Anthropologin Saskia Walentowitz verbrachte in den 1990er Jahren viel Zeit mit den Tuareg im Norden Nigers, macht auch noch heute auf deren selbstbestimmte Subsistenzkultur aufmerksam und erzählte Lara Mallien davon.von Lara Mallien, Saskia Walentowitz, erschienen in Ausgabe #63/2021
Lara Mallien:Saskia, du bist schon als junge Frau zum Studium nach Frankreich gegangen. Was hat dich dorthin gezogen? Saskia Walentowitz: Schon in meiner Jugend hatte ich ein Herz für Frankreich. Mein Großvater war während seiner Kriegs-gefangenschaft im Beaujolais. Er baute in dieser Zeit auf einem Weingut Trauben an und wurde sehr gut behandelt. In seiner Weinlaube erzählte er mir viel davon und sprach mit mir bereits als Kind Französisch. Meine Kindheit habe ich in Friesland in der Nähe von Jever verbracht. Mit 17 Jahren machten mich ältere Kusinen auf die Bücher der Matriarchatsforscherin Heide Göttner-Abendroth aufmerksam. Seitdem wollte ich mehr über frauenzentrierte Gesellschaften wissen – und nach Frankreich gehen. Also studierte ich 1987 in Paris zunächst Kunstgeschichte, Archäologie und Frühgeschichte. Danach promovierte ich dort in Sozialanthropologie.
Wie bist du schließlich dazu gekommen, über die Tuareg zu forschen? Anfang der 1990er Jahre gab es eine Rebellion der Tuareg – sie fordern seit Jahrzehnten immer wieder mehr Land- und Selbstbestimmungsrechte. Mit Hilfe der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich wurde dieser Aufstand in Mali und Niger beendet. Genau in den Weidegebieten der Tuareg im Niger gibt es reiche Uranvorkommen, aus denen Frankreich den Bedarf seiner Atomkraftwerke deckt. Der Urantagebau ist für die Umwelt, Lebensweise und Gesundheit der Nomaden und ihrer Tiere verheerend. In Frankreich ist das ein Tabuthema, ich hörte davon erst von befreundeten Tuareg, die in Paris im Exil lebten. Mein Interesse wuchs, und ich begann Anthropologie, Afrikanistik und Berberlinguistik zu studieren. Meine Doktorarbeit schrieb ich darüber, wie bei den Tuareg, die ja eine frauenzentrierte Gesellschaft sind, Mutterschaft gelebt wird. Frauen haben dort eine hohe soziale Stellung. Ich verbrachte insgesamt drei Jahre mit ihnen, davon zweimal ein ganzes Jahr. Ich lebte dort in einer muslimisch geprägten Gemeinschaft – einer historischen Elite –, die auch schon in der Kolonialzeit Widerstandsbewegungen angeführt hatte. Jüngere Nachkommen dieser Gemeinschaft habe ich dann während der Rebellionszeit in Paris kennengelernt.
Wie wurdest du dort als Frau behandelt? Ich hatte eine großartige Zeit, denn ich wurde geachtet und rundherum verwöhnt. Die Männer begegneten mir mit einem horizontalen, gleichwürdigen Blick, in dem kein Machtgefälle spürbar war. Als ich dort einmal meinen Hof fegte, nahm ein Mann mir sofort den Besen aus der Hand und erledigte das für mich. Ich verbrachte ganze Tage mit den Frauen oben auf ihren Nomadenbetten. Die Männer sind immer nur zu Gast und sitzen unten auf dem Boden. Ich lernte so, wie Frauen im kühlen Schatten ihrer Zelte über die Kunst der Gastfreundschaft das gesamte soziale Leben gestalten. Frauen verbinden und vermitteln zwischen den Geschlechtern, den sozialen Schichten und den Kulturen.
