Die Subsistenzperspektive lenkt den Blick auf das, wovon wir alle leben.von Veronika Bennholdt-Thomsen, erschienen in Ausgabe #31/2015
Wir leben in einer Zeit des Umbruchs. Die Stimmen, die von einer Zivilisationskrise sprechen, mehren sich. Damit ist gemeint, dass die Klima- und die Umweltkrise, die Finanz- und Wirtschaftskrise, die Hungerkrise – die in Wirklichkeit eine »Krise« der Nahrungsmittelpreise ist – sowie die Atomkatastrophe alle in einer einzigen Krise zusammenlaufen, nämlich jener der Werte und der Kultur, in der diese Werte eingebettet sind: Der Glaube an rücksichtsloses Wirtschaftswachstum hat sich weltweit verbreitet. Der Massenkonsum ist zum Stützpfeiler des Profitwachstums geworden, das Streben nach Profitwachstum wiederum befeuert den Konsumismus, und zusammen münden sie in der Ausplünderung von Mensch und Natur. Eine Postwachstumszivilisation bedarf eines entscheidenden Erkenntnisschritts: Dass wir die naturwissenschaftliche Vorstellung von Natur nicht länger für die Natur selbst halten, sondern begreifen, dass das Erkennen der Natur im Anerkennen der Leiblichkeit, der Materie, der konkreten, sinnlichen Stofflichkeit ruht, im Anerkennen dessen, was uns gegeben wird, wie uns das Leben gegeben wurde: als Gabe. Seit Jahrzehnten bemühen wir, die wir an der Theorie der Subsistenz arbeiten, uns darum, die unhinterfragten Glaubenssätze zu hinterfragen und Wege zu suchen, wie es im 21. Jahrhundert anders gehen kann, ganz praktisch und pragmatisch. »Subsistenz« ist das, was wir zum Leben brauchen, »damit das Leben weitergeht«, wie es die Bäuerin Gertrud Mies ausdrückte. Lateinisch »subsistere« heißt, »was aus sich selbst heraus Bestand hat«. Damit ist der Prozess angesprochen, der dank der gegebenen Lebenskraft existiert und sich fortsetzt. Die Menschen werden als Teil der Gesamtheit dieses Prozesses begriffen. In unserem Buch »Eine Kuh für Hillary« definierten Maria Mies und ich den Begriff so: »Subsistenzproduktion – oder Lebensproduktion – umfasst alle Arbeit, die bei der Herstellung und Erhaltung des unmittelbaren Lebens verausgabt wird und auch diesen Zweck hat. Damit steht der Begriff der Subsistenzproduktion im Gegensatz zur Waren– und Mehrwertproduktion. Bei der Subsistenzproduktion ist das Ziel ›Leben‹. Bei der Warenproduktion ist das Ziel Geld, das immer mehr Geld ›produziert‹, oder die Akkumulation des Kapitals. Leben fällt gewissermaßen nur als Nebeneffekt an.« Subsistenzorientierung ist nicht Eigennutz – sie ist der Blick für das Notwendige, nicht nur für mich selbst, sondern auch für die anderen. Nachfolgend erläutere ich vier Prinzipien einer Politik der Subsistenzperspektive:
1. Subsistenzpolitik ist eine Politik des Alltags In der Praxis zeigt sich, dass allein schon die Subsistenzorientierung, also die Orientierung auf das, was ich alltäglich zum Leben brauche – Essen, Kleidung, ein Dach über dem Kopf und Menschen, die mir nahestehen –, andere politische Fantasien hervorbringt. Es erscheinen andere Ziele am Horizont als die des Lohngelds und der Versorgung aus dem Supermarkt. Die Bewegung für Urban Gardening macht es vor: »Es ist deine Stadt, grab sie um!«, lautet einer ihrer Slogans. Es ist keine Massenbewegung, sondern es sind Individuen, die ihren Spaten ergreifen und städtische Brachgrundstücke in blühende Gärten verwandeln, mit Gemüse, das sie unmittelbar essen können. Das Beispiel dient als Illustration eines allgemeineren Sachverhalts: Die politische Kraft des 21. Jahrhunderts liegt beim Individuum. Die Vereinzelung der Individuen heute ist Problem und Chance zugleich. Ihr entspricht die historisch neue, für unsere Epoche spezifische gesellschaftliche Machtstruktur. Zunehmend sind nicht mehr Kasten, Stände oder Klassen mit dem Herrschaftsapparat konfrontiert – wohingegen das Individuum, um überleben zu können, immer unmittelbarer vom Geldeinkommen abhängig und damit der Herrschaft der Konzerne und Banken unterworfen ist. Der Staat spielt als vermittelnde Instanz eine immer geringere Rolle. Anstatt zu vermitteln, übernimmt er die Rolle des Garanten für das Funktionieren des maximierungswirtschaftlichen Warensystems unter Nutzung überkommener staatlicher Gewaltinstitutionen. Das Verständnis, das hinter der Alltagspolitik des souverän handelnden Individuums steht, ist nicht das der sozialen Gerechtigkeit, die von oben, von einer übergeordneten Autorität zugeteilt wird, sondern das der horizontalen Egalität: Wir sind alle gleich, weil alle aus einer Mutter geboren wurden.
