Titelthema

Notizen aus der wilden Welt

Streifzug durch einen Sommerwald.von Matthias Fersterer, erschienen in Ausgabe #5/2010
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Wir folgen dem Weg tiefer in den Wald hinein. Die dürren Zweige der Kiefern bieten kaum Schutz vor dem gleißenden Sonnenlicht, das von den unzähligen Sandkörnern auf dem ausgedörrten Boden mit unerbittlicher Wucht zurückgeworfen wird. Es soll einer der heißesten Tage des Jahres werden. Wir gehen weiter. Verschwunden sind die handtellergroßen Libellen, die uns noch am Morgen vorausgeflogen waren. Fast schien es, als wollten sie uns den Weg weisen, vielleicht betrachteten sie unsere schweißnassen Körper aber auch nur als attraktive Köder, die ihnen reiche Beute bescherten: Mal seitwärts, mal himmelwärts ausscherend, stürzten sie in waghalsigen Manövern pfeilschnell und ungemein behende auf die uns umtänzelnden Stechmücken, pflückten sie geradezu aus der Luft.

Alles ist Natur
K. und ich wollen die Nacht im Wald verbringen, ohne weitere Absicht, nur um der Erfahrung willen. Wir verlassen den breiten Forstweg, schwenken in einen schmalen Trampelpfad zu unserer Linken ein und dringen in eine ungezähmtere Schicht des Waldes vor. Am Rand des Pfades wachsen Schachtelhalme und Farne. Alles wirkt urwüchsig und wild, ist jedoch nicht unberührt: Pfade, Fuhrwege, Holzwege ziehen sich durch den Wald. »Auf den Wegen bleiben!«, mahnt eine Stimme aus meiner Kindheit. Daraus spricht die Angst, der Mensch könnte die Natur stören. Sollte Natur unberührt vom Menschen sein? Wir sind doch selbst Natur, aber sind wir auch wild? Es sei vergebens, »von einer außerhalb unseres Selbst gelegenen Wildnis zu träumen«, notierte Henry David Thoreau einmal in sein Tagebuch. Wenn die Wildnis im Äußeren die Wildnis in uns spiegelt, kann ich die wilde Natur dann nur bewahren, indem ich die Wildnis in mir »kultiviere«? Lässt sich denn Wildnis kultivieren?! Und was trägt jemand in sich, dem das Wilde ausgetrieben wurde? Leere? Kahlschlag? Starre? Wüste? – meinte Nietzsche das mit: »Weh dem, der Wüsten birgt«?
Mir schwirrt der Kopf vor so vielen Fragen. Für einen Moment denke ich gar nichts – dann sehe ich vor mir den Teilzeitaussteiger Thoreau, backenbärtig im Sonntagsrock mit gestärktem Kragen und Querbinder: »Lebendigkeit und Wildnis entsprechen sich. Das Lebendigste ist auch das Wildeste«, raunt er und empfiehlt sich.

Alles fließt
Wildnis hat demnach etwas mit dem frei fließenden Leben in und um uns zu tun. Dass der Strom eines begradigten Flusses »wilder« ist und mehr zerstörerisches Potenzial birgt als der eines ungezähmt mäandernden Flusses, zeigt, dass wilde Lebendigkeit nicht gleichbedeutend mit Chaos und Zerstörung ist. So wie die Mäander eines Flusses dessen Fließgeschwindigkeit harmonisieren, findet auch das Leben den jeweils angemessenen Ausdruck. Wilhelm Reich, der eine so umfassende wie eigenwillige Theorie des Lebendigen entwarf, beschreibt das Leben als »gütig und sanftmütig, wo Güte und Sanftmut geboten sind, und hart und streng, wo Härte und Strenge geboten sind«.
Mein Blick fällt wieder auf die Gewächse am Pfadesrand. Die holzigen Stengel und die fein verzweigten Seitentriebe der Schachtelhalme wirken wie Miniaturbäume. Sie sind seit unvordenklichen Zeiten hier, denke ich. Könnte ich dreihundert Millionen Jahre in die Vergangenheit reisen, wären die Größenverhältnisse gänzlich anders: Die Schachtelhalme und Farne wären nicht knie-, sondern baumhoch, die schlanken Körper der Libellen wären nicht daumenlang, sie hätten Armeslänge, ebenso die Spannweite ihrer Flügel. Alles Leben wandelt sich, alles ist im Fluss, alles ist vergänglich – und doch vergeht nichts. Wir sind aus Sternenstaub gemacht, und solange der Kosmos lebt, sind auch wir in einem ganz stofflichen Sinn unsterblich. Gleichzeitig sind unsere Körper aus demselben Stoff wie die Erde gebildet, werden irgendwann wieder zu Erde und fließen in neue Formen ein. Wir sind buchstäblich ein Teil des Kosmos und »Kinder der Erde« …

