Titelthema

Wider die Vereinfachung

Über kartografische Kunst, körperlich eingeschriebene ­Landschaften und die experimentelle Untersuchung des Sehens von Landschaft unterhielt sich Oya-Redakteurin Maria König mit der Künstlerin Angela Melitopoulos.von Maria König, Angela Melitopoulos, erschienen in Ausgabe #63/2021
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© Kerstin Schroedinger

Maria König: In deiner künstlerischen Arbeit gehst du der Frage nach, wie Menschen auf die Erdoberfläche und Landschaften schauen, wie sie diese wahrnehmen und visualisieren und wie verschiedene Formen von Kartografie unser Denken und unsere Wahrnehmung beeinflussen. Du arbeitest mit Videoessays, Installationen, Dokumentationen und Klangstücken. Wie genau gehst du dabei vor? 
Angela Melitopoulos: Meine aktuelle Arbeit ist vor allem inspiriert durch die Zusammenarbeit mit der Anthro-pologin Barbara Glowczewski, die seit den 1970er Jahren bei den Warlpiri – einer Gruppe australischer Aborigines – lebt und forscht; außerdem von den Ideen des Philosophen und Psychotherapeuten Félix Guattari zur -»Nomadologie«. Mein Interesse für Kartografien ist entstanden, weil ich viel unterwegs bin. Schon meine Familie machte mit Kameras beständig Aufnahmen von den verschiedenen Orten unserer Reisen. Diese Erinnerungsarbeit wurde auch Teil meiner künst-lerischen Tätigkeit. Ich arbeite prozessorientiert mit Film, Musik und Montage. Dabei ist die Aufnahmesituation mit Kameras und anderen Aufnahmegeräten selbst ein künstlerischer Forschungsprozess. Wenn ich zu filmen beginne, merke ich, wie ich mich im Raum oder in der Landschaft bewege, wie sich mit jeder Fokusveränderung der Raumeindruck selbst verändert. Der Raum ist nichts Statisches, sondern sehr eng an die körperliche Wahrnehmung, das Gedächtnis und die Bewegung gebunden. Ich spreche von cine-somatischer Kartografie.


Du lässt in deiner aktuellen Arbeit zu, dass dein Körper mit der Landschaft interagiert und daraus der Impuls entsteht, wohin du deine Kamera richtest?  
Genau, in meinem aktuellen Projekt, das mit Landschaften zu tun hat, geht es beim Filmen darum, zu verstehen, warum ich das Begehren entwickle, etwas zu sehen, zu suchen oder sichtbar zu machen. Der folgende Teil ist dann die Montage, eine Art analytische Betrachtung, in der ich experimentiere und neu bewerte. Zunächst sichte ich das vorhandene Material: Was ist da in dem Moment, in dem ich es anschaue? Wie wird dieses Verhältnis zu einer Art von Grund für eine Erzählung oder eine Idee? Dann nutze ich Möglichkeiten, in das Material einzugreifen und es zu verformen, indem ich etwa Zeit und Bildabläufe verändere. Dabei arbeite ich immer mit mehreren Bildern gleichzeitig. Das bin nicht nur ich und das somatische Kamera-Bild, sondern dieses Nebeneinander. Das Bild und noch ein Bild und noch ein Bild und dann die Relationen zwischen den Bildern. Daraus entsteht ein komplexes Gefüge – in dem die Dinge multi-dimensional ineinander verschränkt sind. Das kann ich vorher nicht bestimmen und nicht sehen. Es geht mir dabei auch darum, eine Vorstellung von einem Ort nicht einfach zu wiederholen, sondern im Gegenteil die Vorstellungen neu anzusehen und sie vielleicht auch hinter mir zu lassen. 


