Titelthema

Wir stammen von den Rentieren ab

Die Sami, deren mythische Ahnen über Rentiere wie ­Menschen wachen, konnten Widrigkeiten zum Trotz bis heute Teile ihrer halbnomadischen Lebensweise erhalten.von Lara Mallien, erschienen in Ausgabe #63/2021
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© Nelly Slupachik

Es waren einmal zwei Brüder. Der eine lebte im Wohlstand. Seine Tupa – eine Blockhütte mit Flachdach – war geräumig, im Kamin ging das Feuer nicht aus, und ganze Herden von Rentieren zogen umher. Eines Tages stand sein armer Bruder vor der Tür. Ihm war das Feuer in seiner Feuerstelle ausgegangen. »Ich hätte gerne einen Topf mit Holzkohle«, sagte der arme Sami, doch der reiche Bruder jagte ihn weg. Der arme Bruder ging wieder fort, über waldige Hügel und Moore, bis zur Erschöpfung. Er setzte sich zum Ausruhen auf einen umgestürzten Baum und holte ein Stück getrockneten Fisch aus seinem Beutel, um sich zu stärken. Plötzlich sah er einen kleinen Chahkli, ein Zwerglein, vor sich stehen. Er hatte keine Kleider an und fragte: »Bekomme ich ein Stück Fisch?« Der Sami gab ihm den Fisch, und der Chahkli fragte: »Warum seid ihr so traurig?« Da erzählte der arme Bruder, dass er von dem reichen keine Kohlen erbitten konnte. Der Chahkli nahm den Topf, verschwand in einer Spalte zwischen den Felsen und brachte ihn wieder heraus, gefüllt mit Kohlen. »Der Topf wird wärmer und heißer werden, je länger du ihn trägst, aber halte durch, lasse ihn nicht los!« Der Sami bedankte sich. Je näher er der Heimat kam, desto wärmer wurde der Topf, so dass er ihn kaum noch halten konnte. Als er über die Schwelle seiner Hütte getreten war, stolperte er. Der Topf zerbrach in viele Stücke. Der Sami beeilte sich, die Kohlen mit seinen bloßen Händen aufzuheben, sie waren überhaupt nicht heiß. Er schaute hin und sah, dass es gar keine Kohlen waren, sondern Goldstücke. Die Scherben des Topfs hatten sich in Silberbarren verwandelt. Jetzt war er reich geworden. Er baute eine neue Tupa und kaufte eine Menge Rentiere …


Es ist immer wieder das gleiche Lied. Das Land indigener Kulturen ist reich an Bodenschätzen, so auch das Land der Sami, das sich auf Teile Finnlands, Schwedens, Norwegens und die russische Halbinsel Kola verteilt. Die Flüsse sind begehrt, um an ihnen Wasserkraftwerke zu errichten; im Boden liegen Gold, Silber, Kupfer, Diamanten, Nickel, Eisenerz und Graphit und wecken Begehrlichkeiten. Auch deutsche Firmen sind dabei, wie die »Aurubis« aus Hamburg. Das Unternehmen hat soeben für zehn Jahre das Recht zur Ausbeutung einer Kupfermine bei Hammerfest er-worben. Die britische Bergbaufirma »Angloamerican« erkundet die Sümpfe Finnlands nach Vorkommen von Kobalt und Lithium mit dem Argument, diese Metalle würden für die Herstellung von Batterien gebraucht und leisteten somit einen Beitrag zur Eindämmung des Klimawandels.

Nomadenland ist Niemandsland, wer keinen festen Wohnsitz hat, hat auch keinen Anspruch auf ein Land. Noch immer gilt diese Logik, die dazu führt, dass temporäre Wohnungen als illegale Bauten durch die Regierung abgefackelt werden, auch wenn sie dort seit Jahrhunderten stehen – selbst im fortschrittlichen Schweden geschieht dies.