Alles ist verbunden
Wir rasten. K. legt sich auf den Waldboden, ich setze mich auf einen Baumstumpf. Wir sprechen nicht. Die Oberfläche von K.s Gesicht scheint zu vibrieren, mit jeder Faser scheint sie ihre Umwelt aufzusaugen. Ein Schatten, den ich aus dem Augenwinkel heraus wahrnehme, lenkt meinen Blick zu mir zurück. Auf meinem Handrücken lässt sich eine Stechmücke nieder. Zuerst sehe ich sie nur. Mit ihrem Rüssel die Topographie meiner Haut abtastend, ortet sie ein Kapillargefäß, findet eine ausreichend dünnwandige Stelle – und sticht zu. Jetzt erst spüre ich sie. Ein beißendes ­Jucken durchfährt mich. Ich widerstehe dem Impuls, die Handfläche meiner Rechten auf den Rücken meiner Linken niedersausen zu lassen. Stattdessen mache ich mir zum ersten Mal die Mühe, den Körper dieses Insekts genauer zu betrachten. Die geschwungene Anmut dieses Weibchens – nur Weibchen saugen Blut, das sie für ihre Brut brauchen, ansonsten ernähren sich Männchen wie Weibchen von Pflanzensäften – erinnert mich an ein Seepferdchen. Staunend beobachte ich, wie sich die Farbe ihres Hinterleibs von fahl-durchscheinendem Bernstein zu rauchigem Rubinrot wandelt, während er anschwillt und sich mit meinem Lebenssaft füllt. – Wer bin ich, ihr dieses natürliche Bedürfnis zu versagen?
Ich blicke ihr nach – sehe, wie sie volltrunken davontaumelt und sich nach kurzer Flugstrecke auf dem Rucksack neben mir ausruht. Es wäre mir ein Leichtes, ihren schwerfälligen, prall gefüllten Körper zu zerdrücken. Ich lasse sie. Wie käme ich dazu, über Leben und Tod dieser anmutigen Kreatur zu entscheiden? Dennoch, so kommt es mir in den Sinn, heißt Wildnis auch, in dem Wissen zu leben, dass jeder Tag der letzte sein kann. In ihr gibt es keinerlei Versicherung, nur die Gewissheit des Lebens selbst. Der Tod aber ist Bestandteil, nicht Gegenteil des Lebens.
Die Mücke, die nun einen Teil von mir in sich trägt, wurde angelockt durch meinen Atem, meinen Schweiß und meine Ausdünstungen. Seltsam, wie wir uns beständig mit unserer Umwelt austauschen, denke ich. Über den Trägerstoff Luft senden wir Dämpfe, Gase, Säfte, Hautpartikel, Härchen, Wimpern, Schuppen aus, die sich andere Menschen, Tiere, Pflanzen, Orte einverleiben, während wir uns durch Atmen, Riechen, Schmecken oder auf andere Weise deren Aussendungen aneignen. Es ist kaum auszumachen, wo sie aufhören und wir anfangen. Ständig verbindet uns eine stoffliche Aura aus körpereigenem »Unrat« mit unserer Umwelt. Je nach Weltanschauung lassen sich diesem Szenario dermatologische oder physikalische, feinstoffliche oder grobstoffliche, quantenmechanische oder spirituelle Dimensionen hinzufügen – die Aussage bleibt dieselbe: Wir sind ein Teil der Welt, untrennbar verbunden mit all ihren Teilen. Wie der englische Literat und Naturmystiker D. H. Lawrence schrieb: »Wir und der Kosmos sind eins«.
Auf einer kleinen Lichtung wollen wir unser Lager aufschlagen. Wir ziehen uns aus, gehen auf Tuchfühlung mit dem Ort. Meine bloßen Fußsohlen nehmen die Nadeln und Kiefernzapfen des Waldbodens wahr, ein wohlig harziger Geruch steigt mir in die Nase. Wir legen uns in eine mit Moos und zartem Waldgras bewachsene Kuhle. Die heiße Luft trocknet unsere Haut, die Hitze lähmt unsere Glieder, jede unnötige Bewegung ist eine zuviel. Es regt sich kein Windhauch. Kein Rauschen tönt aus den Wipfeln. Es fühlt sich gut an, dem Wald nackt gegenüberzutreten. Noch vor einer Weile wäre mir dabei unwohl gewesen. Was sollen die Leute denken?! Welche Leute? Außer uns ist kein Mensch hier. Ebensogut könnten wir die ersten Menschen sein. In unserer Kuhle fühlt es sich wild und ursprünglich an. Und doch haben wir das Treibhaus der Zivilisation kaum verlassen.

