Titelthema

Ein weiter Weg

Claus Biegert befragte den Sozial­pädagogen Alexander Diepold aus München zu seinem Wirken für Gleich­berechtigung von Sinti und Roma in Deutschland.von Claus Biegert, Alexander Diepold, erschienen in Ausgabe #63/2021
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© Biegert-film.de

Claus Biegert: Langsam setzt sich die Erkenntnis durch, dass nomadisch lebende Menschen einen ökologischen Lebensstil verkörpern. Dennoch ist der Begriff nicht nur positiv besetzt und es gibt viele Vorurteile gegen Roma und Sinti. 
Alexander Diepold: Ja, damit werde ich in meiner Arbeit täglich konfrontiert. Wir Sinti und Roma werden zu Fahrenden erklärt, obwohl wir uns immer wieder um die Sesshaftigkeit bemühen und dafür kämpfen müssen. Das Klischee des fahrenden Volks haftet uns an, wir können uns kaum gegen dieses Bild erwehren.


Mit welchen Menschen haben wir es denn zu tun?  
Sinti sind seit 1407 in Deutschland; in Hildesheim gibt es die ersten Nachweise. Sinti und Roma kommen aus Indien und erfüllen den Begriff der »Vertriebenen«, denn sie flohen vor der Islamisierung; wer nicht dem Islam angehörte, konnte versklavt werden. Es gab zwei Routen: über den Balkan und über Westeuropa. In Westeuropa landeten vor allem die Sinti, ihr Name geht vermutlich auf den Fluss Indus – auf Sanskrit »Sindh« – zurück. Die Roma fanden in Rumänien Zuflucht. Heute gibt es auch muslimische Roma, etwa in der Türkei. Ihre gemeinsame Sprache ist Romanes.


Sie flohen im Spätmittelalter und der Frühen Neuzeit nach Europa und trafen wieder auf Diskriminierung. Welche Plätze fanden sie hier?  
Sie beherrschten die Kunst der Metallbearbeitung, vor allem in der Tradition des Waffenschmiedens. Aber sie hatten keine eigene Zunft und wurden bei keiner der existierenden Zünfte zugelassen. Sie konnten keine Gesellenprüfung machen und es nicht zum Meister bringen. So entstand der Nischenberuf des Schrotthändlers und Kesselflickers. Heute kann man ihre Fähigkeit im Kunsthandwerk, etwa bei Intarsien, bewundern.


Und dann gibt es ja noch die Musiker und Schauspieler, Yul Brunner fällt mir ein…  Ja, aber auch Elvis Presley, Charly Chaplin, Marianne Rosenberg, Django Reinhardt, Manitas de Plata ...
Der Fußballer Gerd Müller ist übrigens auch ein Sinto.


Das hat nichts an der Diskriminierung geändert. 
Die Verfolgung gipfelte in der Nazizeit im Versuch, Sinti und Roma durch Sterilisation und KZ auszulöschen. Man wählte aber hier offiziell keine rassische Begründung, sondern nannte das Vorgehen eine Kriminal-Präventivmaßnahme. In diesem Zug haben die Nationalsozialisten aus »Zigeuner« »ziehende Gauner« gemacht. Dieses Bild der Diebe, die sich davonmachen, haftet ihnen bis heute an.


In der Wiedergutmachungspolitik der Bundesregierung an Verfolgten des Nazi-Regimes kamen Sinti und Roma ja zunächst nicht vor.  
Nach 1945 begann die Wiedergutmachung an den Juden, nicht aber an den Sinti und Roma. 1953 urteilte der Bundesgerichtshof, dass diese nicht aus »rassischen«, sondern aus kriminal-präventiven Gründen verfolgt worden seien, also kein Anrecht auf Wiedergutmachung hätten! In der Begründung war von »Okkupationstrieb« die Rede. Es schien, als habe Alfred Dillmanns »Buch der Zigeuner« von 1905 immer noch Aussagekraft. Darin steht: »Ist einer auf der Straße anzutreffen, der einer Minderheit angehört, ist er sofort von der Polizei zu archivieren.« Das war ein Entzug der Lebensberechtigung! Das BGH-Urteil wirkte sich bis 2016 aus; die Polizei wurde dahingehend ausgebildet.


