von Matthias Fersterer, erschienen in Ausgabe #12/2012
»Der Doktor«, ein lungenkranker Mann mittleren Alters, und Dora, eine junge, lebenslustige Köchin, treffen in einem Ostseebad aufeinander. Es ist Liebe auf den ersten Blick. Wie verwandelt, wird er in den kommenden Monaten schaffen, was ihm bisher nicht gelang: sich von seinem Elternhaus zu lösen und sein Leben mit einer Frau zu teilen. Sie wird eine Liebe erfahren, die sie nur als Ahnung in sich trug. Der Doktor ist Franz Kafka, die Köchin Dora Diamant. Er wird nicht nach Prag zurückkehren. Stattdessen werden sie nach Berlin gehen, und dort, der Geldentwertung der 20er Jahre, den gesellschaftlichen Konventionen und der Krankheit zum Trotz, flüchtige Augenblicke gemeinsamen Glücks finden. »Es gibt Dichter, allerdings nur wenige, die so ganz sie selbst sind, dass einem jede Äußerung über sie, die man sich herausnimmt, als Barbarei vorkommen möchte. Ein solcher Dichter war Franz Kafka«, schrieb einmal Elias Canetti. Ein größeres literarisches Wagnis, als aus dem Leben eines solchen Schriftstellers zu erzählen, ist kaum vorstellbar. Michael Kumpfmüller ist es eingegangen. Und brilliert. Er erfand eine Sprache ohne Eigenschaften, die konsequent in der dritten Person gehalten ist, fast dokumentarisch wirkt und an Kafkas betörend klare Prosa erinnert, ohne diese zu imitieren. Kumpfmüller glückte so ein Buch, das einlöst, was Kafka forderte: Es ist wie »die Axt für das gefrorene Meer in uns«. Es erzählt Intimes, ohne bloßzustellen, und berührt, ohne sentimental zu sein. Herzerweichend ist eine historisch verbürgte Begebenheit, in der Kafka ein im Park angetroffenes Mädchen über den Verlust seiner Puppe tröstet, indem er Tag für Tag neue, angeblich von der Puppe verfasste Briefe fingiert. Trost und Hoffnung spendet auch Kumpfmüllers Buch, das einen glauben lässt, man lese die älteste Geschichte der Welt zum ersten Mal. »Wenn man durch Glück umkommen kann, dann muss es mir zweifellos geschehen, und kann man durch Glück am Leben bleiben, dann werde ich am Leben bleiben«, lässt Kumpfmüller den »Doktor« in seinem Roman sagen. Als er ein Jahr darauf seiner Tuberkulose-Erkrankung erliegt, hat er das Glück und die Herrlichkeit des Lebens erfahren. Zweifellos.
Die Herrlichkeit des Lebens Michael Kumpfmüller Kiepenheuer & Witsch, 2011 256 Seiten ISBN 978-3462043266 18,99 Euro
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