Titelthema

Auf der Walz

Das Leben als Handwerksgesellin auf ­traditioneller Wanderschaft.von Själla fremde Zimmerin, erschienen in Ausgabe #63/2021
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Seit anderthalb Jahren bin ich auf traditioneller Wanderschaft. Nach dem Abitur habe ich die Lehre zur Zimmerin gemacht und bin direkt nach dem Abschluss mit meinem Gesellenbrief in der Tasche auf die Walz gegangen. Die Walz oder Wanderschaft ist seit über 800 Jahren die traditionelle Art von Handwerkerinnen und Handwerkern verschiedenster Gewerke zu reisen. Bis vor 150 Jahre war diese Praxis Voraussetzung, um einen Meistertitel erwerben zu können. Diese Wanderjahre sind dafür da, in unterschiedlichen Betrieben in verschiedenen Regionen und Ländern mitzuarbeiten und von verschiedenen Meistern zu lernen, um die eigenen Handwerkstechniken und -fähigkeiten zu verfeinern und Land und Leute kennenzulernen. Wer auf Wanderschaft gehen will, muss ledig, schuldenfrei, ohne Vorstrafe, kinderlos und im Idealfall unter 30 sein, um frei und ungebunden in die Welt hinausgehen zu können. Für mindestens drei Jahre und einen Tag darf ich meiner Heimatstadt Kiel nicht näher als 50 Kilometer kommen. Ich darf kein Geld für Transport und Unterkunft ausgeben. Wenn ich nicht laufe, muss ich trampen. Außerdem darf ich kein Handy oder internetfähiges Gerät bei mir tragen. Diese Regeln sind für die Wanderschaft unerlässlich, weil sie uns zwingen, mit den Menschen vor Ort direkt in Kontakt zu treten.

Als Erkennungszeichen tragen wir unsere Kluft: weiße Staude und Weste sowie eine Hose in der Farbe unseres Gewerks. Ich trage schwarz, weil ich in meinem Handwerk mit Holz arbeite, dazu einen Hut und Wanderstock, »Stenz« genannt. Mein Gepäck ist in Bündel aus Tüchern, sogenannte Charlies, gewickelt. Unverzichtbarer Begleiter ist mein Wanderbuch, das Allerwichtigste für Menschen auf der Walz. Darin steht unsere Fremdschreibung – wir sammeln darin die Stempel der bereisten Orte, Arbeitszeugnisse und Einträge von Leuten, bei denen wir länger zu Gast waren. Früher diente es als offizielles Ausweisdokument, heute ist es eher der Beweis unserer besonderen Reise und birgt viele Erinnerungen. Alle Regeln für die Wanderschaft werden mündlich überliefert von Menschen, die selbst gerade auf der Walz sind. Mein Altgeselle sagte mir, was es im Vorfeld zu besorgen galt, und holte mich bei meiner Losgehfeier in meiner Heimatstadt ab. Ich musste über das Ortsschild klettern und durfte mich nicht mehr umdrehen. Die ersten zwei Monate reisten wir gemeinsam und mein »Alt« erklärte mir, worauf ich achten müsste, um zünftig auf Wanderschaft zu sein. Seitdem reise ich allein oder in Gesellschaft anderer Wandernder, meinen »Kameruds«.

Häufig werde ich gefragt, ob ich als Frau nicht Angst hätte, unterwegs zu sein und zu trampen. Aber tatsächlich besteht der einzige Unterschied in ebendieser Frage: Die meisten Leute, die anhalten, um mich mitzunehmen, sind weltoffen, herzlich und hilfsbereit, ganz unabhängig vom Geschlecht. Ich staune, wie oft ich mit offenen Armen empfangen werde. Ich bin zwar dort fremd, wo andere zu Hause sind, aber wieso sollte ich mich vor der Fremde fürchten, wenn sie doch anderer Menschen vertraute Heimat ist? In den Nachrichten werden oft nur die schlimmen Geschichten erzählt, aber von den positiven Geschichten und all den guten Menschen ist nichts zu hören. Um diese zu erleben, muss ich selbst hinaus in die Welt gehen und diese Menschen kennenlernen – ich freue mich über all die lieben Begegnungen und bin dankbar dafür. Das Schöne an der Walz ist, dass ich ganz unmittelbar vor Ort bei den Menschen bin und in verschiedene Lebensrealitäten hineinschauen kann: Ich merke, wie sie leben, was ihre Wünsche und Träume sind, was sie am Wochenende machen, kann unterschiedliche Leben mitleben und herausfinden, wie ich das einmal selbst gestalten will, wenn ich älter bin.

Wenn ich derzeit einen eigenen Lebensmittelpunkt hätte, dann würde ich vielleicht Heimweh haben. Da die Regeln der Wanderschaft das aber nicht zulassen, gibt es nichts, was mich irgendwohin zurückzöge, sondern ich bin hier und jetzt mit allem, was ich brauche – und das, was mich umgibt, ist das, was mir hilft. Wenn ich Wasser brauche, dann klingle ich irgendwo und frage, ob ich meine Flasche befüllen kann, und wenn ich nicht weiß, wo der nächste Briefkasten ist, dann frage ich jemanden auf der Straße. Jeder Mensch kann einen Rucksack packen und mal hier, mal dort arbeiten – aber das ist nicht die Walz. Die vielen kleinen Regeln ermöglichen eine Freiheit, in der ich ganz bewusst im Hier und Jetzt sein und mich – ganz egal, wo ich gerade bin – zu Hause fühlen kann.

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