Unser europäischer Blick auf Landschaften ist geprägt durch Landkarten und Satellitenbilder. Deine Arbeit zu subjektiven Landschaften macht dagegen eine andere Begegnung mit Orten und Landschaften möglich.  
Ja, das ist die grundsätzliche Frage meiner Arbeit. Welche Werkzeuge kann ich mir aneignen, um ein Denken herzustellen, das es mir erlaubt, Sachverhalte neu oder prozesshaft zu denken? Wie sehe ich? Was weiß ich eigentlich? Was verstehe ich von dem, der mir da gegenübersteht und mir von einem Ort oder einem Ereignis erzählt? Was passiert da in mir? Welche Art von Bildhaftigkeit entsteht da in mir selbst, und wie könnte ich diese bearbeiten? Meine Australienreise war dabei ein besonderer Punkt innerhalb meiner Arbeit.


Was hast du in Australien gemacht und erlebt?  
Ich wurde von der Australian National University für zwei Monate zu einer Residenz eingeladen und habe für mein Filmprojekt »Matri Linear B« die aborigenen »Art Centers« im nördlichen Teil Australiens besucht. Diese Kunstzentren erfüllen in aborigenen Siedlungen eine wichtige Funktion. Sie waren besonders zu Beginn der 1960er Jahre egalitär organisiert, das heißt, Entscheidungen wurden im Konsens getroffen. Heute sind es oft aborigene Frauen, die dort kartografische Malereien machen. Einerseits verdienen sie mit diesen Bildern Geld, das in die Gemeinschaften zurückverteilt werden kann; andererseits wurden diese Bilder in den 1970er und 1980er Jahren benutzt, um Landrechte zu klären. Aborigines konnten über ihre Malerei und Songlines ihre Zugehörigkeit zu bestimmten Landschaften darstellen, und erreichten so, dass ihnen in Gerichtsverfahren Landrechte zugesprochen wurden.


Die Bilder waren wichtig, weil es keine schriftlichen Aufzeichnungen über Landzugehörigkeit gibt?  
Ja, sie hatten vorher keine Aufzeichnungen oder Landregister, sondern Gesang, Tanz und kollektive Erzähltraditionen. Das ist ein sehr altes kulturelles Gedächtnis, das im Erzählen immer wieder neu aktualisiert wird, jedoch kein schriftliches Gedächtnis. Diese Form des Wissens über das Land, das Wasser oder beispielsweise das Netzwerk der Yamswurzeln sowie die damit verbundene Kommunikation innerhalb der Gruppe reicht in die mythologische Zeit. Die kartografische Malerei hingegen ist erst in den 1960er Jahren als eine Form von Auseinandersetzung mit kolonialer Macht entstanden. Diese wurde auch dafür kritisiert, dass sie eine Form von »falschem« Gedächtnis abliefere, weil das kartografische Gedächtnis bei Ritualen im Erzählen und Sprechen in der Gruppe nicht fixiert wurde. Dabei ist auch relevant, wer zuhören darf. In dieser Kommunikation liegt ursprünglich die Möglichkeit, den Austausch zwischen verschiedenen Gruppen zu ermöglichen und die soziale Organisation in den Regionen als vielschichtiges offenes Netzwerk zu realisieren. Unsere westlich-europäisch geprägte Perspektive auf das Land ist im Vergleich zu diesen Gefügen unterkomplex. Diese Vereinfachung, wenn wir etwas als »Land« oder »Territorium« betrachten, in Frage zu stellen, ist ein Ziel meiner Arbeit. 


