Titelthema

Halbnomadische Vorfahren

Anders als gemeinhin angenommen, waren die ­jungsteinzeitlichen Menschen im heutigen England keine Ackerbauern, sondern wanderten mit ihren Herden.von Lara Mallien, erschienen in Ausgabe #63/2021
Photo
© privat

»Die Menschen der Jungsteinzeit lebten als sesshafte Ackerbauern in Dörfern. Damit waren sie erstmals in der Lage, Menschen zu ernähren, die ausgedehnte Kultbauten errichteten. Die Sesshaftigkeit und der Ackerbau definieren den Beginn des Neolithikums.« So lautet die generelle Lehrmeinung. Doch stimmt sie mit den archäologischen Funden überein? Diese Frage stellt sich der Archäologe Julian Thomas. Ihm fiel auf, dass sich in seinem Heimatland Großbritannien kaum Fundamente dauerhafter Siedlungen und langfristig beackerter Felder aus der Jungsteinzeit fanden. Es gibt sie nur sehr vereinzelt. Überreste von Getreide, meist Emmer, sind ebenso selten. Vermutlich diente er weniger zum Brotbacken als zum Brauen berauschender Getränke.

Wie aber haben die Menschen dort damals gelebt, wenn sie keine brotbackenden Acker-bauern waren? Woher nahmen sie die Kraft, all die großartigen Monumente der Jungsteinzeit zu errichten – Wall- und Grabenanlagen, Ganggräber, Holz- und Steinkreise? Gerade weil sie keinen Ackerbau betrieben, hatten sie Zeit dafür, argumentiert Julian Thomas. Schließlich ist kaum etwas so anstrengend wie Getreide zu ernten, zu dreschen und zu mahlen. Selbst-bestimmte Menschen, die keiner Obrigkeit Steuern in Form von lagerfähigen Getreidekörnern schuldig waren, verfolgten im Neolithikum eine Vielzahl anderer Subsistenz-Strategien: Sie jagten, fischten, sammelten und betrieben gelegentliche Wald- und Gemüsegärtnerei. Julian Thomas ist davon überzeugt, dass die Menschen halbnomadisch gelebt haben. Sie seien im Frühjahr in ein Sommerlager gezogen, hinunter in die feuchten Talauen, wo in den warmen Monaten reiche Beute beim Fischen und bei der Entenjagd winkte und wo die Schaf- und Rinderherden saftige Weiden fanden. Im Winter ging es zurück auf die trockenen Höhenzüge. Dann diente die Herde als »Vorratskammer auf Hufen«. Gewohnt wurde in Zelten oder Hütten. Julian Thomas vergleicht die steinzeitliche Lebensweise auf den Britischen Inseln mit derjenigen von halbnomadischen Indigenen Nord-amerikas.

Festliche Gelage

Mit ihren Herden scheinen die Menschen in inniger Verbindung gelebt zu haben. Vielleicht gehörte zu jedem Mitglied eines Clans ein entsprechendes Rind oder Schaf, denn oft finden sich Knochen von Weide-tieren als Beigaben zu menschlichen Bestattungen. Es gab Orte im Land – etwa das heutige Avebury in Südengland, das bekannt ist für seine gewaltige Steinkreisanlage –, zu denen die Menschen offenbar perio-disch über weite Entfernungen mit ihren Herden wanderten, um über Tage hinweg in Saus und Braus zu feiern. Avebury ließ sich damals über einen Pilgerweg zwischen der Ostküste Norfolks und Cornwall im Westen gut erreichen. Julian Thomas schreibt über Windmill Hill, eine weitere ausgedehnte Kreisgraben-Anlage westlich von Avebury: »[Am]Boden und an den Seiten des Grabens fanden sich zahlreiche Keramikscherben und Tierknochen. All diese Faktoren deuten unübersehbar auf den Verzehr von Nahrung im großen Stil hin – in anderen Worten, auf rauschende Feste.« Diese Praxis scheint landesweit verbreitet gewesen zu sein: Im »Ring of Brodgar«, einem Steinkreis auf den Orkney-Inseln, muss es in einem Jahr zu einem gigantischen Gelage, wohl zu Ehren eines Verstorbenen, gekommen sein. Aus Knochen von Hunderten von Rindern errichteten die Menschen nach wochenlangem Feiern ein Bauwerk: Um eine Steinziste, eine Kiste mit menschlichen Gebeinen, wurden die Schienbeine von 400 Rindern speichenförmig abgelegt. Dann wurde das Ganze mit Erde überhäuft. Diese frühen Nomaden waren offenbar so reich, dass sie sich eine ausgedehnte Festkultur leisten konnten.

Dass solche besonderen Orte keine Herrschaftssitze waren, die von einer ackerbauenden Arbeiterschaft im Umland versorgt wurden, hat sich inzwischen in der Lehrmeinung durchgesetzt. Es deutet zwar vieles auf eine rituelle Nutzung solcher Orte hin, aber diese scheint jeweils nur temporär gewesen zu sein. So wurde auch lange gerätselt, warum »Causewayed Enclosures« – mit Wall und Graben umfriedete Anlagen – vor allem an abgelegenen Orten liegen. Die nächsten neolithischen Siedlungsplätze sind viele Meilen davon entfernt; es hätte viel zu viel Arbeit bedeutet, von dort aus eine Elite zu versorgen. Dass in der Nähe solcher Anlagen gelegentlich Gartenbau betrieben wurde, gibt ebenfalls Räsel auf. Es wirkt, als sei gezielt für bestimmte Anlässe Gemüse und Getreide kultiviert worden, vielleicht zur Verpflegung der Menschen bei einem bestimmten Fest. Nach kurzer Zeit wucherten die Beete dann offenbar zu, das Land war Vorratskammer genug.

