Einigen Leserinnen und Lesern mag das Buch »Alles fühlt – Mensch, Natur und die Revolution der Lebenswissenschaften« von Andreas Weber bestens bekannt sein. Es ist 2007 im Berlin Verlag erschienen und wurde 2014 bei thinkOya neu aufgelegt. Bei manchen rangiert es vielleicht sogar in der Kategorie »Lieblingsbuch« – verbindet es doch wie wenige deutschsprachige Werke persönliche Erfahrung, mutige philosophische und fundierte wissenschaftliche Erkenntnisse. Nun gibt es mit »Lebendigkeit – Eine erotische Ökologie« eine Art Fortsetzung und Vertiefung. Hat sich der Autor 2007 noch tastend auf neues Terrain gewagt, traut er sich jetzt ohne Scheu in die Widersprüchlichkeiten der lebendigen Welt hinein. Die ersten Kapitel variieren das Motiv des Buchs – das Aufeinander-Bezogensein der Körper dieser Welt – in immer neuen Schleifen, und manche Leser mögen sich fragen, wohin sie der Autor führen möchte. Mit fortschreitender Lektüre wird jedoch deutlich: In diesem Buch geht nichts »vorwärts«, es dreht sich auch nichts im Kreis, sondern etwas beginnt sich aufzufalten, das in der geistigen Tradition Europas höchst selten ist: ein Fühlen und Denken in Polaritäten. Wir sind »entweder – oder« gewohnt, bestenfalls noch »sowohl – als auch«, doch Polaritäten sind mehr: Aus ihrem Spannungsfeld, ihren Paradoxien, entspringt Lebendigkeit – dass wir Individuen sind und uns doch beständig ineinander verwandeln. Widersprüchlichkeit, so Weber, ist die Logik des Poetischen. »Nichts geschieht mit Hintergedanken – und dennoch bleibt nichts ohne Spuren«, schreibt der Autor und zitiert ein Zen-Koan als Ausdruck für die vorsatzlose Poesie der Wirklichkeit: »›Die Wildgänse werfen ihr Spiegelbild ohne Absicht. Das Wasser denkt nicht daran, ihr Bild zu empfangen.‹ Aber einmal vom Bild der Wildgänse getroffen, verändert sich der Charakter des Wassers, einer unbelebten Flüssigkeit, und es wird zu einer imaginativen Substanz. […] Dieses stetige Gemurmel von Rede und Gegenrede erfüllt unsere Geobiosphäre. Überall stoßen wir auf die Erotik der Begegnung.« Ein Buch über die Erotik der Begegnung könnte schnell schrecklich kitschig werden, aber Andreas Webers Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit ist alles andere als kuschelig: »›Symbiose‹ hat einen zu netten Klang, der unterschlägt, dass das Ökosystem zu seinem Gelingen nicht nur das Glück der Bruderschaft hervorbringt, sondern auch den Schrecken der Vernichtung. Andere zu fressen und selbst zur Mahlzeit zu werden, erscheinen als Dimensionen innerhalb desselben lebenden Gewebes, als Prozesse, die das Ganze nötig hat, um sich in Stabilität zu erhalten und zu erfahren.« Die Sterblichkeit der Organismen dieser Welt ist für Andreas Weber ein roter Faden, an dem er sich weit in die Widersprüchlichkeit der Welt hineinwagt: »Nur ein Wesen, das scheitern kann, erfährt dasjenige, was ihm begegnet, in existenzieller Bedeutung. – Der Tod erst macht die Welt lesbar. Und diese in begehrenden, zerbrechlichen Leibern geschriebene Schrift versteht jedes Wesen gleichermaßen.« Diese Verletzlichkeit führt für Andreas Weber nicht zum berühmten »Kampf aller gegen alle«, sondern zu absoluter Gemeinschaftlichkeit: Sie »schmiedet uns in einem gemeinsamen Geist zusammen«. Die Leserinnen und Leser mit allen Zellen begreifen zu lassen, warum die Sehnsucht, die ganz eigene Besonderheit zu entfalten, nur die andere Seite der Medaille der Erotik des ökologischen Verbundenseins ist, gelingt dem Autor vor allem durch kurze, kraftvolle Geschichten, die sich durch das gesamte Buch ziehen. Manche spielen in einem kleinen Dorf in Ligurien, andere in den verregneten Straßen Berlins. Manche handeln von Glühwürmchen und Nachtigallen, andere von sterbenden Heupferdchen oder fetten Kröten. Indem sie sich nahtlos mit Reflexion verflechten, löst der Autor den Gegensatz zwischen analytischem und imaginativem Denken auf bzw. spielt lustvoll auch mit dieser Polarität: »Plötzlich begriff ich, dass die Pflanzen auch nachts nicht aufhören, zu wachsen, dass sie nicht schlafen, sondern stets weiter voranstreben wie ein Schiff, das den schwarzen Ozean durchpflügt, während alle bis auf die Brückenbesatzung schlafen.« Solche Sätze bilden leichtfüßig Übergänge zwischen Welten, die das abendländische Denken normalerweise fein säuberlich getrennt hält. Übergänge – das sind die ökologisch vielfältigsten Zonen in der Natur. Dort pendelt alles um ein sensibles Gleichgewicht. In Webers Worten: »Es gibt einen schmalen Grat, wo sich die notwendige und die gerade noch erträgliche Entfremdung treffen. Und diese schmale Zone ist der Bereich, in dem alle Teilnehmer der Wiese, die Halme, die Grillen, die Glühwürmchen, der Salbei, die Orchideen und die Eidechsen wirklich sind. Im Samt der ersten frühen Sommernacht wandelte auch ich auf diesem schmalen Grat. Und er wurde, weil ich von allem berührt wurde, auch meine Wirklichkeit.« Das Buch lädt ein, sich auf die abenteuerliche Wanderung auf dem schmalen Grat einzulassen. Es schließt mit den Worten »Nackt. Ungepanzert. Neugierig. Tapfer. Jetzt.« Derart auf die Welt zu schauen, ist nicht nur schön, sondern auch schmerzhaft: Es wird deutlich, wie heftig die aus jedem Gleichgewicht gefallene Gesellschaft Lebendigkeit unwiederbringlich zerstört und wie fundamental der »Wandel« auf dem Weg in eine dem Leben zugewandte Haltung sein muss. ◆
Lebendigkeit Eine erotische Ökologie. Andreas Weber Kösel, 2014 288 Seiten 19,99 Euro