Titelthema

Die Herde ist das Herz

Singo Leiyo, der Zukunftsper­spek­tiven und Heraus­forderungen der halbnomadisch lebenden ­Maasai ­erforscht, berichtet von Wander­­weide­wirtschaft, mündlicher ­Tra­dition und seinem Einsatz für ­Frauenrechte.von Matthias Fersterer, Singo Leiyo, erschienen in Ausgabe #63/2021
Photo
© privat

Matthias Fersterer: Danke, dass du dir Zeit für dieses Gespräch nimmst, Singo! Wo lebst du derzeit?  
Singo Leiyo: In Bayreuth, wo ich an der Universität einem Promotionsprojekt arbeite.


Du wurdest als Maasai geboren. Würdest du uns aus deiner Kindheit erzählen?  
Ich bin in einem Dorf namens -Engikaret – »Dornbusch«, wegen der vielen Akazienbäume, die dort wachsen – im nördlichen Tansania zur Welt gekommen. Bei der Berliner Konferenz 1884/85 hatten die Kolonialmächte auf dem Reißbrett die politische Karte von Afrika gezeichnet und dabei das Maasai-Land in zwei Staaten unterteilt: Tansania und Kenia. Ich wurde ungefähr 1991 geboren. Die wenigsten Maasai führen Kalender, sondern erinnern sich anhand wichtiger Ereignisse. Meine Eltern erzählten mir, ich sei geboren worden, als unsere Leute »zum weißen Berg zogen«, womit der Kilimandscharo mit seiner Gletscherdecke gemeint ist – das war 1991 aufgrund einer Dürre der Fall. Als Kind beschützte ich die Zicklein vor Adlern, Leoparden und Hyänen, und mit sechs Jahren wurde ich Hirte.


Mit sechs?! Wie groß war die Herde?  
Das Leben der Maasai ist gemeinschaftlich organisiert. Deshalb hütete ich nicht nur die Tiere meines Vaters, sondern auch jene meines Großvaters und meiner Onkel. Insgesamt waren das bis zu 200 Kühe und Ziegen.


Ich bin beeindruckt! Mein sechsjähriger Sohn liebt Tiere, aber wir würden ihm keine Herde anvertrauen … Zurück zu dir: Wie bist du nach Deutschland gekommen? 
Glücklicherweise durfte ich zur Schule gehen. Danach bekam ich einen Studienplatz in Daressalam. Dank des Forschungsprojekts »Batata« der Universitäten Bayreuth und Tübingen konnte ich im Rahmen meines Promotionsprojekts nach Deutschland kommen.


Worüber forschst du?
 Über Bioökonomie im globalen Süden am Beispiel Tansanias. In meiner Forschung frage ich, wie Pastoralisten – also Menschen, die von der Wanderweidewirtschaft leben – sich vor Diskriminierung schützen und nachhaltige Zukunftsbilder entwerfen können. Ein Arbeitstitel lautet in Anlehnung an den Anthropologen James C. Scott »Seeing like a Pastoralist« (»Mit den Augen eines Hirtennomaden sehen«).


Wie genau leben die Maasai heute – nomadisierend oder in Siedlungen?
 Früher gab es keine festen Siedlungen, aber in den 1960er and 1970er Jahren wollte die sozialistische Regierung Pastoralisten sesshaft machen, indem sie Siedlungen nach dem Modell der Chinesischen Kulturrevolution errichtete. Das war nur teilweise erfolgreich. Heute leben die meisten Maasai halb-nomadisch – in semipermanenten Siedlungen – und wandern im Lauf der Jahreszeiten mit den Herden von Weide zu Weide.


War es eine jahreszeitliche Wanderung, als ihr zum »weißen Berg« gezogen seid?
 Ja. Solche saisonalen Wanderungen können bis zu vier oder fünf Monate dauern, wobei die Alten und Kranken im Dorf zurückbleiben, bis die anderen wiederkommen.


Was bedroht die Lebensweise der Pastoralisten heute? 
 Die jahreszeitlichen Wanderungen wurden aus mindestens drei Gründen sehr erschwert: Durch die Anlage von Nationalparks enstand Landknappheit. In Tansania wurden sechs oder sieben Nationalparks auf dem Land der Maasai errichtet, der bekannteste ist der Serengeti-Park. Die Maasai dürfen das Land nicht mehr betreten, in Notzeiten widersetzen sie sich jedoch und treiben ihre Herden trotzdem dorthin. Die staatlichen Erfüllungsgehilfen hetzen Hunde auf sie, wenden Waffengewalt an oder belegen sie mit Geldstrafen. Die Regierung droht mit weiterer Umsiedlung.