Die folgende Geschichte kann das vielleicht illustrieren: Zum Abendbrot gibt es dort in der Regel Hirsebrei mit Kamel- oder Kuhmilch. Ich tunkte den Löffel erst in den Brei und dann in die warme Milch. Da sagte eine junge Tuareg-Frau zu mir: »Aha, du isst auch lieber wie die Männer, genau wie ich.« Die Männer gießen ihre Milch über den Brei, ohne beides zu vermischen, das dürfen nur die Frauen. Hirse ist ein männliches Nahrungsmittel, Milch ist als weibliches Lebensmittel heilig. Hirse kommt von weither, und für die Reisen sind eher die Männer zuständig. Die Tiere gehören zur Hausgemeinschaft der Frauen. Nur die Frauen haben die Fähigkeit, beide Nahrungsmittel zusammenzubringen.
So gibt es sehr viele Details, mit denen Frauen ihre Macht kommunizieren. Wenn sie menstruieren, haben sie sieben Tage lang eine bestimmte Flechtfrisur. Damit signalisieren sie unter anderem den Männern, dass sie in dieser Zeit keine nächtlichen Besuche wünschen. Tuareg-Frauen, auch verheiratete, haben viel sexuelle Freiheit.
Welche Rolle spielt ein Lebenspartner im Alltag der Frauen? Generell wohnt eine Frau in ihrem eigenen Zelt und mit ihren eigenen Tieren im Camp ihres Ehemanns. Wenn sie aber ein Kind bekommt, geht sie für die Geburt zurück ins Zeltlager ihrer Mutter. Dort wird sie von ihren Brüdern umsorgt. Ein Bruder oder Mutterbruder führt auch das rituelle Opfer durch, das sieben Tage nach der Geburt ansteht. Dann wird ein Schaf geschlachtet, und in dem Moment, in dem ihm die Kehle durchgeschnitten wird, spricht der Bruder – nicht der Kindsvater wie in anderen muslimischen Gesellschaften – den Vornamen des Kindes aus, das ist seine »Taufe«.
Früher, als die Tuareg noch reich an Tierherden waren, hatte die Frau gegenüber dem Ehepartner keinerlei wirtschaftliche Abhängigkeit. Alles Wirtschaftliche regelten sie mit ihren Brüdern – das heißt mit Männern, mit denen sie keinen Sex hatten. »Wenn du dich mit deinem Liebsten streitest, hast du deine eigene ›Streitmilch‹ – deine Existenz ist nicht in Gefahr«, sagten mir die Frauen. Die Bruder-Schwester- und auch die Mutter-Kind--Beziehung hat viel mit der Allmendewirtschaft zu tun, der gemeinschaftlichen Bewirtschaftung von Weideland, dem Management von Wasser und anderen Ressourcen. Selbst dort, wo islamisches Erbrecht herrscht, das besagt, dass Frauen nur halb so viel erben wie Männer, lassen die Männer in der Praxis ihre geerbten Tiere bei ihren Schwestern in Obhut.
Wenn eine Frau krank ist, oder ein Mitglied der mütterlichen Verwandtschaft Pflege braucht, geht sie ebenfalls mit ihrem Zelt zu ihrer Familie zurück. Der Mann sitzt dann buchstäblich im Sand und muss zusehen, wie er bei seinen Verwandten unterkommt. Im Heim der Frau ist er nur zu Besuch. Die Frau kommt auch nicht so einfach zurück in sein Camp, er muss erst wieder um sie werben. Dafür schickt er ihr jede Menge Geschenke. Früher waren das säckeweise Tabak, Hirse, Zucker, Tee, Sandalen, Parfums, Stoffe. Sie würdigt all dies kaum eines Blicks, um zu zeigen, dass sie selbst nichts von ihrem Ehemann braucht, sie hat ja alles. Deshalb kann sie es großzügig unter den Nachbarinnen verschenken und überlässt es den Schmiedefrauen – denjenigen, die nicht nur diverse Lederarbeiten anfertigen, sondern auch den Ruf der Frauen und Männer schmieden –, ihr und der Gemeinschaft von der Qualität der Geschenke zu berichten. Nach jeder Geburt, nach jeder längeren Krankheit, nach jedem längeren Besuch bei der mütterlichen Familie der Frau müssen die Männer schlichtweg die Rituale der Hochzeit wiederholen. Um zu signalisieren, dass eine Frau bereit ist, zurückzukommen, lässt sie sich die Haare mit einer Brautfrisur flechten und kleidet sich wie eine Braut.