2. Subsistenzpolitik ist die Politik des Notwendigen Häufig bekomme ich zu hören: »Ihre Beispiele handeln doch nur vom Essen!« Regelmäßig bin ich erstaunt über dieses »Nur«. Nur das Essen? Wie entsteht diese fehlgeleitete Bewertung der Bedeutung des Essens? Die Geringbewertung der Subsistenzproduktion ist ein Stützpfeiler der patriarchalen abendländischen Kultur. In Athen, dieser Wiege der Demokratie und der abendländischen Philosophie, waren die Frauen und Sklaven für das Essen und die sonstigen Subsistenztätigkeiten zuständig, während die großen Männer und freien Bürger politische Reden schwangen. Sich um die Subsistenz kümmern zu müssen, galt als unfrei. Diese Bewertung bestimmt unsere Kultur nach wie vor – und sie ist der Kern des Patriarchats: die Leugnung, dass die Kinder aus den Frauen geboren werden, dass die Fruchtbarkeit von Mutter Erde stammt. Die Wachstumsökonomie ist typisch transzendent, insofern die »Erlösung« für die Zukunft versprochen wird. Wenn heute Banken »gerettet«, Löhne gesenkt, Sozialsysteme demontiert werden, dann wird es sich vorgeblich morgen rentieren und wird es uns übermorgen gutgehen. Wenn Landwirte heute in Schweinemastanlagen investieren, dann werden sie vorgeblich morgen am Markt bestehen können. Dafür müssen sie heute Kredite aufnehmen, Tiere quälen und ihr Land verpfänden. Sättigung, Befriedigung und Wertschätzung ruhen nicht im Gegebenen und seinen lebendigen Prozessen, sondern jenseits davon. Das ist patriarchal. Die Subsistenzpolitik hingegen folgt der Immanenz. Das ist matriarchal. Sinn und Geist liegen in den Dingen, in dieser Welt, in dieser Erde. In diesem Sinn sollte eine Subsistenzpolitik beim Essen anfangen. Wie versorgen wir uns mit Nahrungsmitteln – und wo? Wie sehen die Bedingungen jener aus, die Pflanzen anbauen und Tiere züchten? Wie wird mit Pflanzen und Tieren umgegangen? Wie steht es um das Wasser, das uns alle am Leben erhält? Die Antworten auf diese Fragen münden in der aktiven Politik des lokalen, regionalen Wirtschaftens. Ziel ist, dass die Landschaft, der ich angehöre, weil hier der Boden ist, der mich trägt, die Basis meiner lebensnotwendigen Versorgung bildet. Alles, was ich brauche, wird gewiss nicht aus der Region kommen können. Aber nach diesem Grundsatz zu handeln, trägt von alleine weiter. Das gilt vor allem hinsichtlich des Essens. Es ist der Ausgangspunkt, das Zentrum, von dem her die Kreisläufe des Notwendigen sich immer regionaler und weniger global werden ziehen lassen.
3. Gegen die Abstraktion des Gelds und die Anonymität der Ware Wir Menschen der Gegenwart tun uns schwer, das Konkrete, Stoffliche, Lebensnützliche zu erkennen bzw. zu erfahren, bevor wir nach der Wertabstraktion fragen: Was kostet das? Oder, was bringt das ein? Naturgegebenheiten mutieren unter diesem Blick zu Ressourcen, und die Beziehung zur Natur gibt es nur noch als Freizeit oder Fitness. Wir sehen überall den Geld-Wert, nicht den Ist-Wert, der etwa in der Schmackhaftigkeit der Tomate an ihrem jahreszeitlichen Reifepunkt ruht; in der Frische des Wassers; oder darin, wie entspannt und glücklich Kinder und alte Menschen sind, wenn sie mit viel Zeit, Ruhe und Gelassenheit betreut werden, nach dem Maß ihres Lebensrhythmus. Im Zeitalter des Geldmaßes stehen aber nicht die Fürsorge und das Geben im Mittelpunkt, sondern das Nehmen und Habenwollen. Das Prinzip »do ut des« (lateinisch: »ich gebe, damit du gibst«) ist das patriarchale Prinzip der kriegerischen Aneignung im Schafspelz des Äquivalenttauschs. Wie anders hingegen ist das mütterliche Sorgen für die Subsistenz eines Kinds. Sie gibt ohne die Bedingung der Gegenleistung, schlicht, weil das Kind dessen – lebensnotwendig – bedarf, denn andernfalls könnte es nicht überleben, andernfalls gäbe es keine Gesellschaft. Das mütterliche Geben ist der Ausgangspunkt für eine andere, nicht utilitaristische Wirtschaft und Gesellschaft. Die Subsistenzpolitik wendet sich gegen diesen Beziehungsverlust auf allen Ebenen, indem sie sich gegen die Abstraktion des Gelds und gegen die Anonymität der Ware wendet. Die unmittelbare Handlungsdevise dazu heißt »Entkommerzialisierung«, und zwar ganz pragmatisch immer dort, wo, und immer dann, wenn es geht. So werden wir langsam, aber sicher die totalitäre Macht des Geld- und Warensystems über unser Leben unterminieren. Die Subsistenzpolitik ist die Politik des Alltags von »unten«, vom verantwortungsbewussten Individuum her getragen, die den Weg aus der Wachstumsökonomie weist, hin zu einer Ökonomie des Gebens, wie sie Genevieve Vaughan in ihrer feministischen Kritik des Tauschs »For-Giving – Schenken und Vergeben« beschreibt.