Unser Freund Michael Succow erzählte Ähnliches von den San in der Kalahari-Wüste im südlichen Afrika. Es klingt paradox, die Landschaft schützen zu wollen, und dabei die Menschen zu vertreiben, die das Land seit Jahrtausenden pflegnutzen! 
Reisegruppen und Jagdgesellschaften bringen eben viel mehr Geld in die Staatskasse als Hirtennomaden. Die Regierung brüstet sich damit, dass rund 40 Prozent der Fläche unter Naturschutz stehen, doch die Menschen vor Ort leiden unter dieser Praktik.


Vor welchen anderen Herausforderungen stehen die Maasai heute?
 Durch den Klimawandel werden Dürrezeiten häufiger und extremer, Herden sterben aus Mangel an Weideflächen. Die Herden stehen im Zentrum der Maasai-Kultur. Wenn die Herden sterben, verlieren wir nicht nur unsere ökonomische Grundlage, sondern auch unsere kulturelle Identität. 2009 gab es eine schwere Dürre in Ostafrika. Viele Menschen verloren ihre Herden, und manche sagten, wir müssten unsere Lebensweise ganz aufgeben. All das brachte meinen Großvater ins Grab; die offizielle Todes-ursache war ein Herzinfarkt, aber in Wirklichkeit starb er an gebrochenem Herzen – seine Herde war sein Herz.


Was bedroht die Lebensweise noch?  
Die Anpassung an die moderne Zivilisation bedroht die Werte der traditionellen pastoralen Lebensweise, die gemeinschaftlich, egalitär und mit flachen Hierarchien rund um verschiedene Altersgruppen organisiert ist. Land, Tiere und Nahrung werden traditionellerweise geteilt. Es gibt ein Tabu, das untersagt, alleine zu essen: Wer eine Mahlzeit zu sich nehmen möchte, muss mindestens eine weitere Person finden, um das Mahl zu teilen. Manche jüngeren Leute möchten individualistischer leben. Obwohl die Ältesten nach wie vor viel Autorität in Fragen der Land- und Herdenbewirtschaftung haben, drängt die Geldökonomie auch in diesen Bereich. Bislang dienten unsere Tiere nicht dem monetären Profit, sondern der Subsistenz – die Herde gibt uns Milch, Fleisch, Aussteuer und Geschenke, um Freundschaftsbande zu knüpfen und zu erhalten.


Wie viele solcher Altersgruppen gibt es?
 Früher waren es sechs, heute meines Wissens nur noch fünf Gruppen: Die jüngsten sind die »Krieger« (Ilnyangulo), von 15 und 25 Jahren, denen der Schutz von Dorf und Herden sowie das Auskundschaften von Weidegründen obliegen. Ich gehöre zu den »jüngeren -Ältesten« (Irkorianga), mein Vater zu den »älteren Ältesten« (Ilmakaa), dazwischen sind die »Ältesten« (Ilandiis) und schließlich die »Altehrwürdigen« (Iseuri). Jede Altersgruppe hat ihre eigene Führungs- oder Vaterfigur (menye-layok) und begeht bestimmte Übergangsrituale. Diese Rituale sind wesentlich für den Zusammenhalt und kulturellen Fortbestand der Maasai, sind jedoch durch die Einflüsse des modernen Bildungswesens und des Christentums bedroht.


Wie trefft ihr Entscheidungen? 
Es gibt Entscheidungen auf verschiedenen Ebenen. Auf der Ebene der Familie gilt es zu verstehen, dass die Maasai polygam leben. Ein Mann kann mehrere Ehefrauen haben – zwei, drei, vier und sogar bis zu zehn. Der Vater ist das Familienoberhaupt und hat das letzte Wort in Familienangelegenheiten. Frauen sind für den Haushalt verantwortlich, dazu gehören das Melken, das Sammeln von Feuerholz, das Wasserholen, der Bau der Rundhütten und die Schmuckherstellung. Die Männer sind verantwortlich für Medizin, Bildung, Brunnenbau, für die Herden und Weiden sowie für den Schutz der Gemeinschaft. Wenn es Entscheidungen auf der Ebene der Dorfgemeinschaft zu treffen gilt, versammeln sich alle Männer unter einem alten Baum und besprechen sich. Einer tritt in die Mitte, trägt sein Argument vor und geht zurück in den Kreis. Das kann den ganzen Tag dauern, und wenn es am Abend keinen Konsens gibt, wird die Runde vertagt. Alles wird im Konsens entschieden. Dann gibt es ehrwürdige Redner – alaigwanani (Einzahl) und ilaigwanak (Mehrzahl) genannt –, die aus der Tradition schöpfen und sich an frühere Entscheidungen in ähnlichen Fällen erinnern.


