Titelthema

Ein Zelt für die Träume

Der deutsch-beduinischen Schriftsteller Salim Alafenisch berichtet ­Matthias Fersterer von nomadi­schen Lebensweisen, mündlicher Erzähltradition und »Raubzügen«.von Matthias Fersterer, Salim Alafenisch, erschienen in Ausgabe #63/2021
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© Wikimedia Commons / Smalltown Boy

Matthias Fersterer: Herr Alafenisch, ich freue mich sehr, dass Sie sich Zeit für ein Gespräch nehmen! Sie sind Beduine und leben in Heidelberg.  
Salim Alafenisch: Ja. Am 1. September 1973 bin ich nach einem halben Jahr in Hamburg an einem sonnenstrahlenden Wochenende nach Heidelberg gezogen.


Sie wurden 1948 als Sohn eines Beduinenscheichs in der Wüste Negev in Israel geboren.  Lassen Sie mich bitte zunächst die Begriffe klären: »Beduine« bezeichnet arabisch sprechende Nomaden, und der »Scheich« – also ihr Anführer – hat keine besonderen Privilegien. Er hat mehr Pflichten als Rechte, ist ein primus inter pares, der Erste unter Gleichrangigen. Ein Scheich, der seiner Verantwortung nicht nachkommt, kann ganz einfach abgesetzt werden, indem der Stamm seine Zelte abbaut und ihn zurücklässt. Es gibt drei Möglichkeiten, Scheich zu werden: entweder durch Vererbung, Wahlen oder durch spontane Ernennung – ein Stammesgenosse schlägt einen Kandidaten vor, und wenn dies Zustimmung findet, wird der Vorgeschlagene Scheich.


Dürfen nur Männer wählen oder Ernennungsvorschläge unterbreiten?  
Wir haben ein patrilineares Verwandtschafts-system: Alle männlichen Mitglieder, die alt genug sind, ein Schwert zu tragen – also ab etwa 14 Jahren –, dürfen wählen. Aus meinem Ethnologiestudium weiß ich jedoch, dass jede patriarchale Gesellschaft auch matriarchale und jede matriarchale auch patriarchale Elemente hat. Ich nenne Ihnen ein Beispiel: In der Mitte des 11. Jahrhunderts gab es eine Völkerwanderung vom Gebiet des heutigen Saudiarabiens über die Halbinsel -Sinai und Ägypten weiter nach Nordafrika. Der Stamm »Die Söhne der Mond-sichel« (Banū Hilāl) wurde von einer Frau angeführt. Ein Teil dieses Stammes hatte den Anschluss an die Karawane verloren, blieb vorübergehend im Sinai und zog dann in die Negev-Wüste – das waren meine Vorfahren! Es gibt noch weitere matrilineare Elemente: Der Onkel mütterlicherseits – »Hal« genannt – hat den Stellenwert eines Vaters und wird mehr geschätzt als der Onkel väterlicherseits. Auch bei der Gastfreundschaft, die in der beduinischen Lebensweise als Institution stark aus-geprägt ist, wird den Verwandten der Mutterlinie stets ein Vorrecht eingeräumt.


Was fällt Ihnen spontan ein, wenn Sie an Ihre Kindheit denken?  
Wie ich in unserem Zelt saß, meinen Vater beobachtete und den Erzählungen der vielen Gäste lauschte, die von weit her zu uns kamen. Bei den Beduinen gibt es die Redensart, dass die Gäste die Journalisten der Wüste sind, denn wer aus der Ferne kommt, bringt immer auch Neuigkeiten und Geschichten mit. Als Scheich war mein Vater nach außen ein Repräsentant, der mit den Behörden verhandelte, und nach innen ein Ratgeber, Therapeut, Streitschlichter und Bewahrer der Tradition. Ich selbst wollte nicht Scheich, sondern viel lieber Erzähler werden, also leiste ich auf diese Weise meinen Beitrag, um unser kulturelles Erbe zu bewahren. Trotz aller politischen Turbulenzen fühlte ich mich geborgen in unserem Zelt, in unserem Zeltlager. Auf die Frage, warum man eigentlich Schriftsteller werde, antwortete der Kinderbuchautor Paul Maar jüngst: »Es gibt zwei Gründe: entweder eine glückliche oder eine unglückliche Kindheit.« Auf mich trifft Ersteres zu!


Wie lassen sich Mündlichkeit und Schriftlichkeit miteinander verbinden – wie wirkt die beduinische Erzähltradition in Ihr Schreiben hinein?  
Die mündliche Tradition ist sehr wichtig für unsere Identität. Wir Beduinen fassen uns sehr kurz, um das, was wesentlich für die Gemeinschaft ist, im Gedächtnis behalten zu können. Noch wichtiger als die Prosa ist jedoch die Lyrik. In der arabischen Sprache wurden Sitten, Gebräuche, Verwandtschaftsverhältnisse vor allem durch Gedichte überliefert. Erst später kamen die Märchen aus Tausendundeiner Nacht aus Persien und Indien. Als der Ägypter Nagib Mahfuz 1988 als erster arabischer Schriftsteller den Literaturnobelpreis erhielt, fragte man sich in der arabischen Welt: Warum wird ein Romancier ausgezeichnet, warum kein Lyriker? Ich bin sozialisiert in der mündlichen Erzähltradition und bin privilegiert, weil ich als Sohn des Scheichs immer die neuesten Erzählungen der Gäste zu hören bekam. Das hat mich geprägt. Als ich 14 Jahre alt war, gründeten wir eine Schule in einer Blechbaracke, wo ich fortan das Lesen und Schreiben lernte. Ich wurde dann zu einer Art Sekretär meines Vaters, schrieb Briefe und füllte Formulare aus. Kurzzeitig dachte ich darüber nach, Jura zu studieren, um mich für die Rechte der -Beduinen einzusetzen, aber als Schriftsteller bin ich nun auch eine Art Anwalt geworden – ein Fürsprecher, der seinen Leuten eine Stimme gibt.


