser Hinsicht recht hoffnungsvoll: „Was sind Schulden denn überhaupt? Sie sind nichts weiter als die Perversion eines Versprechens, das von der Mathematik und der Gewalt verfälscht wurde. Wenn wirkliche Freiheit darin besteht, Freundschaften zu schließen, so umfasst sie zwangsläufig auch die Fähigkeit, wirkliche Versprechen abzugeben. Welche Art von Versprechen könnten wirklich freie Menschen einander geben? Heute sind wir nicht einmal in der Lage, diese Frage zu beantworten. Wir müssen erst einmal die Fähigkeit entwickeln, herauszufinden, wie solche Versprechen aussehen könnten. Wir müssen uns nur Folgendes bewusst machen: Niemand hat das Recht, uns zu sagen, was wir wirklich schulden. Niemand hat das Recht, uns zu sagen, was wir wirklich wert sind.“ (410)


Schulden
Die ersten 5000 Jahre.
David Graeber
Klett Cotta 2012, 600 Seiten
ISBN 978-3608947670
26,95 Euro

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