Titelthema

Auf Tour für Gerechtigkeit

»Women in Exile« ermächtigt geflüchtete Frauen in staatlichen Lagern.von Bethi Ngarie, erschienen in Ausgabe #63/2021
Photo
© Eva Hoffmann

Bald haben wir Jubiläum: Vor fast 20 Jahren haben wir die Initiative »Women in Exile« gegründet. Das war 2002. Damals lebten viele von uns selbst noch in Lagern, hauptsächlich in Brandenburg. Wir haben am eigenen Leib erlebt, dass geflüchtete Frauen doppelt diskriminiert werden. Sie leiden im deutschen Asylsystem wie viele Menschen unter Rassismus, aber gleichzeitig auch unter der Gewalt patriarchaler Strukturen und unter Übergriffen im Lager. Eine Schnittstelle zwischen feministischen Kämpfen und denen der geflüchteten Frauen gab es damals noch nicht. Also haben wir uns selbst organisiert und diese Lücke gefüllt. In den letzten zwanzig Jahren hat sich an der Problematik wenig geändert.

Die Idee, auf Tour zu gehen, entstand 2014, damals mit einem befreundeten Musiker. 2016 machten wir die erste eigene Tour. In zwei Minibussen fuhren wir durchs Land, vor allem nach Süddeutschland. Unsere Arbeit sieht so aus: In jeder Stadt, die wir erreichen, versuchen wir herauszufinden, was die spezifischen Probleme für Frauen dort sind. Der erste Schritt für Vernetzung und politisches Arbeiten ist es, sich vor Ort kennenzulernen. Oft machen wir erst ein soziales Event, bevor wir eine politische Aktion starten. Es ist wichtig, dass die Frauen einander vertrauen. Obwohl die Bedingungen der Bundesländer verschieden sind, stoßen wir immer wieder auf die gleichen Probleme: mangelhafte medizinische und hygienische Versorgung in den Unterkünften, Gewalt-erfahrungen und Diskriminierung sowie Schwierigkeiten im Asylverfahren. Kinder können die Schule nicht besuchen, solange sie noch im Asylverfahren stecken, und sind den Strukturen im Lager permanent ausgesetzt. Ein großes Problem ist auch die Unterbringung. Frauen und Kinder müssen oft sehr kleine Zimmer mit fremden Personen teilen. Es gibt keine Privatsphäre. Eine menschenwürdige Unterbringung sollte aber für alle möglich sein. Unser Engagement gilt deshalb nicht nur den Müttern, sondern auch ihren Kindern. Es geht nicht nur darum, gegen diese Umstände zu protestieren. Wir wollen die Frauen ermächtigen, eigene Protestformen zu finden, sich selbst zu organisieren und für ihre Rechte einzustehen. Unsere Workshops sind ein erster Impuls, viele Frauen organisieren sich danach selbst weiter. Das Wichtigste ist, dass sie die Erfahrung machen, für sich selbst sprechen zu können und neues Selbstbewusstsein entwickeln. In einer Situation, wo man so abhängig von den Behörden ist und nicht selbst entscheiden darf, wo man hingeht, ist das extrem wichtig.

2016 konnten wir uns mit vielen Frauen aus Syrien in den Lagern vernetzen. Unterwegs kamen aber auch immer wieder neue Frauen dazu, um uns ein Stück zu begleiten. Andere folgten uns mit dem Zug. Meist blieben wir zwei, drei Tage an einer Station, um unsere Workshops an die Bedürfnisse vor Ort anzupassen. Am Ende unserer Aufenthalte in den verschiedenen Städten stand oft eine Aktion, Kundgebung oder Demonstration. Es war ein tolles Gefühl, diese Frauen kennenzulernen und neue Bekanntschaften zu machen. Überall, wo wir auf unserer Tour hinkamen, sind wir auf große Unterstützung gestoßen. Wir sind darauf angewiesen, denn solche Reisen sind anstrengend. Ich persönlich habe das Herumtouren immer als sehr hektisch wahrgenommen. Im Bus sitzen meist noch die Kinder, die ihre ganz eigenen Bedürfnisse haben. Wir sind immer nur kurz an jedem Ort, im Sommer schlafen wir manchmal in Schlafsäcken unter freiem Himmel. Was auf unserer Reise nicht fehlen darf, sind Windeln, Essen und Schlafsäcke – und in Zeiten von Corona natürlich auch die ganzen Hygieneprodukte.

Aktuell organisieren wir nämlich unsere nächste Tour, trotz Corona. Gerade in der Pandemie sind Frauen in Lagern noch viel größeren Unsicherheiten ausgesetzt. Dieses Mal soll es in den Norden gehen, nach Hamburg, Bremen und Umgebung. Dort gibt es eine Gruppe von Frauen, die sich dafür einsetzt, dass ihre Kinder Geburtsurkunden bekommen. Die wollen wir kennenlernen und unterstützen. Wir rechnen mit mehr als 40 Frauen, die sich uns anschließen. Aber so genau wissen wir das nie. Manche Frauen wissen nicht mal, wie lange sie noch im Land sein werden – auch das ist die Realität unserer Arbeit. Wir hoffen, trotz der Pandemie viele neue Bekanntschaften machen zu können. Unser Anliegen ist gerade jetzt aktueller denn je: Lager sind kein sicherer Ort für Frauen und Kinder – deshalb fordern wir: Lager abschaffen!  


www.women-in-exile.net


weitere Artikel aus Ausgabe #63

Photo
von Lisa Wilke

Nomadin des Lebens

Ich bin im westlichen Mecklenburg, nahe der damaligen Zonengrenze in einem kleinen Dorf mit 150 Einwohnern aufgewachsen. Mein Vater war dort Pastor, ich die dritte von fünf Schwestern. Meine Eltern haben uns sehr frei erzogen. Ich liebte die Natur, die Wildheit, die Freiheit. Als

Photo
von Hanne Tuegel

Das Gift und wir (Buchbesprechung)

»Verlustanzeigen« heißen die in »Das Gift und wir« zwischen den Kapiteln verteilten Doppelseiten. Vorgestellt werden in Wort und Bild Arten wie Rotkopfwürger, Heideschrecke, Feldlerche, Schwarze Mörtelbiene  – ehemalige Mitbewohner und

Photo
von Matthias Fersterer

Songlines zwischen Land und Ozean

Maria König  Narelle, in deiner Arbeit beschreibst du deinen Körper als Teil der Landschaft, die Landschaft als erweiterten Teil deines Körpers und beide als »verkörpertes Terrain« – wie gehst du dabei vor?Narelle Carter-Quinlan  In den

Ausgabe #63
Unterwegs sein

Cover OYA-Ausgabe 63
Neuigkeiten aus der Redaktion