Titelthema

Lasst uns die Krise feiern!

Unsere Parlamente scheinen immer weniger in der Lage zu sein, die drängendsten Probleme zu lösen. Wir baten Bettina Jarasch, Projektberaterin und tätig im Landesvorstand der Berliner Grünen, Jascha Rohr vom Institut für Partizipatives Gestalten und den Biologen und Philosophen Andreas Weber, gemeinsam über neue Wege der Teilhabe nachzudenken.von Andreas Weber, Jascha Rohr, Bettina Jarasch, erschienen in Ausgabe #7/2011

Andreas Weber Bettina, Jascha, schön, dass wir zu diesem Gespräch zusammentreffen. Wir wollen darüber sprechen, wie die Zivilgesellschaft stärker an politischen Entscheidungen teilnehmen kann, wie sich bürgerschaftliche Prozesse emanzipieren können, wie also der Weg zu mehr Partizipation aussehen könnte. Jascha, du bist jemand, der Modelle und Methoden für partizipative Prozesse entwickelt und auch in der Praxis erprobt. Um ein Beispiel zu finden – was ist dein »Leuchtturmprojekt«? Was ist ein aktueller Beratungsprozess, bei dem du mit ganzem Herzen dabei bist?
Jascha Rohr Eigentlich sind alle Projekte, an denen wir arbeiten, wirklich Herzensprojekte. Eines, auf das ich sehr stolz bin, läuft seit eineinhalb Jahren in den sogenannten Bollertdörfern. So nennen sich vier Dörfer in einer Region nordwestlich von Göttingen. Das Besondere dabei ist, dass der Ausgangspunkt eine Initiative von ganz »normalen« Bürgern war und Menschen jedes Alters quer durch alle Parteien beteiligt sind. Es waren nicht die »üblichen Verdächtigen«, die sonst Initiativen gründen. Das war für mich wichtig, denn ich stelle mir oft die Frage, ob das, was wir tun, nur für einen kleinen Teil der Bevölkerung anwendbar ist oder auch in der Breite funktioniert, und in den Bollertdörfern hat es funktioniert. Das macht besonders viel Spaß.
Bettina Jarasch Jetzt bin ich aber neugierig – wie kommt es, dass sich da überhaupt Leute quer durch alle Generationen, Parteien und sozialen Schichten hinweg zusammengefunden haben?
JR Das lag an der Initiierung dieses Projekts. Der Hotelier Dirk Schwarz, der dort ein großes Tagungshotel betreibt, hat sich gefragt, wie er in Zukunft noch existieren kann, wenn der demografische Wandel fortschreitet, immer mehr Leute aus der Region abwandern und ein weiterer Niedergang der regionalen Wirtschaft droht. »Kann ich überhaupt noch etwas an meine Kinder weiterreichen?«, hat er sich gefragt. Hinzu kam eine große Frustration: Die Politik hilft nicht, die Wirtschaft hilft nicht – wer kann’s denn dann tun? Das können eigentlich nur wir Bürger selbst hier in den Dörfern. Über zwei, drei Ecken kamen wir mit ihm in Kontakt und haben ein Bürgerforum organisiert. Inzwischen arbeiten wir dort regelmäßig mit einer um die 120 Mitglieder umfassenden Projektgruppe und haben schon eine Menge bewegt. So ist es zum Beispiel gelungen, das Freibad, das vom Landkreis geschlossen werden sollte, zu übernehmen und erfolgreich in Bürgerhand zu betreiben. Gleichzeitig wurde die Schule gerettet, indem ein Ganztagsangebot entwickelt wurde. Auch ein Konzept für das Leasing von Leerstand ist entstanden. In diesem Jahr wird eine große touristische Veranstaltung und ein Mehrgenerationenprojekt hinzukommen.
AW Ihr habt euch bei diesem Projekt nicht entlang der Wege üblicher staatlich-verwalterischer Organisation bewegt. Also fließen auch keine staatlichen Geldmittel. Ihr setzt bei euren Beratungen ja einiges an Zeit ein – wer zahlt das?