Orte der Anderswelt

Zu der abgelegenen Lage der Kreisgraben-Anlagen passt, dass hier Begräbnisriten stattfanden – nicht permanent, sondern zu bestimmten Zeiten im Jahr, und dafür war ihre abgeschiedene Lage geeignet. Die Leichname wurden zunächst unter freiem Himmel abgelegt, damit die wilden Tiere das Fleisch abnagen konnten. Dann wurden die Knochen aufwendig bearbeitet, bevor bestimmte Teile davon in Gräben oder Erdhügeln beigesetzt wurden. Lange wurden solche Orte als »Festungen« tituliert, bis den Archäologen auffiel, wie wenig sich eine Anlage, bei der der Graben auf der Innenseite des sie umgebenden Walls liegt, zur Verteidigung eignet. Eher scheinen die Menschen der Ansicht gewesen zu sein – und spätere irische Mythen deuten dem Archäologen Richard B. Warner zufolge darauf hin –, dass sich im Inneren solcher Anlagen mythische Wesen und magische Kräfte manifestieren konnten, von denen man nicht wollte, dass sie in die äußere, profane Welt gelangten. Es sollte also eher die Außenwelt vor den andersweltlichen Vorgängen in den Wallanlagen geschützt werden. Gar nicht im Gegensatz zu dieser rituellen Nutzung stand, dass an diesen Orten offenbar auch Handelswaren von weither ausgetauscht wurden. In nicht--kapitalistischen Gesellschaften war solch ein Austausch etwas Heiliges. Je stärker ein Gegenstand aus dem Profanen herausgehoben wurde, desto höher war sein Wert, und seine Übertragung in andere Hände ein feierliches Übergangsritual – ganz anders als kapitalistischer Handel, argumentiert Julian Thomas.

Seit ich eine der größten dieser Anlagen – Hambledon Hill in der Grafschaft Dorset – im Jahr 1992 zum ersten Mal besucht habe, wollte ich alles lesen, was über diesen alten Ort jemals in Erfahrung gebracht wurde. Denn selten habe ich mich irgendwo auf der Welt so zu Hause gefühlt, wie dort oben auf dem Hügel mit seinen gewaltigen Wällen mit dem Blick auf die zauberhaften Täler der beiden Flüsschen Blackmore und Stour. Die Verbindung zwischen Himmel und Erde schien an diesem Ort so leicht, als hätten die Menschen dort seit Jahrtausenden mit Wesen aus einer »Anderswelt« gesprochen. Julian Thomas bindet den Ort und seine Begräbnisriten in den Jahreslauf einer halbnomadischen neolithischen Kultur ein: Im Frühjahr hätten die Menschen ihre Herden in die langsam trockenfallenden Täler getrieben und auf dem Weg dorthin auf Hambledon Hill Station gemacht. Auch im Herbst seien sie wieder vorbeigekommen für ihre Riten und Feste, um dann weiterzuziehen und die Tiere im Winter auf den Höhen der Kreidehügel grasen zu lassen. Auf diesem Weg wurden bei Anlagen wie Hambledon »die Herden zusammengetrieben, so dass sich für kurze Zeit die Bedingungen der Eignerschaft verschoben. Die Hirten hüteten nun keine Kleingruppen mehr, sondern einen gemeinsamen, riesigen Reichtum.« Rund um Hambledon und ähnliche Orte war das Land gerodet, so dass es reichlich Weiden gab. Die vielen Funde von Haselnüssen, Holzäpfeln und kleinen Mengen gereinigten Getreides deuten auf eine herbstliche Nutzung solcher Stätten hin. Die damaligen Menschen waren Eingeborene jener Landschaft, sie bewegten sich mit dem selbstverständlichen Zug ihrer Herden, und vermutlich fehlte es ihnen an nichts in ihrer weiten Heimat, die reich an Nüssen, Beeren, Wurzeln, Kräutern, Fischen, Wildvögeln und Weidetieren war und in lichten Auen Gelegenheit zur Kultivierung von Wildgetreide für alkoholische Getränke bot. Dieses Bild meiner halbnomadischen europäischen Ahnen ist mir näher als das von sesshaften Ackerbauern, die sich immer wieder damit auseinandersetzen mussten, dass die Fruchtbarkeit ihrer Felder abnahm.


Fachliteratur

Julian Thomas: Understanding the Neolithic, Routledge, 1999

Richard B. Warner: Gebändigte Anderswelt, Hagia Chora 12/13, 2002

weitere Artikel aus Ausgabe #63

Photo
von Charlotte Selker

Lernen neben und mit der Mutterschaft

In Oya 61 sprachen Anja Marwege und Maria König mit Almut Birken und Nicola Eschen über ihr Buch »Links leben mit Kindern«. Darin wird gefragt, wie feministische Werte in linken Zusammenhängen realistisch gelebt und täglich angezettelt werden können:

Photo
von Matthias Fersterer

Haltestelle

In einer Ausgabe zu nicht-sesshaften Lebensweisen und mündlicher Erzählkunst darf Werner Küppers, der langjährige Fahrer des Omnibus für Direkte Demokratie, nicht fehlen. Wie kein anderer verkörpert er für mich Beheimatung im Unterwegssein. In Ausgabe 40 schenkte

Photo
von Kathinka Marcks

Erzählen in Zeiten des Wandels

Matthias Fersterer  Kathinka und Daniel, ihr habt – unter anderem inspiriert durch Oya 46 zum Thema »Erzählen« – den Verein »Nomadische Erzählkunst« gegründet, in dem ihr Menschen die Kunst und das Handwerk des Geschichtenerzählens

Ausgabe #63
Unterwegs sein

Cover OYA-Ausgabe 63
Neuigkeiten aus der Redaktion