Der Klimawandel lässt die Weiden vereisen

Über Jahrtausende hinweg haben die Sami in friedlicher Koexistenz mit den Sesshaften gelebt. Der römische Geschichtsschreiber Tacitus war der erste, der über sie berichtete, aber Felszeichnungen, die Menschen mit Rentierherden zeigen, sind um ein Vielfaches älter als die klassische Antike. Erst die Logik moderner Staaten und der kapitalistischen Wirtschaftsweise droht, sie zu zerstören. Wer sich für die traditionelle samische Kultur engagiert, wird zwangsläufig Umweltaktivist, so auch Andrey Danilov, Direktor der »Stiftung für das kulturelle Erbe und die Entwicklung der Sami«. Sein samischer Vorname ist Vuenntrja. Er wohnt in Olenogorsk, einer Stadt im Verwaltungsbezirk Murmansk auf der Kola-Halbinsel. Olenogorsk bedeutet »Rentierstädtchen«.

Die Sami sagen von sich, dass sie von den Rentieren abstammen, in diesen fließe das gleiche Blut wie in den Menschen. Deshalb könnten sie sich auch mit den Tieren verständigen. »Das Rentier gibt uns alles: Nahrung, Wärme, ein Dach über dem Kopf; es ist auch unser Zug- und Reittier«, betont Andrey. »Im Krieg gab es sogar Fälle, wo Rentiere mit ihren Körpern ihre Hirten geschützt haben. Zu unserer traditionellen Wirtschaftsweise gehören auch der Fischfang und das Beerensammeln.« Die Weiden der Rentiere sind meist Sümpfe in der baumlosen Tundra. Der größte Teil des Gebiets der Sami, die ihr Land »Sápmi« nennen, liegt nördlich des Polarkreises – dort wachsen keine Bäume mehr.

Beginnt der Sommer, der in diesen Breiten nur zwei Monate dauert, ziehen die Rentiere ans Meer. Dort finden sie Weiden, und wegen des frischen Seewinds piesacken sie dort keine Insekten. Die Menschen begleiten die Tiere dorthin; dann sind sie den Sommer über sich selbst überlassen. Dieser Weg ans Meer dauert nicht länger als ein bis vier Tage. Die Hirten kehren in ihre Winterlager zurück und haben dort alle Hände voll zu tun. Sie reparieren Hürden, mit denen sie die Rentiere zeitweise einhegen oder lenken können, setzen ihre Behausungen und Zelte instand und sammeln Futter. Kommt der Winter, holen die Hirten die Tiere wieder ab. Jetzt beginnt das eigentliche Wanderleben: Sie folgen den Rentieren von Futterplatz zu Futterplatz und halten den Vielfraß und den Bären fern. Wölfe wurden in der Gegend schon vor längerer Zeit ausgerottet. Viel mehr als Fressfeinde bedroht der Klimawandel die Rentiere. Er führt dazu, dass die Tiere sich im Winter nicht mehr selbst versorgen können: Wenn Regen und Frost sich abwechseln, wie es in den heutigen Wintern immer häufiger der Fall ist, bildet sich über dem Erdboden ein regelrechter Eispanzer. Die Rentiere können dann nicht mehr an ihre Flechten gelangen; Schnee hingegen können sie mit der Schnauze wegschieben. Tausende Tiere sind so jeden Winter vom Hungertod bedroht. Die Züchter füttern dann Silage, was sehr teuer ist. Sie bitten um staatliche Hilfe, die viel zu niedrig ausfällt. Es ist auch äußerst schwierig, die freilebenden Tiere in ein Gatter zu sperren, was für die Silofütterung notwendig ist. Zudem bedroht jede Verbauung der Tundra – sei es ein Bergbaukomplex oder eine Autobahn – die Rentiere, denn ihre natürliche Nahrung kann sich nicht so schnell regenerieren wie Gras: Flechten wachsen im Jahr nur ein bis zwei Millimeter, und ein Rentier frisst pro Tag einen Sack voll Flechten. Mit jedem Quadratmeter Tundra, der schwindet, gibt es auch weniger Rentiere. Etwa 10 000 der heute noch 70 000 Sami praktizieren Rentierzucht. Vor allem junge Menschen bemühen sich verstärkt, die traditionelle subsistente Lebensweise, besonders Fischfang und Rentierzucht, wiederzubeleben, sagt Andrey. »Das alles wird immer -schwieriger, aber wir setzen die Sache unserer Ahninnen und Ahnen fort. Wir lassen uns nicht von Mutter Erde verdrängen, wir gehören zu ihr.«