JR Um das erste Bürgerforum zu finanzieren, hat der Hotelier auf der Feier seines 60. Geburtstags allen Gästen freie Getränke und freies Essen angeboten, aber sie konnten nachher Geld in den Topf für das Bürgerforum werfen. Später haben wir der Initiative gezeigt, wie man an geeignete Töpfe kommt, um uns zu bezahlen. Wir hatten viel Glück, dass die Sozial- und Sportstiftung Northeim bereit war, hier einen Prozess und kein Ergebnis zu fördern.
AW Bettina, würdest du aus deiner praktischen Erfahrung in der Politik sagen, dass solch bürgerschaftliches Engagement, wie ­Jascha es beschreibt, bei den Politikern beliebt ist? Will man das, oder fürchtet man sich auch ein bisschen vor solcher Eigenini­tiative?
BJ Es wird in der Politik ja viel über die Förderung von dem, was früher Ehrenamt hieß, gesprochen. Solcher Einsatz der Bürger soll ersetzen, was der Staat nicht mehr leisten kann. Aber das geht vorbei an den Prozessen, die Jascha gerade beschrieben hat. Es gibt wenig konkrete Ideen, wie man so etwas politisch unterstützen kann. Bei uns Grünen wurde darüber freilich ein wenig ernsthafter diskutiert, weil bei uns nach wie vor viele Leute selbst aus Bürgerbewegungen kommen.
In Berlin gibt es spannende, neue Formen von bürgerschaft­lichem Engagement, zum Beispiel das »Community Organizing«. In Quartieren, die aus unterschiedlichen Gründen vom Niedergang bedroht sind, haben sich Akteure auf lokaler Ebene und ohne staatliche Beteiligung zusammengefunden. In Oberschöneweide, einem ehemaligen Industriestandort mit hoher Arbeitslosigkeit im Ostteil der Stadt, haben die Bürgerinnen und Bürger die Fachhochschule für Technik und Wirtschaft überzeugt, sich dort niederzulassen, was dem Quartier neuen Aufschwung gibt. Im Wedding kümmern sich die Bürgerinnen und Bürger gemeinsam um verwahrloste Plätze und helfen Schulen auf die Sprünge, damit die Lebensqualität dort steigt und gerade auch Leute mit Kindern nicht wegziehen.
Die Leute wollen sich auch nicht vom Quartiersmanagement der Stadt finanzieren lassen, damit nicht »von oben« gesteuert wird, was bei ihren Bemühungen herauskommen soll.
Für mich stellt sich die Frage: Was ist da noch die Rolle der Politik, wenn die Bürger alles selbst machen und darauf auch Wert legen? Müsste sich die Politik in Selbstbescheidung üben? Ich denke, dass sich zumindest die Haltung von Politikern gegenüber den Bürgern ändern muss, wenn klar wird: Die besten Ideen sind oft schon da, und zwar nicht unter der Käseglocke des Parlaments.
AW Trotz des inflationären Gebrauchs des Begriffs »Bürgergesellschaft« finden sich nur sehr wenige Politiker, die man als Pro­tagonisten oder auch Spezialisten auf diesem Gebiet ansprechen könnte. Man findet viele interessante, relativ lokal begrenzte, an einzelne Akteure gekoppelte Bürgerprojekte, aber keine Systematisierung dieser diversen Bewegungen auf einer politischen Ebene. Wie gestaltet sich hier die Schnittstelle? Wie ist das in den Bollertdörfern, sitzen inzwischen alle Lokalpolitiker bei der Initiative mit im Boot?