Ich muss betonen, dass ich alles, was ich erzähle, vor zwanzig Jahren so erlebt habe. Inzwischen hat sich dort sicher viel geändert. Damals gab es keinen Strom, kein fließendes Wasser, kein Fernsehen. Heute haben die Menschen dort Handys und schauen den ganzen Tag arabische Fernsehserien. Aber die frauenzentrierten Werte gibt es sicherlich noch.
Hat deine Zeit bei den Tuareg deine Perspektive auf das Muttersein verändert? Nicht wirklich, ich lebe ja in einer ganz anderen Gesellschaft. Mein Mann ist Franzose, der schickt mir nach einer Grippe keine Karawanen voller Geschenke. Und meine Brüder arbeiten auch nicht für mich. Aber an meinen Sohn Léonard gebe ich die Werte weiter, die ich bei den Tuareg erfahren habe. Ich erzähle ihm auch viel von dort, und wir hatten in Paris auch schon Besuch aus dem Niger. Leider konnte ich ihn bisher nicht dorthin mitnehmen, denn aufgrund des rechtsradikalen Islams ist es im Niger inzwischen zu gefährlich. Als Europäerin bin ich eine Zielscheibe für Terroristen. Ich möchte die Menschen vor Ort durch meine Anwesenheit nicht in Gefahr bringen.
Gibt es traditionelle Entscheidungsstrukturen bei den Tuareg, und welche Rolle spielen darin die Männer und welche die Frauen? Als die Tuareg noch selbst über sich bestimmen konnten, hielten sowohl die Frauen als auch die Männer Ratsversammlungen. Die Kommunikation der Entscheidung nach außen übernahm dann ein Mann. Die französischen Kolonialherren betrachteten diesen Vertreter fälschlicherweise als Chef. Einmal wurde ein solcher Mann zu einer Parade des französischen Militärs eingeladen. Es hieß, er sollte in der Kleidung erscheinen, die seiner Stellung entsprach. Da kam er in ganz schlichten, unverzierten Sachen und meinte, genau das entspräche seinem Titel. Er achtet darauf, dass Entscheidungen umgesetzt werden, dass Ressourcen gerecht verteilt und die Allmenden geschützt werden, dass die Landrechte respektiert werden. Dies ist eine dienende, keine herrschende Rolle. Er ist Schiedsrichter, aber eher in dem Sinn, dass bereits beim Aufflammen des kleinsten Konflikts miteinander gesprochen wird. Grundsätzlich entscheiden die Männer nichts ohne den Segen der Frauen. Die Frauen brauchen keine Machtpositionen, weil sie die Macht sind. Das Wort für den Grundpfeiler eines Zelts ist ein Synonym für »Frau«.
Wie drückt sich der soziale Status einer Tuareg-Familie aus? Die angesehensten Familien sind nicht die reichsten, sondern die großzügigsten. Wer in ein Zelt zu Besuch kommt, wird aus einer hölzernen Schale mit Hirsebrei bewirtet. Je älter so eine Schale aussieht und je mehr Flickstellen und Gebrauchsspuren sie hat, desto wertvoller wird sie, denn sie dokumentiert die Gastfreundschaft einer Familie. Es gibt wunderbare solche Schalen, sie werden immer wieder liebevoll mit Intarsien aus Messing repariert, die Reparaturstellen werden dadurch betont. Die Schale wird vor das Zelt gehängt, und es kann auch sein, dass die ärmste Familie die am reichsten verzierte besitzt.