Zu diesem komplexen Gefüge aus Erzählungen, Zugehörigkeiten und Begegnungen verschiedener Gruppen gehört auch, dass viele Aborigine-Gruppen früher nomadisch lebten. Wie ist das heute? 
Ich würde eher von teilnomadischen kulturellen Bewegungen sprechen, die mit den Jahreszeiten und dem Nahrungsangebot zu tun hatten. Im Zuge der australischen postkolonialen Politik sind alle Gruppen mittlerweile angesiedelt worden. Um die koloniale und genozidäre Realität in Australien gibt es viele unabgeschlossene Auseinandersetzungen. In Titjikala bin ich mit der Künstlerin Nita Ferguson an die Orte gefahren, die mit ihrer Kindheit zu tun haben und deren Landschaften sie malt. Dort musste ich erleben, dass sie nicht an ihre Kindheitsorte fahren durfte. Ihr Vater war wie viele ein »stockman«, eine Art Zwangsarbeiter auf einer Farm, wo er für wenig Nahrung arbeitete. Bis heute wird den Aborigines der Zugang zu Territorien, die Farmer gepachtet haben, verwehrt. Aktuell gibt es über 33 000 Land-titelforderungen verschiedener Gruppen, die vor den Gerichten verhandelt werden. Dabei geht es nicht um Besitzrechte im eigentlichen Sinn, sondern um das Recht, die eigene Kultur auszuüben und sakrale Orte als Teil der kulturellen Praxis aufzusuchen. In der Realität des post-kolonialen Australiens ist ihre Möglichkeiten, autonom zu leben, längst ausgesetzt. Sie leben teilweise in Siedlungen in den Northern Territories, die nach westlichen Parametern organisiert sind. Für meinen Film interviewte ich auch die australische Feministin Diane Bell, die seit Jahrzehnten die Forderungen nach Landrechten aborigener Frauen unterstützt. Mit ihr habe ich darüber gesprochen, inwieweit die Kolonialisierung Gewalt in die Geschlechterverhältnisse hineingebracht hat. Die weiße, patriarchale und sesshafte Gesellschaft hat im kolonialen Machtgefüge zunächst nur den aborigenen Mann als Träger von Landtiteln anerkannt. Es hat lange gedauert, bis auch die Frauen ihre Rechte an Land und Territorien vor Gericht einklagen konnten.


Die Australienreise ist Teil deines Projekts »Matri Linear B«. Welche Orte spielen darin noch eine Rolle und wie gehören diese zusammen?  
Es geht anfangs um Niederösterreich, weil dort die Fundorte alt- und jungsteinzeitlicher weiblicher Figurinen, wie der Venus von Willendorf, liegen. Im »Dissident Goddesses’ Network« – einem Forschungsprojekt mit österreichischen Archäologinnen, Kulturwissenschaftlerinnen und Künstlerinnen – haben wir in der ersten Phase die etablierten Vorstellungen über das Palaeolithikum hinterfragt, die die menschliche Geschichte als Überlebenskampf gegen die Natur darstellen. Dieser kriegerischen Rahmenerzählung widersprechen beispielsweise auch die Zeichnungen von Tieren und Festen paleolithischer und neolithischer Kulturen in Kreta oder im östlichen Mittelmeerraum. Die Diskussionen mit Archäologinnen und feministischen Wissenschaftshistorikerinnen legen nahe, dass es in Zentraleuropa – zum Beispiel bei den alten Donaukulturen und den frühen neolithischen Kulturen – eine egalitäre soziale Ordnung gegeben hat, die uns verloren gegangen ist.


War der Blick in den eigenen Kulturraum, in dem eine lebensdienliche Beziehung zur Welt verlorengegangen ist, der Ausgangspunkt, von dem aus du dich heute noch existierenden Kulturen zugewandt hast, deren soziale Praktiken die Verbundenheit mit dem Land fördern?  
Genau. Aus den archäologischen Funden lässt sich unsere eigene Geschichte nicht mit Gewissheit erschließen. Wir können auch nicht mit Sicherheit sagen, inwiefern es hier egalitäre Gesellschaften gegeben hat, in denen die Geschlechterverhältnisse, wie wir sie heute haben, nicht existierten oder inwiefern eine Art ökologischen Denkens existierte. Doch möglicherweise lässt sich dieses Wissen in der Überkreuzung mit ethnografischen Studien in bestehenden Kulturen verorten. Daher war es für mich wichtig, mich damit auseinanderzusetzen, wie die Aborigines sich zur Erdoberfläche als sprechender Landschaft in Beziehung setzen. Für den dritten Teil des Projekts ist mein Plan, ins Zomia-Hochland in Yunnan zu reisen, um die matriarchal organisierten Mosuo zu besuchen. Der letzte Ort in dem Projekt ist der Geburtsort meiner Mutter in Oberbayern, den ich aus meiner Kindheit kenne und dessen Landschaft ich körperlich erfahren habe. Die vier Filme über diese Orte möchte ich dann in Verbindung bringen und schauen, ob ich eine Art Linie entwerfen kann, aus der sich ein neuer Zugang zum Sehen und Verstehen von Landschaften und ihren Kosmologien ergibt. Diesen Prozess verstehe ich als autopoetisch. Das heißt, dass der Akt des Erzählens, die Jetztzeit des Erzählens, für die Erzählung relevant wird und der Ort selbst Teil der Erzählung.