JR Zuerst waren wir für einige offizielle Stellen, die eigentlich die Arbeit in der Regionalentwicklung leisten sollten, der »Pro­blemfall aus den Bollertdörfern«. Die Leute in diesen Stellen wissen oft nicht, wie sie es anpacken sollen, wenn Gruppen sich selbst organisieren. Aber es kann auch anders sein. Wenn wir zum Beispiel über ein klassisches Dorferneuerungsprogramm als Berater angesprochen werden, läuft alles schön in einem Rahmen, der auch behördlich und politisch vorgesehen ist, und in diesem Rahmen ist es durchaus möglich, partizipativ zu arbeiten, da hat man viel Spielraum. Meistens wird er nur nicht genutzt.
Problematisch wird es erst dann, wenn die Ergebnisse partizipativer Prozesse instrumentalisiert werden, indem Politiker versuchen, sie in parteipolitische Agenden einzuflechten. Oft ist es dann mit der Motivation der beteiligten Bürgerinnen und Bürger vorbei, die machen dann nie wieder bei so etwas mit. Es gibt aber durchaus Politiker, die bereit sind, dafür zu streiten, die Position der Bürger zu legitimieren und umzusetzen. Bettina, wie erlebst du das?
BJ Ich kann freilich nicht für »die« Politiker sprechen. Es ist eine Frage von Respekt, ein Bürgerforum eben nicht parteipolitisch zu vereinnahmen. Sicherlich berufen sich Politiker gerne auf Bewegungen, um die eigenen Ziele zu legitimieren, aber ich sehe eigentlich eher die Aufgabe, die gebotene Distanz zu wahren, damit eben nicht diese Vereinnahmung stattfindet.
Wichtiger als Parteien sind für Bürgerinitiativen oft die Verwaltungen. Ich kenne Projekte, bei denen zwischen den Akteuren aus Bevölkerung und Stadtverwaltung eine sehr erfreuliche Verantwortungsgemeinschaft entstand, zum Beispiel um eine Schule auf einen guten Weg zu bringen. Aber an irgendeinem Punkt begannen die Behörden dann, über Zuständigkeiten zu streiten und zu blockieren – und schon war die Motivation der Beteiligten beim Teufel.
AW Einerseits erzeugt solches Engagement offenbar Reibungsflächen, andererseits scheinen die Probleme in urbanen Brennpunkten oder leeren ländlichen Räumen ohne Bürgerengagement gar nicht mehr lösbar zu sein. Also lohnt es sich, die politische Logik solcher Prozesse unter die Lupe zu nehmen. Haben sie eine ganz andere politische Systematik?
JR Ich kann dir dazu ein theoretisches Angebot machen. Wir experimentieren gerade mit einer Unterscheidung zwischen deliberativen Methoden und kollaborativen Methoden. Bei deliberativen Prozessen geht es um Meinungsbildung und um Argumente. Diese Prozesse sind immer interessengeleitet. Ich würde sagen, 95 Prozent aller klassischen Beteiligungsverfahren arbeiten heute deliberativ. Inzwischen kommen neu kollaborative Methoden hinzu, auch übers Internet. Da geht es nicht um Meinungen, sondern um die Frage: Wie können wir gemeinsam eine neue Idee entwickeln, die noch gar nicht existiert? Anstelle einer Meinung steht am Anfang ein Problem, das es gemeinsam zu lösen gilt.