Wie werden die Vaterfiguren und die ehrwürdigen Redner ernannt?  
Beide müssen friedlich, weise, demütig, gerecht und tapfer sein. Kinder, die diese Qualitäten in sich vereinen, werden beobachtet und eingeladen, ihre Meinung beizutragen; später können sie im Konsens in ein solches Amt berufen werden.


Welche Rolle spielt die mündliche Erzähltradition im Alltagsleben?  
Sie ist ganz entscheidend – die Maasai sind die besten Geschichtenerzähler! Als es noch kein Fernsehen, Radio oder Internet gab, war das Erzählen das einzige Kommunikationsmittel. Diese Tradition wird nach wie vor hochgehalten. Leider bin ich kein so guter Erzähler wie mein Vater. Manchmal neckt er mich, weil ich seine Fragen am Telefon so einsilbig beantworte. Wenn mein Vater abends nach Hause kam, erzählte er von seinem Tagesverlauf vom Morgengrauen bis zur Dämmerung, ohne auch nur ein Detail auszulassen: Ich ging von hier nach da, traf den und den, rastete am Fluss und hielt ein Nickerchen an jenem Baum, dann wurde ich durch eine galoppierende Zebraherde geweckt, ging in die Richtung, aus der sie gekommen war, und traf auf ein Rudel Hyänen … Besucher aus anderen Dörfern erzählen in aller Ausführlichkeit vom Wetter, von den Leuten, den Herden, den Sternenkonstellationen – die Erzählungen der Maasai halten Erklärungen für alles nur Denkbare bereit! Vierstündige Erzählbögen sind keine Seltenheit, und als Kind habe ich diesen abendlichen Geschichten gelauscht.


Kannst du noch etwas mehr zur Rolle der Frauen bei den Maasai sagen? 
Die Kultur der Maasai ist wunderbar, hat jedoch leider auch blinde Flecken, und dazu zählt der geringe gesellschaftliche Rang von Frauen. Manchmal werden zwölfjährige Mädchen gegen ihren Willen mit Männern, die ihre Väter sein könnten, verheiratet. Das bricht mir das Herz! Meine Schwester hätte einen älteren Mann heiraten sollen, als sie in der fünften Klasse war. Mein Bruder und ich wandten uns an die Polizei und ans Sozialamt – und so gelang es uns, unsere Schwester am Tag der geplanten Hochzeit zu retten! Sie macht demnächst ihren Highschool-Abschluss. Mein Bruder versucht, vor allem auf die Männer einzuwirken, dass sie ihre Töchter nicht in jungen Jahren verheiraten, sondern sie stattdessen zur Schule schicken. Er agiert auch als Vermittler zwischen Frauen und sozialen Einrichtungen. Diese Arbeit ist mühsam und langwierig, aber es gibt erste Erfolge.


Danke, dass du diesen Punkt angesprochen hast – und herzlichen Dank für diesen Einblick ins Leben der Maasai! //


Singo Leiyo (30), rechts im Bild neben seinem Vater, ist Doktorand an der »Bayreuth International Graduate School of African Studies« und Mitarbeiter des Forschungsprojekts »Batata« zur Verschränkung von Ökonomie und Ökologie in Ländern des globalen Südens.
www.batata-bioeconomy.de


weitere Artikel aus Ausgabe #63

Photo
von Maria König

Wider die Vereinfachung

Maria König: In deiner künstlerischen Arbeit gehst du der Frage nach, wie Menschen auf die Erdoberfläche und Landschaften schauen, wie sie diese wahrnehmen und visualisieren und wie verschiedene Formen von Kartografie unser Denken und unsere Wahrnehmung beeinflussen. Du

Photo
von Lara Mallien

Nomaden besitzen das Land nicht

Lara Mallien: Saskia, du bist schon als junge Frau zum Studium nach Frankreich gegangen. Was hat dich dorthin gezogen?  Saskia Walentowitz: Schon in meiner Jugend hatte ich ein Herz für Frankreich. Mein Großvater war während seiner Kriegs-gefangenschaft im

Photo
von Claus Biegert

Ein weiter Weg

Claus Biegert: Langsam setzt sich die Erkenntnis durch, dass nomadisch lebende Menschen einen ökologischen Lebensstil verkörpern. Dennoch ist der Begriff nicht nur positiv besetzt und es gibt viele Vorurteile gegen Roma und Sinti.  Alexander Diepold: Ja, damit werde ich

Ausgabe #63
Unterwegs sein

Cover OYA-Ausgabe 63
Neuigkeiten aus der Redaktion