4. Eine Politik für die Wiederherstellung von Gemeinschaft Eine subsistenzorientierte Politik des verantwortungsbewussten Individuums ist das Gegenteil von einer Politik der Individualisierung. Denn die Orientierung am Notwendigen, am stofflich konkreten Ist-Wert führt zur Fürsorge gegenüber Mensch und Natur. So kann das Verantwortungsgefühl für das Gemeinschaftliche wieder erstarken und zwar ganz konkret für die Allmende oder »Commons«, die Gemeingüter. Als »Global Commons« werden die Naturgegebenheiten bezeichnet, die der gesamten Menschheit gemeinsam sind: die Atmosphäre, das Klima, die Meere, der Fischreichtum, die Artenvielfalt – all das, worüber man sich aufgrund der weltweiten Zerstörung in Zeiten der Globalisierung Sorgen macht. Gerade in diesem Zusammenhang ist die Subsistenzpolitik von unten, vom Individuum, vom Alltag und vom Lokalen her von grundlegender Bedeutung – denn nur eine Kultur der Wahrnehmung des Ist-Werts, die anhand der eigenen Leiblichkeit, der eigenen Nahbeziehungen zu Menschen, Pflanzen, Tieren, dem Boden, der Luft usw. entsteht, führt auch zur wirkungsvollen Umsicht für das Ganze. Getragen wird diese Kultur im Großen wie im Kleinen von den Werten des mütterlichen Sorgens, so wie es in Artikel 1, Satz 1 des Entwurfs zur »Allgemeinen Erklärung der Gemeingüter der Erde und der Menschheit« ganz wundervoll ausgedrückt wird: »Das höchste, universelle Gemeinschaftsgut, die Existenzbedingung für alle sonstigen Güter, ist die Erde selbst. Denn sie ist unsere Große Mutter, die geliebt, geachtet, gepflegt und verehrt werden muss, so wie unsere eigenen Mütter.«
Oya im Ohr Diesen Beitrag gibt es auch als Hörstück.
Veronika Bennholdt-Thomsen (70) leistete als Sozialanthropologin Pionierarbeit in der Subsistenz- und Frauenforschung. Sie wurde an der Universität zu Köln in Ethnologie promoviert und habilitierte sich in Soziologie an der Universität Bielefeld. 1966 ließ sie ein mehrjähriger Auslandsaufenthalt tief in die Alltagskultur Mexikos eintauchen, die ihr seitdem zur zweiten Heimat wurde. In der mexikanischen Stadt Juchitán führte Bennholdt-Thomsen eine Studie über deren nicht-patriarchales, subsistenzorientiertes, auf mütterlichen Werten basierendes Wirtschaftsgefüge durch, die als »Juchitán – Stadt der Frauen« publiziert wurde. Sie verfasste zahlreiche Bücher und Fachartikel über Subsistenz, bäuerliche Ökonomie, matriarchale Praxis und »Buen Vivir« als Gesellschaftsentwurf des guten Lebens. 1997 erschien ihr gemeinsam mit Maria Mies verfasstes Standardwerk der Subsistenzperspektive »Eine Kuh für Hillary«. Sie baute das Fach »Frauen und Dritte Welt« an der Universität Bielefeld auf, lehrte am ISS in Den Haag, der Humboldt-Universität zu Berlin, am Institut für Höhere Studien CIESAS in Oaxaca, Mexiko, und ist seit 1998 Honorarprofessorin an der Universität für Bodenkultur Wien. Veronika Bennholdt-Thomsen lebt in Bielefeld, wo sie das Institut für Theorie und Praxis der Subsistenz leitet.