BJ Ich habe im ganz Kleinen bei den Berliner Grünen ein Experiment gewagt, das solche »kollaborativen« Züge hat. Zu Beginn meiner Arbeit im Landesvorstand habe ich in der Partei erzählt, welche Themen mich am meisten interessieren, nämlich Bildung und Migration bzw. Integration. Danach kamen viele Mitglieder auf mich zu und sagten: »Wir sind ja schon immer die Multikulti-Partei, aber eigentlich haben wir gar nicht so viele Migrantinnen und Migranten in unseren Reihen, das ist seltsam.« Also haben wir uns zu diesem Thema mit Interessierten aus allen Flügeln der Partei zusammengesetzt und die Idee für einen Kongress entwickelt, um zu versuchen, mit möglichst vielen Migrantinnen und Migranten – und zwar nicht mit Funktionären der Organisationen, sondern mit Multiplikatorinnen und Multiplikatoren, zum Beispiel aktiven Eltern aus den Stadtteilen – selbst ins Gespräch zu kommen. Dabei entstand ein Gefühl für eine politische Haltung, die mehr mit Teilhabe zu tun hat und sich von diesem »im Namen von XYZ sprechen« verabschiedet. Gerade bei linken Parteien empfinde ich es als Problem, dass sie so gerne paternalistisch im Namen von Opfergruppen sprechen. Wir wollten bei unserem Kongress stattdessen etwas von den Migrantinnen und Migranten lernen und fragen: Wo seht ihr Handlungsbedarf, und welche Lösungsvorschläge habt ihr? Der Kongress war schließlich als offenes Weltcafé organisiert, was sehr arbeitsaufwendig, aber für alle Beteiligten sehr bereichernd war. Unter den Organisatorinnen hat sich ein gemeinsamer Geist herausgebildet, der uns bis heute trägt.
JR Dann habt ihr gemeinsam erlebt, dass unter euch eine Art Gruppenintelligenz entstanden ist, und auch etwas »Emergentes« – also eine Idee, die vorher so noch nicht da war. Das sind für mich zwei ganz zentrale, wichtige Themen, die ich für absolut zukunftsweisend halte: Emergenz, also wirklich Neues, was vorher nicht erkennbar war, und die Intelligenz einer Gruppe.
AW Was du als deliberativ bezeichnest, klingt wie die zeitgenössische Version eines hierarchischen Entscheidungsbaums. Und das Kollaborative bezeichnet eher einen zirkulären, vernetzten, holarchischen Entscheidungsraum. Sind solche Räume nur in begrenzten Prozessen, in einem Stadtteil oder einer bestimmten Landschaft denkbar, oder lassen sie sich auch auf einen größeren Maßstab skalieren? Wenn wir feststellen würden: Die kollaborativen Methoden bilden die organischere, gesündere Weise der Entscheidungsfindung, wäre es ja hilfreich, sie aus ihrem Nischendasein zu befreien. Wie kompatibel sind die beiden Herangehensweisen? Kann man sie vereinen, wenn sie aneinanderstoßen?
JR Das ist genau die Frage, an der man jetzt gemeinsam mit vielen Leuten arbeiten müsste. Keiner hat darauf bisher eine Antwort. Wir experimentieren gerade mit einem provokanten Projekt namens »Bundeswerkstatt«. Es geht von der Überlegung aus, dass es einerseits den Bundestag gibt, wo die Entscheidungen getroffen werden, und den Bundesrat, der sie bestätigt. Aber wo werden die Konzepte entwickelt? Dafür bräuchten wir eine dritte Kammer, zum Beispiel die Bundeswerkstatt. Dort arbeiten Bürgerinnen und Bürger die Gesetzesinitiativen und Zukunftsvisionen in offenen, transparenten Prozessen aus. Die Schwierigkeit ist, dass wir mit solchen Vorschlägen kein Gehör finden, solange die einzelnen nicht bereits eine Erfahrung mit einem kollaborativen Prozess gemacht haben. Wenn du nicht weißt, wie sich das körperlich anfühlt, kannst du nur schwer verstehen, wovon wir überhaupt sprechen.
BJ Du hast vorhin erwähnt, dass in den Gruppen ein gewisser Geist, eine Gruppenintelligenz entsteht. Gerade deswegen kann ich mir nicht vorstellen, solche Methoden auf eine riesige Menge von Menschen zu übertragen. Aber man könnte möglichst viele Orte schaffen, wo Menschen solche Erfahrungen machen und diese Erfahrungen in ihre alten Strukturen mitnehmen, um sie von innen heraus zu ändern. In der Folge des Kongresses mit den Migrantinnen und Migranten habe ich erlebt, dass das funktioniert. Ein Versuch in diese Richtung sind auch die Zukunftswerkstätten, die in manchen Parteien jetzt erprobt werden.