Wenn ein Mann etwas Unangemessenes tut, dichten die Frauen ein Spottlied auf ihn. Diese Lieder klingen sehr dynamisch, und die Männer wollen um jeden Preis vermeiden, dass sie so im ganzen Ort besungen werden. Ein Mann, der nicht das Ansehen der Frauen hat, verliert sein Gesicht. Würde er körperliche Gewalt gegen eine Frau ausüben, wäre er sozial tot. Erleidet eine Frau eine Frühgeburt, wird vermutet, dass der Mann sie verletzt oder nicht gut umsorgt hat. In patriarchalen Kulturen in Afrika ist es genau umgekehrt. Die Tuareg stellen sich vor, das Kind drehe während der Wehen in der Gebärmutter sieben Runden. Die Gebärmutter ist wie das Land, in dem das Kind nomadisiert. Eine Frühgeburt wird örtlich gedeutet, dann kommt das Kind nicht am richtigen Ort zur Welt. Es kann, so wird angenommen, seinen Platz in der Gesellschaft nicht einnehmen, weil der Vater sich seiner Mutter gegenüber verantwortungslos verhalten hat.
Wie sehr leben die Tuareg heute noch das Nomadentum? Ich denke, dass sie mittlerweile fast alle sesshaft geworden sind. Das liegt an der Verbauung ihrer Wanderwege, sei es durch Landwirtschaft, den Uranabbau oder das Einrichten von für sie -unzugänglichen Naturschutzgebieten und Nationalparks, an Dürrekatastrophen und auch an internationalen Entwicklungsprojekten, die die Sesshaftigkeit gefördert haben. Die meisten, die heute noch Tiere auf Weiden treiben, tun das im Auftrag reicher Städter. Sie haben inzwischen dort Dörfer und Städte errichtet, wo sie früher ihre Winterlager hatten. Das brachte aber Probleme mit sich, denn im Sommer, in der Regenzeit, werden ihre jetzigen Wohnorte oft überschwemmt. In der Stadt Abalak sind deshalb schon viele Häuser eingestürzt.
Ursprünglich zogen sie in der Regenzeit, wenn sich die Täler mit Wasser füllten, gen Norden und kamen erst zurück, wenn die temporären Ressourcen dort oben aufgebraucht waren. Erst dann nutzten sie die neugefüllten Wasserspeicher und Brunnen in den südlichen Weidegebieten.
Noch heute bestimmt das Nomadentum aber die Werte der Tuareg. Dazu gehören Flexibilität und das Bewusstsein für Komplementarität und Interdependenz – die Nomaden und die Sesshaften hängen voneinander ab. Die nördliche Sahelzone kann nur von mobilen Menschen bewohnt werden. Die Transhumanz, die Wanderweidewirtschaft, imitiert die natürliche Herdenbewegung, nur so können sich Graslandschaften regenerieren. Ihre Kultur wie ihre Umwelt speisen sich durch Wandel.
Das Grundnahrungsmittel Hirse erhielten die Tuareg von den sesshaften Nachbarn im Süden. Sie handelten Hirse mit Salz aus dem Norden und Datteln aus den Oasen. Die Bauern ließen die Kamele auf ihren abgeernteten Feldern weiden und diese dabei düngen. Nomaden surfen im Jahreskreislauf dank der Zusammenarbeit mit anderen Subsistenzwirtschaften auf den verfügbaren Wasserressourcen und der Vegetationsfolge der Pflanzenwelt. Auch ihre Esskultur spiegelt diese Symbiosen. Die Frauen der Karawanenhändler haben die Trekking-Nahrung erfunden: Sie lösen Kugeln aus rohem Hirsemehl, Trockenkäse und Dattelzucker in Wasser und Dickmilch auf und machen daraus einen leicht fermentierten, sehr nahrhaften und durstlöschenden Trunk. Ich mochte ihn immer sehr gerne, denn er erinnerte mich an den Buttermilchbrei mit Zwieback und Rosinen, den ich früher bei meiner friesischen Großmutter gegessen habe.