Ab wann konnte man eine Veränderung wahrnehmen?  
In den 1960er Jahren entstand langsam eine Bürgerbewegung; sie gipfelte im ersten Weltkongress der Sinti und Roma am 8. April 1971. Bis dahin gab es unterschiedliche Fremdbezeichnungen: »Ziehende Gauner«, »fahrendes Volk«, »mobile ethnische Minderheit«, »HWO« für »häufig wechselnder Wohnort«, später den sogenannten »Südländertyp 2«, das war der mobile Mensch aus dem Mittelmeerraum; schließlich wurde in der Justiz der Begriff »Rotations-Europäer« eingeführt. Jeder dieser Begriffe der Obrigkeit gleicht einem Entzug der sesshaften Lebensberechtigung.


Brachte der 3. Weltkongress der Sinti und Roma einen Durchbruch?  
Durchaus. 1980 hatte es noch einen Hungerstreik in Dachau gegeben, dann kam 1981 der 3. Weltkongress der Sinti und Roma in Göttingen, initiiert von Tilman Zülch und der »Gesellschaft für bedrohte Völker«. In der Folge hat die Regierung von Helmut Schmidt 1982 die Verfolgung im Dritten Reich anerkannt und Schritte zur Entschädigung eingeleitet. Das waren Tür-öffner. Jetzt konnte auch der Wunsch nach Sesshaftigkeit gezielter ins Spiel gebracht werden. Natürlich gibt es bei Sinti und Roma besonders Reiselustige, wie bei allen anderen Europäern auch. Das Problem war ja der fabrizierte kausale Zusammenhang: Die reisen von einem Ort zum anderen, weil sie Kriminelle sind. Mit diesem Vorurteil habe ich in meiner Arbeit immer wieder zu tun. Wird ein Deutscher eines Diebstahls überführt, dann sagt die Polizei nicht »typisch deutsch« – handelt es sich jedoch um Roma oder Sinti, dann heißt es »typisch Zigeuner«.


Bleiben wir noch bei den Begriffen. Wie schaut es 2021 aus?  
Die EU hat den Begriff des »brachliegenden humanen Kapitals« ins Spiel gebracht. Auf der einen Seite ist das etwas durchaus Positives: Es wird anerkannt, dass hier talentierte Menschen sind. Andererseits werden Klischees bedient: faul, untätig – sie könnten, wenn sie wollten. Tatsache ist: Sie wollen! Dann gab es wieder einen bürokratischen Begriff, der sich ihnen in den Weg stellte: »Armutszuwanderung«. Die kommen zu uns, weil sie hier soziale Unterstützung erhalten, die sie in ihrer Heimat nicht haben, etwa Kindergeld. Das wird den Sinti und Roma generell vorgeworfen, weil sie einer bestimmten Gruppe angehören. Dieser Rassismus erschwert europaweit die Möglichkeit der Eingliederung und verwehrt den Zugang zu Bildung, Arbeit, Wohnung, Gesundheit, aber auch zu politischer Partizipation, er führt zur Vorenthaltung politischer Ämter. Wir haben gute Leute in hohen Stellungen, die verschweigen, dass sie Sinti oder Roma sind. Sie befürchten, dass, wenn sie sich outen, ihr beruflicher Weg bald endet.


Seit 2018 ist ein Roma aus Kaiserslautern für die Grünen im Europa-Parlament: Romeo Franz, ein Geiger und Pianist. Ein Licht am Horizont?  
Ja, durchaus, das gibt mir Hoffnung.


Welche Altersgruppen kommen vor allem in Ihre Beratungsstelle?  
Zur Beratungsstelle haben alle Menschen, die Hilfe suchen, Zugang. Überwiegend kommen Familienverbände mit unterschiedlichsten Fragestellungen zu uns. Es kommen auch Eltern mit schulpflichtigen Kindern, die eine Wohnung suchen und Angst davor haben, ihre Kinder auf deutsche Schulen zu schicken.


Angst vor der Schule?  
Ich habe gesehen, wie Großmütter vor den Schulen oder sogar vor den Klassenzimmern gewartet haben, bis ihre Enkel wieder rauskamen. Sie hatten Angst, diese könnten abgeholt und verwahrt werden. Das Trauma ist stark: Sie selbst waren von der Schule abgeholt, ins Polizeipräsidium und von dort in KZ geschafft worden. Das ist das Trauma der Zeitzeuginnen. Diese Angst ging oftmals auf die nächsten Generationen über.


Das ist verständlich. Gibt es Diskriminierung bei der Einschulung?  
Eine Variante der Bildungs-Diskriminierung ist die sofortige Einweisung in Sonderschulen. Das war fast bis zum Jahr 2000 üblich. Der Staat hätte es verhindern können, tat es aber nicht. Ohne dass zuvor Tests gemacht worden wären, kamen die Kinder auf Sonderschulen. 