JR Die SPD macht seit letztem Herbst Zukunftswerkstätten. Leider sind die Inhalte und die Vorgehensweise dabei schon sehr stark vorgegeben. Da heißt es: Nun macht mal, entwickelt mal – aber kaum etwas von den Ideen wird durch die Mühlen der parlamentarischen Demokratie hindurch den Weg in die Wirklichkeit finden.
AW Silke Helfrich hat diese Problematik kürzlich auf ihrem fantastischen Blog zu Gemeingütern (www.commonsblog.de) auf den Punkt gebracht. Partizipation bedeutet in unserer heutigen Praxis höchstens »mit-machen«, aber es bedeutet nicht »selbst machen«. Lokale Selbstermächtigungsprozesse kann ich mir gut als kollaboratives Gestalten von Gemeingütern, von Allmenden, vorstellen. Die Menschen spielen dabei nicht nur die Rolle der Nutzer einer Infrastruktur oder eines Orts, sondern werden Teil eines Systems, zu dem auch die physikalischen Gegebenheiten gehören. Das widerspricht freilich dem bisher üblichen politischen oder planerischen Denken, in dem das Soziale und die Umwelt immer gespalten bleiben. Selbstermächtigungsprozesse hingegen leben davon, dass sich die Beteiligten weigern, in zwei Wirklichkeiten aufgeteilt zu werden: in die körperliche, wirkliche, und die der Werte und der Planungen – in die Wirklichkeit einer Landschaft, in der man beheimatet ist, und die der »Arbeitsplätze«, welche aber diese Landschaft und das Heimaterleben zerstören. Nur wenn die Realität eines Raums, also die Gänze der darin gelebten Leben, in jeden Entscheidungsschritt einfließt, gelingt es, eine Identität zu finden.
JR Ja, wir partizipieren nicht nur mit Menschen, sondern gerade auch mit den Umwelten, in denen diese Menschen sich bewegen. In der Arbeit unseres Instituts verwenden wir in letzter Zeit gerne den aus der Gruppenpsychologie abgeleiteten Begriff »Feld«, um solche Zusammenhänge aufzuzeigen. Auf dem Weg zu einer guten Planung müssen wir uns mitten ins Geschehen wagen, müssen mit den Bürgerinnen und Bürgern den Ort mit all seinen Geschichten und Beziehungen, die in ihm wirken, direkt erfahren. Das fühlt sich dann tatsächlich so an, als tauche man in ein Feld ein, und wenn man wieder auftaucht, haben sich der Ort verändert und die Teilnehmer auch. Ich mache immer wieder die Erfahrung, dass, wenn alle Beteiligten sich wirklich auf diese Erfahrung im Feld einlassen, keine formalen Abstimmungen, bei der die Mehrheit die Minderheit übertrumpft, notwendig sind.
BJ Bei dem Kongress mit den Migrantinnen und Migranten habe ich es genau so erlebt, dass wir, je länger wir zusammengearbeitet haben, tatsächlich kaum noch Abstimmungen gebraucht haben. Irgendwann war klar: Das ist der Punkt, und alle haben es begriffen.
Sobald sich Menschen selbst ermächtigen und etwas Kon­struktives tun, gibt es auch kein feindseliges Gegeneinander, insofern muss auch gegenüber einer Partei keine Front aufgebaut werden. Deshalb sehe ich die Problematik, die Andreas anspricht, nicht so schwarzweiß. Die Welt der Parteien ist ja nicht hermetisch in sich abgeschlossen, sondern verändert sich mit den Menschen.
Auf lokaler oder kommunaler Ebene kann ich mir gut vorstellen, dass sich solche kollaborativen Herangehensweisen durchsetzen. Aber Parteien sind auch Weltanschauungsgemeinschaften, was ihre Entscheidungen bei großen Fragen beeinflusst. Bei kommunalen Prozessen kommt das weniger zum Tragen.
