Los! Geht raus zum Spielen!
Der US-Amerikaner Richard Louv provoziert mit der Diagnose eines Natur-Defizit-Syndroms bei Kindern in seinem Buch »Last Child in the Woods« (sinngemäß: Das letzte Kind, das noch im Wald spielt).
Gut hundert Festgäste nippen im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe an Sektgläsern. Ich komme mit einer nobel gekleideten jungen Frau ins Gespräch. Innerhalb von Sekunden haben wir uns gegenseitig als Landkinder identifiziert. Wir erzählen uns vom Stallausmisten, vom eigentümlichen Duft der Brennesseln, der fast vollkommenen Stille in der Nacht, von der Einsamkeit der Lüneburger Heide und der Wildnis der Ostseewellen, und wir sind uns einig: All das ist ein essenzieller Teil unserer Persönlichkeit. Die ganze Zeit schon sticht mir ihre Fußbekleidung ins Auge. Sie und ich sind die einzigen Frauen auf dieser Veranstaltung, die ordentlich hochhackige Schuhe tragen. Ausgerechnet die Landmädchen.
»Zu Hause laufe ich den ganzen Sommer lang nur barfuß« – oft muss ich Menschen, die beim Anblick meiner Lieblings-Stadtschuhe in Sorge geraten, beruhigen. Das stimmt tatsächlich. Ich liebe Extreme. Sie so weit wie möglich auszuloten, im einen Pol die Anwesenheit des anderen zu fühlen und aus diesem Gefühl in eine Balance zu fallen – das gibt mir ein Gefühl von Ordnung. Während ich nach Sekt und Häppchen eingehakt durch das nächtliche Hamburg gehe, klingt der soeben beim Festakt vorgetragene Satz einer Cello-Suite von Johann Sebastian Bach noch in meinem Ohr: Gehört solche Musik nicht zum Allerschönsten, was die Menschheit hervorgebracht hat?
Eine BurgerKing-Filiale leuchtet im fluoreszierenden Großstadtdschungel. Schnell weg von diesem Ort, nach Hause in unser kleines Dorf, wo wir sonst zu dieser Zeit den Mond über dem Wasser aufgehen sehen. Aus Großstädten will ich immer nur fliehen, meine Lebenskraft fällt nach wenigen Stunden Stadt in sich zusammen. Die Bach’scheAllemande in meinem Kopf spielt weiter, und plötzlich wird mir klar: Das ist städtische Musik. Das ist kein ländliches Tänzchen, sondern hat eine größere Dimension – kultivierter, es ist sogar höfische Musik. Sie ist zum Weinen schön – wie ein Mondaufgang über dem Meer. Ist nicht derart überirdisch schöne Musik, aus welcher Zeit und Kultur auch immer, die vollkommenste Verwirklichung der menschlichen Natur? Ich sehe eine gotische Kathedrale vor mir. Ein städtischer Bau, wunderschön. Zugleich beängstigend, ein Produkt aufkeimenden Größenwahns. In Norddeutschland führte die Backsteingotik zur ökologischen Katastrophe: Ganze Wälder fielen dem Ziegelbrand zum Opfer, so entstand die Lüneburger Heide.
Über kurz oder lang bauen sesshafte Menschen Städte, so war das überall auf der Welt. Dort sollte das Schönste und Feinste an Kultur entstehen. Zu jeder Zeit und auf allen Kontinenten haben die Kulturen dabei maßlos übertrieben, es wurde weitaus Prächtigeres gebaut, als man zum Überleben gebraucht hätte. Ist solche Übertreibung immer etwas gegen die Natur Gerichtetes? Wie war das mit dem Turmbau zu Babel?
Ich denke an das schillernde Gefieder eines Pfaus: maßlose Übertreibung. Die Blüten sommerlicher Wiesenblumen: maßlose Verschwendung von Formen, Farben und Düften. Auch weniger extravagante Blüten würden von hungrigen Insekten befruchtet, aber nein, die Evolution will es immer noch farbiger, extravaganter, duftender, zarter. Auch die Insekten – was ist ein Schmetterlingsflügel anderes als der Ausdruck von maßloser naturkreativer Übertreibung? Da sollte der Mensch nicht hintanstehen. Warum sollte er seine Kultur nicht auch zur höchsten Blüte treiben wollen?
In Gedanken verwandle ich die dunkle Stadt in einen blühenden Ort, der sich nicht länger der Vermehrung des Bruttosozialprodukts verschrieben hat, sondern dem guten Leben und zugleich der überbordenden Kreativität des Lebendigen. Diese Stadt sieht sehr anders aus. Die Häuser ähneln Termitenbauten, sie sind von Grün überwuchert und bunt bemalt.
Wenn die menschliche Kreativität, die permanent Kulturen schafft, nicht mehr als Gegensatz zur Natur gefühlt wird, wenn wir die Stadt nicht als Ort denken, an dem man die Wildnis und all ihre »Unannehmlichkeiten« zum Glück überwunden hat, sondern als einen Ort, in dem sich der kreative Lebensimpuls, der die wilde Natur so großartig werden lässt, auf menschliche Weise ausdrückt – welche Technologie, welche Architektur, welche Wissenschaft und welche Kunst würden dann entstehen? Das würde ich gerne sehen.
Der US-Amerikaner Richard Louv provoziert mit der Diagnose eines Natur-Defizit-Syndroms bei Kindern in seinem Buch »Last Child in the Woods« (sinngemäß: Das letzte Kind, das noch im Wald spielt).
Haben Sie das auch schon erlebt? Diskussionen über mögliche zukünftige Gesellschaftsformen und weniger verschwenderische Lebensstile gelangen ziemlich häufig an den Punkt, wo irgendjemand mahnt: »Aber wir wollen und können doch nicht zurück in die
Der Kalifornier Jon Young versteht sich darauf, Menschen gründlich mit ihrer natürlichen Umwelt zu verbinden. Die Trennung, unter der wir modernen Menschen leiden, hält Young für ein mentales Konstrukt. Auf der körperlichen Ebene – vor allem durch unsere fünf Sinne, die wir mit den Urahnen aus der Steinzeit und allen Säugetieren gemein haben – seien wir Natur. Deshalb bedient sich Youngs Methode dieser Sinne als Schlüssel zur Rückverbindung.