Sie schreiben Ihre Romane auf Deutsch, doch kultivieren Sie darin eine eigene Sprache, in die Vieles aus der Beduinensprache einfließt.
 In meinem Roman »Die acht Frauen des Großvaters« wollte ich beispielsweise vor über 30 Jahren das Wort »Gästin« verwenden, weil im Arabischen die weibliche Form ganz selbstverständlich ist. Mein Verleger hielt das damals jedoch für unzumutbar, also schrieb ich »Besucherin«, obwohl das etwas ganz anderes ist und viel distanzierter klingt. Heute wird die Sprache überall gegendert – ich war meiner Zeit voraus. In diesem Buch wird mein Großvater übrigens auch nicht »Hosenscheißer«, sondern »Gewandscheißer« genannt, denn mein Großvater trug keine Hosen. Sprachen und Gebräuche haben sich immer gegenseitig bereichert: Der Kaffee kam aus Arabien, ebenso Wörter wie »Matratze«, »Alkohol«, «Mütze« oder auch »Mafia«. Karl der Große und Harun ar-Rashid haben Geschenke ausgetauscht, lange bevor Kolumbus nach Amerika segelte.


»Nomade« leitet sich etymologisch von »weiden« und »Weidewirtschaft« ab. Welche Rolle spielten Weidetiere in ihrer Kindheit?  
Wir hatten Schafe, Esel, Pferde, Hunde, Kamele, Ziegen und andere Tiere. Für die Beduinen waren die Tiere überlebenswichtig: Sie schenkten uns Milch, Fleisch, Behausung – die Beduinenzelte sind aus Ziegenhaar gewebt –, und sie dienten uns als Aussteuer und als Reit- und Lasttiere. Es gibt bei uns eine Redensart: Zu Reichtum kommt man durch Herdenwirtschaft oder durch Raubzug. »Raubzug« mag für europäische Ohren sehr gewaltsam klingen – für Beduinen hat dieser Begriff jedoch einen anderen Klang: Er hat nicht mit Morden, Brandschatzen oder Kolonialisierung zu tun! Stattdessen erbeuten wir uns in Notzeiten Tiere aus der Herde des Nachbarstamms, dem es gerade besser geht, und pflegen und vermehren diese. Die Nachbarn wiederum holen sich die Tiere zurück, wenn sie selbst einmal in Not geraten. So ein Raubzug bedeutet für die Beduinen also eine Art Zirkulation des Kapitals. Gegenseitige Hilfe ist in der Wüste überlebenswichtig. Zwar gibt es Stammesterritorien, doch diese werden durch das Weiderecht relativiert: In Dürrezeiten wird der Nachbarstamm um Erlaubnis gebeten, die Herden auf dessen Weidegründe treiben zu dürfen. Meist ist die Antwort Ja. In der Not helfen wir einander, ein Wanderer bekommt immer Wasser.


Wie ergeht es den Beduinen heute in Palästina und Israel?  
Als ich 1973 nach Deutschland kam, lebte mein Stamm in Zelten. Drei Jahre darauf errichtete der israelische Staat auf unserem Stammesterritorium – dem Land meines Großvaters – die Beduinenstadt Rahat mit Häusern aus Stein und Beton, die heute 72 000 überwiegend beduinische Einwohner hat. Etwa 80 Prozent der Negev-Beduinen leben heute in solchen Städten. Die Alten haben sich sehr schwer damit getan, die Zelte aus Ziegenhaar gegen Häuser aus Stein einzutauschen. In meinem Roman »Das versteinerte Zelt« habe ich diese Entwicklung mit Wehmut beschrieben. Darin kommt ein alter Stammesmusiker vor, der im Steinhaus plötzlich aufhörte zu träumen. Als er einen Freund im Wüstenzelt besuchte, kamen die Träume zu ihm zurück. Seine Frau sagte ihm darauf, dass er natürlich im Haus nicht träumen könnte, denn dort seien die Träume ja eingesperrt, die Zeltwände hingegen seien durchlässig, so dass sie hinein und hinaus könnten. Also baute die Frau für ihren Mann ein kleines Zelt neben dem Steinhaus, so dass er wieder träumen kann. Das Bild vom Zelt neben dem Haus symbolisiert ein Stück Fortleben der beduinischen Kultur, vergleichbar den Schrebergärten hierzulande. Wenn ich diese Entwicklung heute betrachte, empfinde ich weniger Wehmut. Wir führen heute fast »normale« städtische Leben mit Teerstraßen, Autos, Supermärkten, Internet, Mobil-telefonen, Schulen und Krankenhäusern. Die Moderne hat mit all ihren Vor- und Nachteilen Einzug gehalten. Materiell haben wir viel gewonnen – doch wir haben die Großfamilie verloren. Aber wir haben auch Bürgerrechte gewonnen, während wir früher als Menschen zweiter Klasse behandelt wurden. Inzwischen habe ich mich im Großen und Ganzen mit der Situation versöhnt.


Haben Sie herzlichen Dank für das interessante Gespräch,
Herr Alafenisch. Falls Sie einmal in unsere Gegend kommen, dann nehmen Sie bitte das Gastrecht in Anspruch! //



Salim Alafenisch (72) studierte Soziologie, Ethnologie und Psychologie. Er lebt als Schriftsteller in Heidelberg und schilderte in bislang neun Romanen beduinische Lebenswirklichkeit. Auf dem Foto ist er bei einer Lesung in Weinheim zu sehen. www.unionsverlag.com


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