Das Prinzip der gegenseitigen Abhängigkeit zeigt sich auch in der Kunst. Ich habe einmal einen Schmied gebeten, mir ein Armband mit typischen Tuareg-Symbolen als Anhänger zu fertigen. Er fügte ganz selbstverständlich auch Symbole der Haussa-Kultur ein – nur die eigenen Symbole zu verwenden, wäre ihm wahrscheinlich zu einseitig vorgekommen. Die Kolonisatoren haben das nie verstanden und die unterschiedlichen Gruppen gegeneinander ausgespielt: Sesshafte gegen Nomaden, Hell- gegen Dunkelhäutige. Die Nomaden stellten durch ihre mobile Lebensweise immer wieder Verbindungen her, indem sie ein Mosaik von Biotopen und Lebensweisen miteinander vernetzten: die Wüste, die Oasen, die Flusstäler, Tiere, Bäume, Feldfrüchte … Ihre mobile Weide- und Handelswirtschaft hat das Land erst bewohnbar und fruchtbar gemacht. Hirten hat es im nördlichen Afrika und der Sahara schon lange vor dem Ackerbau gegeben.
Was macht das Nomadentum der Tuareg zu einer Allmendewirtschaft? Nomaden besitzen das Land nicht, sie pflegen und sie nutzen es, sind selbstverständlicher Teil einer Landschaft. Die Kolonisatoren gaben Landrechte nur an Menschen aus, die dauerhaft Ackerbau betrieben, dabei war den Tuareg ein exklusiver Anspruch auf Land völlig fremd. Brunnen wurden etwa früher nur in Grenzgebieten gebaut, an einem Schnittpunkt der Wasser- und Weiderechte unterschiedlicher Gruppen. So konnte das Brunnenwasser niemand ausschließlich für sich beanspruchen. Seit Jahrzehnten lassen Bürokraten aus der Entwicklungshilfe und reiche Städter die Brunnen mitten in den fruchtbarsten Weidegebieten bauen und zerstören dabei die sozialen Gefüge und natürlichen Gleichgewichte. Die Zerstörung des Nomadentums führt so zu ökologischer und sozialer Verwüstung, was sich wiederum auf die ganze Welt negativ auswirkt. Wer keine Existenzgrundlage vor Ort mehr hat, handelt irgendwann mit Waffen oder Drogen in der Wüste – vom Klimawandel ganz zu schweigen!
Gibt es auch Entwicklungen, die dem entgegenwirken? In meiner Zeit bei den Tuareg traf ich auf Manfred Kriegl, einen unkonventionellen Leiter der damaligen »Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit« (GTZ) in Tahoua. Er hat dort altes agro-ökologisches Wissen aus der Region reaktiviert und durch Erosionsschutz viele Böden regeneriert. Durch seine Vermittlung führte ich für die GTZ eine Studie zur Frage durch, auf welchem Weg der Frieden im Norden Nigers am besten gefördert werden könnte. Dazu wollte ich die Menschen vor Ort befragen und bin in jenes Gebiet gefahren, wo die ehemaligen Rebellen entwaffnet werden sollten. Dazu mietete ich ironischerweise einen Jeep von den Tuareg, den die Rebellen früher einmal von der GTZ gestohlen hatten. Sie erzählten mir von den Oasen-Waldgärten, die sie im Aïr-Gebirge schätzengelernt hatten, denn sie halfen ihnen dort zu überleben. Solche Gärten versuchten sie jetzt auch bei sich zu Hause im Azawagh-Becken anzulegen, sie hatten dafür aber nicht genug Wissen. Im Aïr gab es ehemalige Rebellen, die zwar das Wissen, nicht aber die Mittel hatten, einen eigenen Waldgarten anzulegen. Ich schlug in meiner Studie vor, ebendiesen Wissens-transfer zu unterstützen. Die GTZ wollte dann aber doch lieber Schulen und Krankenhäuser bauen. So gründete ich mit ein paar Tuareg vor Ort selbst eine Organisation, um dieses Projekt umzusetzen. Sie heißt »Nourriterre« und existiert schon seit über 20 Jahren.