Wie kann Ihre Einrichtung da helfen?  
Durch Bildungsmediatoren, wir haben drei derartige Fachkräfte. Allein deren Einsatz bewirkt, dass Eltern ihre Kinder fördern, weil es einen Vertrauenspartner gibt – eine oder einen von uns. Diese Gefühlserbschaften unserer Kultur, dieses Trauma anzugehen, ist eine Aufgabe der Beratungsstelle. In den Schulen bieten die Mediatoren den verängstigten Eltern Sicherheit. Im letzten Jahr konnten sieben Sintikinder aus der Sonderschule in die normale Schullaufbahn zurückgeführt werden. Ich erinnere mich an eine Familie mit drei Kindern, zwei hatten bereits einen qualifizierten Abschluss. Das dritte, ein Mädchen, war daheim extrem aktiv, aber in der Öffentlichkeit still und scheu. Beim Einschulungstest lag das Kind bei einem IQ unter 60. Es sei geistig behindert. Die Mutter war außer sich und rief mich an: »Mein Kind soll schwachsinnig sein, was können wir tun?« Das Prüfergremium kontaktierte mich, ich solle die Mutter davon überzeugen, dass ihre Tochter in eine Förderschule kommt. »Das werde ich sicher nicht tun«, sagte ich, »denn das Kind ist intelligent.« Ich schlug vor, den Test in der Küche der Elternwohnung zu wiederholen. Die Prüfer willigten ein. Jetzt hatte das Mädchen keine Angst mehr, da sie wusste, dass die Mutter im Zimmer nebenan war. Nun hatte sie einen IQ von 110!


Zurück zur verweigerten Sesshaftigkeit. Sind die Vorurteile immer noch das erste Hindernis? 
 Ja. Vor Kurzem kam eine Familie mit Kleinkind zu uns. Sie lebte auf 13 Quadratmetern – und das in Corona-Zeiten mit Ausgangssperre. Diese Familie ist psychisch zusammengebrochen. Sie warteten bereits fünf Jahre auf eine Wohnung. Gleichzeitig hatte eine andere Familie, der Vater ein Roma, die Frau eine Deutsche, sofort eine Wohnung bekommen. Warum? Der Wohnungsantrag lief auf die Frau mit deutschem Namen. Da sich die beiden Familien in der Bewertung um 60 Punkte unterschieden, bin ich zur GWG, der städtischen Wohnungsgesellschaft in München, gegangen und habe die Ungerechtigkeit offengelegt. Es ist dann gelungen, innerhalb von zwei Wochen auch für die Sintifamilie eine Wohnung zu bekommen.


Ihr Name, Herr Diepold, ist auch deutsch …  
Ja, ich habe auch den Namen meiner Frau angenommen.


Um Repressalien zu entgehen?  
Nein. Als ich geheiratet habe, wusste ich nicht, dass ich ein Sinto bin, da ich größtenteils im Heim aufwuchs. Als Sozialarbeiter habe ich mit Sinti-Kindern gearbeitet, das hat mich erfüllt und begeistert, und einmal sagte eine ältere Frau zu mir: »Du bist doch einer von uns, wo kommst du her? Wie wurde deine Mutter genannt?« »Walburga«, sagte ich. »Nein, wie sie mit Spitznamen genannt wurde. Wir Sinti geben uns eigene Namen, frag deine Mutter!« »Loli wurde sie genannt«, sagte ich. »Ah, das kommt aus dem Romanes und heißt ›die Rote‹. Hatte deine Mutter rote Haare?« »Ja, hatte sie«, erwiderte ich. »Frag deine Mutter, ob sie Romanes spricht.« Meine Mutter wurde ganz blass bei der Frage. Sie wollte, dass ich das nie erfahre. Das war heftig für mich.


Danke, Herr Diepold. Es war gut, Ihnen zuzuhören! //


Alexander Diepold (59) ist Sozialpädagoge und Geschäftsführer der Sozialberatung »Madhouse« sowie der Be-ratungsstelle für Roma und Sinti in München. www.madhouse-munich.com

Claus Biegert (73) setzt sich als Journalist, Filmemacher und Mitinitiator des »World Uranium Hearing« und des »Nuclear Free Future Award« für die Rechte indigener Völker ein. www.biegert-film.de

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