Gewalt gegen das Lebendige
Einen Steinwurf von unserer gefühlten Wildnisinsel entfernt erstrecken sich die größten Ackerflächen Deutschlands. Die Monokulturen, die verdichteten Böden, die Dünger und Pestizide verdrängen noch das letzte bisschen Lebendigkeit aus dem Land. Schlägt die Wildnis dann mit der Wucht des Verdrängten zurück, etwa in Form von »Schädlingsbefall«, heißt die Reaktion meist: Noch mehr Gift.
Einen ganz anderen Ansatz vertritt der Kräuterheilkundige ­Timothy Scott Lee. In seiner Beschäftigung mit invasiven Pflanzen, die gemeinhin als Unkraut gelten, entdeckte er bemerkenswertes Potenzial zur Heilung von Mensch und Erde. Der japanische Staudenknöterich reinige beispielsweise verseuchte Böden und könne die Lyme-Borreliose lindern und heilen. Aus seiner ­Beobachtung, dass sich dieses Rhizom in Nordamerika mit derselben Geschwindigkeit wie die Borreliosekrankheit ausbreitet, schließt Lee auf eine subtile Wechselwirkung zwischen Pflanze und Mensch.
Ich liege mit geschlossenen Augen auf dem Waldboden und frage mich, warum wir derart taub für die Botschaften der Pflanzen sind. Anstatt eine Pflanze zu mir sprechen zu hören, dreht in meinem Kopf eine Strophe aus einem Popsong Pirouetten. Während ich überlege, warum ich das bunte Treiben der Zivilisation nicht hinter mir lassen kann, ziehen die Zeilen aus »Verlass die Stadt« – so heißt das Lied ironischerweise – weiter ihre Kreise: »Sie haben die Straßen auf Sprengstoff gebaut / Die Kanäle geflutet, den Abfluss gestaut / Die Luft längst vermengt mit astreinem Asbest / Und Beton dort gestreut, wo das Gras nicht mehr wächst.«
Können wir nicht anders, als das Lebendige zu bekämpfen? Ist die Destruktivität ein unabänderlicher Teil der menschlichen Natur? Sigmund Freuds Todestrieb legt eine solch pessimistische Schlussfolgerung nahe. Anders Freuds Schüler Wilhelm Reich: Er glaubte eine Lebensenergie entdeckt zu haben, die nicht nur psychologisch, sondern auch physikalisch messbar sei, und den menschlichen Körper ebenso wie den gesamten Kosmos durchströme. Erst durch Druck von außen entstünden Blockaden, die die frei fließende Lebensenergie zu einem »Körper-« oder »Charakterpanzer« erstarren ließen. Im chronisch gepanzerten Menschen komme es nun zu destruktiven Entladungen, die sich »gegen das Spontane, Lebendige, Liebevolle, Fließende in anderen Menschen und in der Natur« richten, schreibt der Reich-Kenner Bernd Senf. Diese Kette der Gewalt bezeichnete Reich als »emotionale Pest des Menschen« und vermutete gar einen Zusammenhang zwischen »emotionaler Verwüstung«und äußerer Wüstenbildung.