Was können wir aus den kulturellen Praktiken, die du erkundest, lernen?  
Es ist eine Sache, Museen und Universitäten an einem Ort zu bauen. Eine ganz andere ist es, mit einer Art von Kulturpraktik innerhalb einer Gruppe den Versuch zu wagen, anhand der sozialen Gefüge und ihres Bezugs zur Landschaft festzustellen, was darin dessen Geschichte, meine eigene Geschichte und die Geschichte der Vorzeit ist. Diese Arbeit bedeutet Konnektivität, das heißt das Potential der Verbindung zu bestimmten Orten herzustellen. Für mich persönlich war und ist es wichtig, mich auf diese Weise mit Orten auseinanderzusetzen.

Meine Familie war von Flucht, Genoziden und unfreiwilligen Migrationsbewegungen betroffen. Meine Großeltern wurden in den 1920er Jahren gewaltsam von der Schwarzmeerküste Kleinasiens nach Griechenland vertrieben, mein Vater kam später als Zwangs-arbeiter in der nationalsozialistischen Zeit nach Deutschland. Die Frage »Was ist passiert?« war lange wichtig für das Finden der Form der Erzählung. Ich musste zuerst verstehen, dass ich eigentlich nicht viel weiß. Kriege sind immer Momente, in denen Informationen und Geschichten gelöscht werden. Die Löschung von Geschichten, Wissen und Informationen ist auch Teil unserer modernen, westlich geprägten Kultur. Im Rahmen meines Projekts begegnete ich zum Beispiel Landwirten, die zunehmend Satellitenbilder nutzen, um die Pflanzen auf ihrem Land beurteilen zu können und ihre Felder mit hochtechnisierten Traktoren zu bestellen. Ich kann mir kaum vorstellen, dass auf diese Weise in der nächsten Generation Bauern noch jemand eine Art memorisches Bild von der Landschaft haben könnte, wie es die jetzigen Generationen vielleicht noch von ihren Eltern überliefert bekommen haben. Umso mehr gilt das für die Menschen, die vor allem in Städten noch weniger Bezug zur Produktion von Nahrung und deren Anbauorten haben. Dieser memorische Bruch betrifft uns sehr stark in der Beziehung, die wir zu unserer Umwelt und zu unserer Umgebung aufbauen. Diese Art des Vergessens gehört zu den Bedingungen unserer gegenwärtigen Gesellschaftsorganisation. In der Hinwendung zu anderen kulturellen Praktiken kann die Möglichkeit entstehen, verstehen zu lernen, was an der Schnittstelle vorpatriarchaler, nicht-national-staatlicher und matrilinearer Kulturen existierte und noch existiert und wie sich andere Lebenszusammenhänge gestalten lassen.


Vielen Dank für das anregende Gespräch! //

Angela Melitopoulos (59) ist international tätige Medienkünstlerin. Sie lehrte bis September 2020 als Professorin an der »Royal Danish Academy of Fine Arts« in Kopenhagen und arbeitet als »Senior Researcherin« an der Akademie der Bildenden Künste Wien.
vimeo.com/showcase/7879723


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