Starke Großmütter

Die Hüterinnen der Tradition in den Familien sind die Großmütter. Gefragt nach der traditionellen Rolle der Frauen, antwortet Andrey: »Sie erledigen in erster Linie die Hausarbeit, die Männer verrichten die anstrengenderen Aufgaben. Aber die samischen Frauen sind besondere Frauen, sie können auch schwere Arbeiten bewältigen. Umgekehrt helfen die Männer auch bei der Haus-arbeit.« Was die Großmütter ihren Nachkommen vermitteln, sei vor allem die Liebe zu allen Lebewesen und der Respekt vor der Natur, der Wunsch, sie vor allem Schaden zu schützen, sagt Andrey. Das, was sie von den Vorfahren geerbt haben, wollen sie möglichst intakt weitergeben – das Wasser, die Erde, die Tiere. Eine mythische Figur namens Myandash, eine Art Rentier-Werwolf, Sohn von Kodd–akka, der »wilden alten Frau« und einem wilden Hirsch, schützt die Rentiere. Sie ist ein Anherr der Sami und erlaubt ihnen nur dann, eines zu töten, wenn sie damit ihre Familie ernähren müssen. Aus dem Blut der Rentiere wird auch eine Medizin zur Steigerung der Abwehrkräfte hergestellt. Die gut verdauliche, süßliche Rentiermilch hilft geschwächten Menschen wieder auf die Beine. Sie ist kostbar, denn das Melken ist nicht einfach. Hat die Rentierkuh ein Kälbchen, lässt sie keine Menschen in ihre Nähe. Rentierfleisch gehörte früher zu den Hauptnahrungsmitteln der Sami. »Meine Großmutter aß kein Gemüse und nur selten Früchte«, erzählt Andrey. »Gurken und anderes Grünzeug hielt sie für Gras. Sie sagte, dass sie doch kein Tier, das sich von Gras ernährt, sei. Wir aßen auch keine Pilze, denn diese gehören neben den Moosen und Flechten zur Nahrung der Rentiere. Kartoffeln gehörten aber zur Ernährung dazu. Kürzlich hat bei uns eine Großmutter den ersten Preis im Rentierrennen gewonnen. Sie kam aus der Stadt extra zu einem Wettkampf auf dem Land und erinnerte sich, wie sie als junge Frau daran teilgenommen hatte. Kurzerhand bestieg sie ein Rentier und gewann.«

Bei den Sami wird viel gefeiert. Da sind zum einen die kirchlichen Feste – seit dem 14. Jahrhundert wurden die Sami christianisiert –, aber auch traditionelle Jahreskreisfeste wie Mittsommer, ein Frühlingsfest zur Feier der Geburt der jungen Rentiere oder die Wiederkehr der Sonne am Ende der Polarnacht. Während des Polartags werden oft Jahrmärkte abgehalten, wo Handwerkerinnen und Handwerker ihre Künste zeigen und miteinander wetteifern. Wichtig bei den Festen sind auch die Lieder der Sami. Bis heute wird traditionelles Wissen mit Hilfe von Liedern und Märchen weitergegeben. Wie in jeder lebendigen Tradition erneuern sich diese Lieder, es gäbe heute auch Rap und Ethnorock auf Samisch, betont Andrey.

Selbstbestimmung feiern und erstreiten

Der wichtigste Feiertag ist der 6. Februar. An diesem Tag im Jahr 1917 trafen sich die Sami zum ersten Mal länderübergreifend im norwegischen Trondheim, um für ihre Unabhängigkeit als »Kleines Volk« zu streiten. Organisiert wurde diese Bewegung bemerkenswerterweise von einer Frau, Elsa Laula Renberg, und einem Frauenverband der Sami. Auf dem Treffen wurden die Grundlagen für ein neues Gesetz, das die Rentierzucht sichern sollte und 1919 in Norwegen verabschiedet wurde, erarbeitet. Außerdem stritten die Sami seitdem für Schulen, in denen es ihren Kindern erlaubt sein sollte, ihre Muttersprache zu sprechen und zu schreiben. Bis in die 1970er Jahre wurden Sami als Kinder aber noch in Wohnheime und Internate verschleppt, wo sie sich an die jeweilige nationale Kultur anpassen sollten. Der Protest gegen den Bau eines Wasserkraftwerks ließ in den 1970er und 1980er Jahren den Widerstand der Sami erneut aufflammen. Daraus ging die Initiative für ein samisches Parlament hervor, das 1989 erstmals in der norwegischen Stadt Karasjok tagte. Seine Architektur erinnert an ein Lavvuu, ein Sami-Zelt. Auch in Schweden und Finnland gibt es entsprechende »Sametings«. »Russland hat nie zugelassen, dass sich ein Parlament der Sami gründet«, bedauert Andrey. »Der Regierung war es suspekt, dass unser Parlament völlig unabhängig vom russischen Staat existiert und sich wie das Sameting in skandinavischen Ländern für unsere Rechte und den Erhalt unserer Sprache einsetzt. Der Staat hat samische Aktivistinnen und Aktivisten verfolgt und tut das noch heute.«