Wiederverbindung mit dem Lebendigen
Einen Ausweg erkennt Senf in der Wiederentdeckung der Fließ- bewegungen in allen Bereichen des Lebens. Was für Menschen wären das, in denen das ungezähmte Leben frei fließen kann?
Sie kämen wohl kaum auf die Idee, die Natur beherrschen zu wollen. Würden sie sich als Teil des fließenden Lebens empfinden, als Organ der Erde, die in ihrem Ausdruck der Erde Ausdruck verleihen? Zur Wiederverbindung mit allem, was ist, empfiehlt D. H. Lawrence, unorganische Bindungen aufzugeben und wieder an organische Bindungen anzuknüpfen: »Beginnen wir mit der Sonne«, rät er, »und der Rest wird langsam, langsam folgen«.
Als Verwandte der Sonne betrachteten sich wohl auch die »Sonnenlenker von Taos«, von denen Alexander Kluge in einer Erzählung über C. G. Jung berichtet: Während einer Nordamerika-Reise begegnete dieser einer Gruppe von Pueblo-Indianern, die erklärten, sie müssten immerzu den Lauf der Sonne lenken, ansonsten ginge sie bald nicht mehr auf. Wer, so überlege ich, hätte ihnen das Gegenteil beweisen können? Und: Zeugt die Vorstellung, die Sonne zu lenken, von Demut oder Vermessenheit? Während ich über die Sonnenlenker aus Neumexiko sinniere, senkt sich die Sonne über diesen Teil der Welt, um dort schon bald wieder aufzugehen.
Langsam wird die Temperatur erträglicher. Eine Nacht im Zelt ist dennoch wenig verlockend. Zwischen Kiefernästen und Brombeersträuchern spannen wir das mitgebrachte Moskitonetz auf. Meine Begegnung mit der Mücke hin oder her, wir möchten uns von ihr und ihren Gespielinnen nicht die Nacht verderben lassen. Zwischen den Baumkronen über uns erstreckt sich der sternenklare Nachthimmel. Ein noch nicht voller Mond taucht den Wald in sanftes Licht. D. H. Lawrence rät zur Freundschaft mit der Sonne, ich fange mit dem Mond an, oder der »Mondin«, wie sie in vielen Sprachen heißt. Verglichen mit der sengenden Sonne des Tages hat der sanfte Schein dieser Himmelsscheibe tatsächlich etwas Weibliches. Von Ferne schwillt das leise Flöten eines Kauzes an und wieder ab.
Dann tauche ich ein in eine noch wildere Welt: Ob es eine einstige oder künftige Welt ist, die da vor meinen Augen aufgeht, vermag ich nicht zu sagen. In einem Wald aus turmhohen Schachtelhalmen schnellen sirrend Libellen von der Größe eines Seeadlers an mir vorbei. Am Horizont sehe ich die Überreste einer untergehenden Zivilisation. Pflanzen nehmen das Land wieder in Besitz und zermahlen mit ihrem Wurzelwerk die Asbestbauten, die Autobahnen, die Betonbetten der Flüsse. Immer weiter wuchern sie. Ebenso frei fließend wie der inzwischen wieder ungezähmt mäandernde Fluss bewegen sich auch die Gestalten, die mir entgegenkommen: Es sind Menschen mit überdimensionierten Ohren, Augen, Nasen – Menschen, die ganz Klang, ganz Blick, ganz Atem sind. »Sind das Organe der Erde?«, frage ich die Libelle, die sich auf einem Schachtelhalmzweig über mir niederlässt, nachdem ihr ein vorüberfliegender Kolibri nur knapp entwischt ist. Sie flötet mir unverständliche Kauzlaute zu. In ihren Facettenaugen, die mir bis auf den Seelengrund zu blicken scheinen, sehe ich die Spiegelung einer Hand, die nach meiner Stirn greift. Ich will weglaufen, kann mich aber nicht bewegen.
Dann spüre ich K.s Hand sanft über mein Gesicht streichen. »Du hast geträumt«, meint sie. »... Ich war in der wilden Welt«, murmle ich schlaftrunken. »Aber die ist doch hier, unsere wilde Welt«, entgegnet sie schmunzelnd, während die Mondin milchig weißes Licht über unsere Wildnisinsel gießt und die Konturen der Kiefern in scharfen Schatten auf die Lichtung wirft. 


Wildes und Lebendiges zur Vertiefung
• Alexander Kluge, Die Lücke, die der Teufel lässt, Suhrkamp, 2003
• D. H. Lawrence, Die Apokalypse, Patmos, 2000 ­
• ­Wilhelm Reich, Murder of Christ, Farrar, Straus & Giroux, 1971
• Bernd Senf, Die Wiederentdeckung des Lebendigen, Omega, 2003
• Timothy Lee Scott, Invasive Plant Medicine, ­Inner Traditions, 2009
• Henry David Thoreau, Vom Spazieren, Diogenes, 2003

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