Auf diese Weise sind schon unzählige Bäume gepflanzt und ganze Weidegebiete regeneriert worden. Die Menschen erhöhen damit auch ihren Anspruch auf Landrechte, denn nur wer Land dauerhaft bewirtschaftet, darf es besitzen. Die Waldgärten vertragen sich gut mit Tierhaltung. Aus europäischer Perspektive würde man heute sagen, sie werden nach Permakultur-Prinzipien angelegt, die ja von den traditionellen Waldgärten inspiriert wurden. Hier fasst auch wieder die Interdependenz, denn wir haben auch Wissenstransfer mit Hirsebauern organisiert. Sie lehrten uns diverse Techniken – so werden etwa vor der Regenzeit Löcher gegraben und mit Stroh und Dung gefüllt; das zieht dann Termiten an, und es entstehen Wasserspeicher mit Kompost, in denen Hirse und Sorghum gepflanzt werden. Es gibt auch einen bestimmten Baum, den Zahnbürstenbaum (Salavadora persica), der mit einem Pilzmyzel in Symbiose lebt. Die Tuareg-Gärtner im Aïr-Gebirge haben entdeckt, dass unter seinen Zweigen ein sehr fruchtbarer Humus entsteht. Von diesem Wissen konnten dann wiederum die Haussa-Bauern profitieren. Selbstverständlich ist die Arbeit von Nourriterre nur ein Tropfen auf den heißen Stein, aber es ist ein Anfang. Ich bin immer noch regelmäßig mit Menschen vor Ort im Gespräch. Zur Zeit leiden sie unter den explodierenden Hirse-preisen in der Coronakrise. Hunger ist im Niger ein Dauer-zustand, der durch Getreidespekulation noch gefördert wird.
Wie mag es wohl mit den Tuareg weitergehen? Sie praktizierten in der Sahara und der heutigen Sahelzone eine Lebensweise, die sich seit dem Neolithikum bewährt hat. So konnten sie unwirtliche Gebiete bewohnen. Obwohl die Berber, zu denen die Tuareg zählen, seit 2000 Jahren kolonialisiert werden, sprechen sie bis heute ihre Sprache. Sie leben in extremen Umwelten und haben durch Krisen gelernt, immer widerstandsfähiger zu werden. Ich denke, dies sind Menschen, die besser durch den Klimawandel kommen als wir – sie werden sich anpassen und überleben. //
Mehr über die Tuareg lesen
Saskia Walentowitz: »Die süße Milch der Unabhängigkeit. Wirtschaftlicher und sozialer Wandel im Leben der Tuareg-Frauen«, in: Die Tuareg. Frauen-Bilder aus der Sahara. Ein Bilderlesebuch zur Ausstel-lung im Schloss Goldegg, Land Salzburg, 2000; »Women of great weight. Fatness, reproduction and gender dynamics in Tuareg so-ciety«, in: S. Tremayne, M. Unnithan-Kumar u. a. (Hrsg.): Fatness and the Maternal Body, Oxford und New York, Berghahn Books, 2011
Clare Oxby und Saskia Walentowitz: »Uranium Mining in Niger. Undermining Pastoralist Lifeworlds«, in: Thomas Niederberger u. a. (Hrsg.): The Open Cut. Mining, Transnational Corporations and Local Populations. Aktionsethnologie, Vol. 2. Zürich, LIT Verlag, 2016
Christine de Grancy lebt und arbeitet als Fotografin in Wien. Einige ihrer Arbeiten sind in den westafrikanischen Ländern entstanden und sind ausgestellt worden (Museum moderner Kunst Wien, 1987; 5th Festival-Visa L’Image Perpignan, 1993; Schloss Goldegg, 2000, siehe erster Buchtipp). Derzeit arbeitet sie an ihrem Lebenswerk, das zu ihrem 80. Geburtstag 2022 veröffentlicht wird.
Saskia Walentowitz (52) ist freischaffende Sozialanthropologin. Sie vermittelt außerdem kulinarische Landschaftsökologie in ihrer Kochschule www.forestogardens.net. Seit September 2020 koordiniert sie die freie Schule »L’Autre Collège« für 9- bis 15-Jährige in Paris (www.lautrecollege.fr), die auch ihr Sohn besucht.