Titelthema

Im Hexenkessel

Erinnerungen an meine ­bewegten Wanderjahre.von Katharina Hahn, erschienen in Ausgabe #63/2021
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© privat

Von Ende 1983 bis Herbst 1985 war ich mit Trecker (ein 15-PS-Deutz) und Bauwagen unterwegs, zusammen mit 25 Menschen und 16 Bau- und Zirkuswagen. Wir haben uns »Hexenkessel« genannt, waren ein sehr bunter, sehr individualistischer Haufen. Wir haben Musik gemacht, jongliert und einer hatte ein Wagencafé dabei. Eigentlich war die Idee, zusammen eine Show oder ein Theaterstück zu machen und damit umherzuziehen, aber wir konnten uns damals nicht mal einigen, ob wir eher nach Norden oder nach Süden fahren wollten. Irgendjemand hat dann gesagt: »Ich kenn’ da einen Platz, ich fahr’ schon mal los.« Und dann sind wir da letztlich alle gelandet, haben unsere Wagen in großer Runde aufgestellt und sind ein paar Wochen geblieben, haben abends am Feuer Musiksessions gemacht, Kaffee und Bier ausgeschenkt, auch für Menschen, die vorbeigekommen sind, und haben getanzt. Eine große Party.

Winterplätze für so viele zu finden, war schwierig. Und so haben wir in kleineren Gruppen etwas verteilt überwintert und als wir uns im Frühjahr wiedertrafen, stellten wir fest, dass vier Frauen von uns – auch ich – schwanger waren. Dann sind wir zusammen weitergefahren und zum Sommer hin mussten wir einen Platz finden, wo wir unsere Kinder bekommen konnten. Letztlich haben wir bei Fulda, in Bischofsheim an der Rhön, bei einem Steinbruch mit Arbeiterhäusern, in denen eine christliche Gemeinschaft wohnte, einen Platz gefunden und mit der ortsansässigen Hebamme in den Wagen nach und nach alle unsere Kinder geboren. Danach verstreuten wir uns. Ich bin mit meinem damaligen Freund und Kind in die Nähe von Bamberg gefahren, um zu überwintern.

Im Frühjahr darauf kam Tschernobyl, und wir sind für drei Monate mit dem Auto vor der radioaktiven Wolke nach Spanien geflohen. Nachdem wir im Sommer zurückgekommen waren, begann eine Zeit, in der wir als kleine Familie in verschiedenen Gemeinschaften lebten – auf dem Arpshof zwischen Hamburg und Bremen, auf dem Schweizerhof bei Bad Bevensen, in Poyenberg in Schleswig-Holstein – meist für ein paar Monate bis maximal zwei Jahre, also halbnomadisch. Das war relativ konfliktreich, und wenn es Konflikte gab, dann mussten diejenigen gehen, die Räder hatten. Und so sind wir in Vogelsang gelandet, erst vor der Haustür meiner Mutter und 1989 haben wir uns hier ein Grundstück gekauft. Nach den Jahren des Unterwegsseins war es mir wichtig geworden, einen Platz zu haben, von dem mich niemand mehr vertreiben kann. Den kleinen Drei-Meter-Bauwagen habe ich noch heute, habe alle meine fünf Kinder darin geboren und schlafe noch immer darin, fast das ganze Jahr über, obwohl ich ja ein Haus habe. Der Wagen ist immer noch mein Schneckenhaus.

Nur das zu besitzen, was ich auch mitnehmen kann, was in meinem kleinen Wagen Platz hat, das ist sehr anders, als sesshaft zu sein, und hat auch etwas sehr Befreites. Die Sachen zusammenhalten, nichts liegenzulassen, wenn man packt, um wieder weiterzuziehen – dadurch wird man auch zum Packprofi. Ein anderer Aspekt ist das Heimatgefühl – »Heimat« ist dann da, wo die Menschen sind, mit denen man sich verbunden fühlt. Wenn man ein paar Wochen an einem Platz ist, dann bilden sich Pfade in der nahen und etwas weiteren Umgebung, die dann vertraut werden – zum jedes Mal neu gebuddelten Toilettenloch, zur Stelle, an der es Wasser gibt, um die Kanister zu befüllen, zur Einkaufsmöglichkeit in der Nähe – das ist eine punktuelle, temporäre Verbundenheit, die entsteht und dann wieder verlassen wird. Auch andere Dinge werden auf diese Weise sehr reduziert und effizient. Wir haben auf Weihnachtsmärkten selbstgemachte Dingen wie Bienenwachskerzen und Laubsägearbeiten verkauft. Vier Wochen Vorbereitung, drei bis vier Wochen Markt – und dann konnten wir von den Einnahmen ein halbes bis dreiviertel Jahr leben. Wir brauchten nur das Essen und den Sprit, um weiterzufahren. Heizen im Winter: Wir sind in den Wald gegangen, haben Totholz gesammelt, mit der Hand kleingesägt und so den Winter bei bis zu minus 26 Grad überstanden. Natürlich gab es auch viele Unsicherheiten: Wo finden wir den nächsten Platz? Wie lange dürfen wir bleiben? Es gab zudem Anfeindungen und Misstrauen von Menschen, für die unsere Art des freien Lebens eine Bedrohung darstellte. Heute frage ich mich, wie wir uns verständigt haben, wenn wir verstreut waren. Handys gab es noch nicht. Postkarten, Briefe, Telefon-zellen? Ich weiß es einfach nicht mehr. Aber wir haben uns immer wiedergefunden. Noch heute gibt es bei mir Verhaltensrelikte aus der Zeit, etwa für Teeblätter und Kaffeesatz: Tür auf und raus mit einem kleinen Schwung verschütten – und dabei lebe ich jetzt schon seit dreißig Jahren im Haus. //


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