AW Ja, aber wir wollen nicht nur unseren Kiez aufräumen, sondern all das findet vor dem Hintergrund statt, dass bestimmte fatale Entwicklungen den natürlichen und zivilisatorischen Zusammenhalt bedrohen. Das Jahr 2010, das die Umkehr des Rückgangs der Biodiversität in Europa bringen sollte, ist ganz sang- und klanglos verflossen, selbstverständlich geht das Artensterben weiter. Das klassisch-hierarchische System frisst unseren Grund und Boden, und die Zeit läuft weg. Wie optimistisch seid ihr, dass wir das Getriebe rechtzeitig einen Gang runterschalten können? Brauchen wir dafür nicht mehr Dynamik in allen Wandlungsprozessen?
JR Die Dynamik kommt. Aus unseren Prozessen kenne ich Krisenphasen, in denen sich Druck durch soviel Komplexität, unterschiedliche Interessen, Meinungen, Gefühle, Stimmungen und vieles mehr aufbaut. Das führt oft auf einen Krisenpunkt hin. Die Krise ist eigentlich der Moment der Entscheidung. Und danach öffnet es sich wieder – das ist das Auftauchen, die Emergenz.
BJ Aber diese Dynamik und dieser Druck bauen sich nicht nur auf, indem die Probleme immer größer werden, sondern auch, indem die Menschen zu neuen Lebensformen finden, so dass irgendwann jeder Repräsentant und jede Interessensvertretungsebene merkt: Aha, das ist es, was die Leute hier alle wollen.
JR Eine Krise kann auch eine gute Zeit sein. Letztlich sind auch persönliche Krisen Phasen, in denen man sehr intensiv lebt, auch sehr aufmerksam und bewusst lebt. Auf diese Krisen-Qualitäten möchte ich mich gerne fokussieren und sagen: Lasst uns die Krise so richtig feiern, voll in unsere Kreativität und in unsere Potenziale gehen, zeigen, was wir drauf haben, was wir können, was für Visio­nen wir haben, und dann ein Feuerwerk von Ideen und Lösungen abbrennen – und eine davon wird vielleicht eine neue, positive Zukunft. Das ist die beste Chance, die wir haben.
AW Das ist ein schönes Schlusswort. Durch eure Argumente und eure Erfahrungen gehe ich optimistischer aus dieser Runde heraus. Herzlichen Dank für das Gespräch. 


Bettina Jarasch (42), Redakteurin, studierte Philosophie, Politik- und ­Literaturwissenschaften an der FU Berlin; von 2000 bis 2009 tätig als poli­tische Referentin in der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen. Heute ist sie Vorstandsmitglied der Grünen in Berlin und arbeitet als freie Autorin und Projektberaterin an der Schnittstelle von Politik und Zivilgesellschaft.
http://bettina-jarasch.de

Jascha Rohr (34) studierte historischen Musikinstrumentenbau in ­London sowie Philosophie und Soziologie in London, Trier und Oldenburg. 2002 gründete er die Permakultur-Akademie, die er bis 2008 leitete. Im Jahr 2008 war er Aufsichtsrat der self eG (HUB Berlin) und gründete mit Sonja Hörster das Insitut für Partizipatives Gestalten.
www.partizipativ-gestalten.de, www.bundeswerkstatt.de

Andreas Weber (43) studierte Biologie und Philosophie in Berlin, Freiburg, Hamburg und Paris. Er schreibt unter anderem für das Greenpeace ­Magazin, Geo, die ZEIT und Oya. Nach den Büchern »Alles fühlt« und »Biokapital« ­erscheint von ihm im März 2011 »Mehr Matsch. Kinder brauchen Natur«. Er lebt mit seiner Familie in Berlin und Varese, Ligurien.
www.beschreiber.de, www.alles-fuehlt.de

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