Die »Stiftung für das kulturelle Erbe und die Entwicklung der Sami«, für die Andrey arbeitet, ist eine juristische Person des Parlaments. »Wir betreiben Monitoring für Umweltschutz, um die Lebensgrundlagen der Sami zu schützen«, erklärt er die Arbeit der Stiftung. »Das heißt, dass wir Naturzerstörung durch die Industrie dokumentieren und Widerstand, etwa gegen neue Bergbauminen, organisieren. Derzeit erarbeiten wir einen Gesetzesvorschlag zur Stärkung der Rechte der Sami. Darüber hinaus organisieren wir auch Sprachunterricht, denn in den Schulen finden sich viel zu wenige kompetente Lehrerinnen und Lehrer. Meine älteste Tochter wollte die samische Sprache an der ›Hochschule für die Völker des Nordens‹ studieren. zu ihrer Enttäuschung gibt es dafür gar keinen Studiengang.«

Andrey ist kein Rentierzüchter, aber er möchte zu seinen Wurzeln zurückkehren. Dazu gehört auch ziviler Ungehorsam, das will er uns nicht vorenhalten. »Der Staat hat mein Recht beschränkt«, sagte er. »Deshalb will ich aus Prinzip für eine Tätigkeit, die meine Vorfahren ausgeübt haben, keine Lizenz erwerben. Manchmal jage ich mit Freunden Rebhühner und Kleinwild, obwohl das als Wilderei gilt.« Gefragt nach dem Kern der samischen Kultur, fällt ihm zuerst die Gastfreundschaft ein: »Jedes Mitglied der Sami kann sich auf einen Schlitten oder ein Rentier setzen und jemanden unangemeldet besuchen, selbst wenn die Person 250 Kilometer entfernt lebt. Auf dem Rentier brauchst du dafür zehn Stunden. Die sind es wert, um miteinander zwei Stunden Tee mit Milch zu trinken. Dann geht es wieder nach Hause.«


… Der reiche Bruder hörte, dass der arme reich geworden war, und konnte nicht mehr schlafen. Er suchte seinen Bruder auf. Der setzte ihn an den Ehrenplatz, bewirtete ihn und erzählte ihm die ganze Geschichte über den Chahkli. Der reiche Bruder kehrte nach Hause zurück. Als er den umgestürzten Baum erreichte, rief er den Chahkli und hielt ihm einen Fisch hin. »Schnell, gib mir Kohlen und leg sie in den Topf«, sagte er. Der Chahkli grinste. Er brachte dem Reichen einen Topf mit Kohlen. Der Topf war schwer und erhitzte dessen Hände. Der reiche Bruder rannte und spürte seine Füße nicht. Er erreichte sein Haus, überquerte die Schwelle, und warf den Topf auf den Boden, so dass er in viele Stücke zerbrach. Die Kohlen blieben dabei Kohlen. Der Boden in der Hütte stand in Flammen. Die Hütte brannte auf allen vier Seiten. Die Rentiere bekamen Angst vor dem Feuer und verstreuten sich in der Tundra. Der reiche Bruder saß da und weinte. Was blieb ihm übrig, als mit Frau und Kindern zu seinem Bruder zu gehen? Der fing gar nicht an, ihn auszufragen. Er speiste alle, gab ihnen zu trinken und einen Platz zum Schlafen. Und so lebten sie zusammen. Sie zogen gute Kinder groß. Sie arbeiteten, tranken und aßen wie Gleiche. Wahrscheinlich leben sie noch heute so.

Kurzfassung eines samischen Märchens, übersetzt und bearbeitet von Wladimir Tscharnoluski (1894–1969) //


Dieser Artikel konnte nur durch die Übersetzungen und Recherchen von Felix Eder und Tjan Zaotschnaja entstehen. Herzlichen Dank!


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